Freitag, 16. November 2012

Ottfried Preußler - Das Kleine Gespenst


Ich durfte wieder ran beim Geschichtenvorlesen. Selbstverständlich ist es, dass bei Kinderbüchern Knaller dabei sind, die sich auf Augenhöhe mit Bestsellerautoren wie Joanne K. Rowling, Frank Schätzing oder Henning Mankell bewegen. Astrid Lindgren, Cornelia Funke oder Michael Ende, frisch und unbeschwert fließt ihre Sprache dahin, als Erwachsener fesseln mich ihre Geschichten genauso. Wenn ich vorlese, führen sie mich auf den Boden der eigenen Kindheitserinnerungen zurück. Sartre, Dreißigjähriger Krieg, Aristoteles, Renaissance, Picasso, gotische Kathedralen, all dieses höchst komplizierte schiebe ich beiseite, lasse es in mir sacken und vergesse es für eine Weile. 

Es ist kaum zu glauben, aber von Ottfried Preußler habe ich nur „Die Kleine Hexe“ gelesen. „Der kleine Wassermann“ oder „Das kleine Gespenst“, das ebenso im Bücherregal unseres kleinen Mädchens steht, habe ich nie gelesen. All-abendlich genieße ich es, „Das kleine Gespenst“ vorlesen zu dürfen.

Unser kleines Mädchen hat die Bettdecke über ihr Gesicht gezogen, mit großen Augen schaut sie mich an, gespannt lauschen wir beide, wie die Geschichte weiter geht. Wie in „Die kleine Hexe“ ist es ein Ausflug in eine sorgsam geordnete Welt, in der alles auf seinem Platz steht, in der jeder Mensch seine Aufgabe hat, in der man Zeit für Kinder hat. Die Geschichte spielt in einer hübschen Kleinstadt. Nach den Zeichnungen im Buch und nach der Biografie Ottfried Preußlers könnte dies irgendwo in Niederbayern sein.

Das kleine Gespenst lebt auf einer Burg im Städtchen Eulenberg. Mit einem Schlüsselbund aus 13 Schlüsseln kann es alles ohne Berührung öffnen, indem es durch Türen oder Fenster hindurch gleitet. Da es nur nachts in der Burg herum spukt, ist es sein größter Wunsch, die Welt tagsüber zu sehen. Als es im Glockenturm des Rathauses schläft, wacht es um 12 Uhr mittags auf. Bei jedem einzelnen Glockenschlag wird das Kleine Gespenst ein Stückchen aus dem Schlaf gerissen. Da zwölf Glockenschläge aufeinanderfolgen, wacht es schließlich beim letzten Glockenschlag auf. Am Tageslicht färbt sich die weiße Gestalt pechschwarz.

Nachts verschwindet das Kleine Gespenst über einen Brunnen in die Kanalisation, wo es schläft. Tagsüber erhebt es sich aus Kanaldeckeln über den Marktplatz ins Freie. Dabei geht es nicht ganz so gruselig und grauenhaft zu wie bei Edgar Allan Poe: die Menschen fürchten sich vor der schwarzen Gestalt, die stehen bleibt, weil das Kleine Gespenst neugierig ist und alle Dinge im Hellen betrachten will. Die Menschen rennen weg, das Stadtleben erlahmt nach 12 Uhr, die ganze Stadt leert sich, alle verzweifeln.

Der Spuk des Kleinen Gespenstes erreicht seinen Höhepunkt, als das 325-jährige Jubiläum der Belagerung Eulenbergs im Dreißigjährigen Krieg gefeiert werden sollte. Fiktion verwandelt sich in Realität, denn vor genau 325 Jahren war das Kleine Gespenst schon einmal dem schwedischen General Torstensson begegnet. Das Kleine Gespenst hat beretis während des Dreißigjährigen Krieges herum gespukt. Vom Kanonendonner hat es sich so sehr gestört gefühlt, dass es Torstensson mit seinem Heer verjagt hat.

Beim Nachlesen habe ich nicht schlecht gestaunt: Torstensson war tatsächlich ein schwedischer Feldherr, der ab 1641 auf die Kriegsbühne trat. Auf der Seite der protestantischen Staaten schlug er anfangs Schlachten in Bayern, dann in Böhmen, später in Mitteldeutschland, vor seinem Tod in Schleswig-Holstein. Er muss ein exzellenter Feldherr gewesen sein, denn er verlor keine nennenswerte Schlacht.

