Mittwoch, 29. Oktober 2014

mit dem Rennrad nach Erftstadt-Lechenich

Ringwall Venne
Undurchdringlichkeit, kaum Menschen, einsame Gegenden, die sich in alle Himmelsrichtungen erstreckten. Unruhige Flußläufe, Dickicht, alle Arten von Wald, die jede Orientierung erschwerten. Wald beherrschte den Alltag, er musste gerodet werden, um Ackerbau zu treiben. Wald förderte die Zusammengehörigkeit, machte dem Menschen seine eigene, kleine Welt bewußt. Die Menschen schufen sich in Wäldern ihre Wohnstätten aus Lehm, Ästen, Zweigen oder auch aus Stein. Sie schützen ihre Holzbauten, indem sie diese auf Hügeln bauten, mit Palisaden schützten, einen Graben aushoben – mitten im Wald und mit den Werkzeugen des Mittelalters muss dies eine Tortur gewesen sein. In den Graben leiteten sie Wasser, so dass dieses in den Tiefen des Waldes abgesteckte System Schutz bot.

Diesmal geht es wieder über die Rheinaue den Rhein entlang, in Bad Godesberg halte ich mich an der Godesburg, an der Ampel unterhalb biege ich nach rechts ab. Hartnäckig stößt die Straße den Berg hinauf, im Zickzack, mal links, mal rechts. Wo die Straße rechts nach Schweinheim abbiegt, folge ich nicht dem Zickzack-Kurs, sondern fahre geradeaus. Dort setzt sich der Anstieg fort und geht in das geschlossene Waldgebiet des Kottenforstes über. Diesmal fahre ich nicht an dem Schild „Ringwall Venne“ vorbei, sondern mache einen Abstecher dorthin.

Riesig viel ist dort nicht zu sehen, was aber logisch ist, da die Fliehburg des Ringwalls Venne rund tausend Jahre alt ist. Diese Fliehburg mitten im Wald, dessen Entstehungszeit vom 10. bis 12. Jahrhundert geschätzt wird, stellt eine Vorläuferform der Wasserburgen dar, von denen ich auf dieser Rennradtour mehrere kennen lernen werde. Ich kann den tiefen Schlund eines Grabens erkennen, der immerhin sieben Meter breit gewesen war, und der Wall aus Palisaden hat eine Breite von drei Metern gemessen, das erklärt die Informationstafel vor dem Ringwall Venne.

Zuckerrübenernte
Ich drehe wieder zurück auf den Hauptweg im Kottenforst, immer geradeaus, vorbei an dem gelb gestrichenen Gärtnerhäuschen, das in der Zeit des Kurfürstes Clemens August entstand. Über die alte B257 hinweg und unter die Autobahn A565 hindurch, vorbei an Teichen im Kottenforst und am Bahnhof Kottenforst, wo ich die Bahnlinie überquere. Vor Lüftelberg lichtet sich der Wald, die Zuckerrübenernte häuft sich am Wegesrand an. In Lüftelberg biege ich nach rechts ab, dann wieder links auf die Landstraße. In Flerzheim halte ich mich dann rechts in Richtung Weilerswist, wo die hohe und weiß gestrichene Kirche mit dem spitzen Kirchturm alles überragt. Danach geht es an einem Gelände von Baumschulen vorbei, und Felder öffnen ihren Weitblick bis auf die ansteigenden Berghänge der Eifel in der Ferne. In Morenhoven, dem nächsten Ort, einem kleinen Haufendorf, wo sich Hase und Igel gute Nacht sagen, kümmert sich in der Ortsmitte ein Tante-Emma-Laden um die Bedürfnisse seiner Bewohner. Das Tor zum Bauernhof gegenüber gammelt vor sich hin, der grüne Anstrich ist abgeblättert, und wenige Male am Tag hält dort die Buslinie 845. In dieser Taktung folgt das nächste Dorf, Dünstekoven, wo auch nicht allzu viel geschieht und die Jugend Abwechslung in der Diskothek „Night Life“ in Rheinbach sucht, wenn ich den Plakaten auf einem Stromverteiler-Kasten glaube.

Hinter Dünstekoven wechsle ich auf den Fahrradweg, der die Landstraße begleitet. Der Anstieg ist hier im Flachland unmerklich, konturlos huschen Felder von abgeerntetem Mais vorbei. Was die Menschen im nächsten Ort, Heimerzheim, wirklich bewegt, offenbart sich hinter einem Sicherheitszaun aus Stahl. Kasernengebäude verstecken sich in ihrem müden Grau. Seit 2007 stehen diese leer, nachdem der Bundeswehrstandort des wehrwissenschaftlichen Institutes weg verlagert worden ist. Nun grassiert die Angst, denn es gibt ähnliche Überlegungen, den Standort des Bundesgrenzschutzes zu verlegen. Davon wären 500 Polizisten und Ausbilder betroffen, was eine Größenordnung ist. Existenzängste scheinen in unserer Gesellschaft direkt an Arbeitsplätze gekoppelt zu sein.

bei Swisttal-Dünstekoven
Reichlich unelegant, über vorspringende Kanten des Radwegs hinweg, radele ich an der Zufahrt zum Bundesgrenzschutz vorbei und erreiche Heimerzheim. Das ist der Hauptort und gleichzeitig der Sitz der höchst virtuellen Gemeinde Swisttal, die nach diesem