Beim 325-jährigen Jubiläum der Belagerung Eulenbergs kommt es zum Eklat, als die Belagerung original nach gespielt werden soll. Das Kleine Gespenst erkennt den (nachgespielten) Torstensson, und wie vor 325 Jahren, verjagt es ihn.

Nach all diesen Fehlschlägen und Eklats wünscht sich das Kleine Gespenst nichts mehr, als in ein Nachtgespenst zurück verwandelt zu werden. Es legt sich auf dem Glockenturm der Rathausuhr schlafen. Als nachts die Rathausuhr 12 Uhr schlägt, erwacht es und wird wieder zum Nachtgespenst.

Ein Kapitel habe ich zu Ende gelesen. Ich habe sogar etwas über den Dreißígjährigen Krieg gelernt. In die Phantasiewelt von Feldherren, Rittern und Schlachten bin ich abgetaucht. Weiß-schwarz mittendrin: das Kleine Gespenst, das vollkommen unbeschwert an die Dinge herangeht und sich durch nichts irritieren läßt. Nachts weiß, tagsüber schwarz.

„Kann ich noch etwas trinken ?“
Natürlich, ich bringe unserem kleinen Mädchen ein Glas Mineralwasser. Auch sie schaut gebannt, wie die Geschichte am nächsten Abend vor dem Einschlafen sich fortsetzt.

8 Kommentare:

  1. Herlich die Geschichte lieber Rainer. Es ist ganz wichtig den Kindern Geschichten vorzulesen und sie ganz früh an Bücher zu gewöhnen.

    Lieselotte Funcke ist zur Zeit der Renner bei Giuliana. Bei ihr habe ich auch ganz früh anfefangen mit Büchern und wenn sie hier geschlafen hat, gabs auch eine Gute Nacht Geschichte.

    Viel Spass beim Vorlesen und ein schönes Wochenende
    Angelika

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. O, mijn zoontje zou heel veel angst hebben :-)
      Ik lees nu 'Snuf de hond' voor. (is ook een film van)

      Löschen
  2. Ach...einfach zu schön. Danke dir dass du diese Erinnerungen wieder aufleben lassen hast.

    Schon als Kind habe ich es geliebt vorgelesen zu bekommen, und später es selbst liebend gerne gemacht. Selbst heute noch würde ich nie zögern es zu machen. So liebe ich Bücher über alles, und auch meine Kinderbücher sind noch vorhanden.

    Habt ihr auch Momo oder Tim Thaler im Regal stehen??

    liebe Wochenendgrüssle und weiterhin viel Spass beim Vorlesen

    AntwortenLöschen
  3. Danke für dieses kleine Stück Kindheitserinnerung !
    Leider ist es heute Ritual geworden die Kinder ins Bett zu schicken "Gute Nacht, Licht aus, Ruhe, und wehe ich muss nochmal ins Zimmer kommen" Schade. Denn diese kleinen Momente der unglaublichen Nähe beim Vorlesen und meist damit verbunden ja auch das Kuscheln, sind wahrer Balsam für die Kinder und Elternseele.

    Liebe Grüße

    AntwortenLöschen
  4. Ich glaube, diese schöne Geschichte haben wir alle gelesen und das Buch wird mit Sicherheit auch noch einige Generationen nach uns begeistern.
    Vorlesen abends vor dem Schlafengehen ist ein wunderschönes Ritual und ein toller Abschluss eines Tages für ein Kind. Ich kann mich da einfach nur den Worten von Rebellin anschließen und an alle Eltern appellieren: "Behaltet dieses Ritual bei, es gibt den Kindern und auch euch letztendlich so viel!"

    Liebe Grüße und ein schönes Wochenende
    Christa

    AntwortenLöschen
  5. Eine schöne Geschichte das Vorlesen am Abend ist ein schönes Ritual
    was natürlich von den kleinen Verlangt wird.

    Gruß
    Noke

    AntwortenLöschen
  6. Super Buch! Zeitlos gut, macht keine schlechten Träume. Perfekt.

    AntwortenLöschen
  7. Manchmal muss die Rückkehr in die eigene Kindheit einfach gestattet sein, egal wie alt man selbst ist.

    Ich gestehe, ich habe als Kind die Hanni & Nanni Bücher und Bille & Zottel geliebt. Ich habe jetzt noch alle Bände in unserem Bücherregal zwischen der Erwachsenenliteratur stehen und ab und an nehme ich mir mal wieder einen Band aus dem Regal und lese ihn :-)

    AntwortenLöschen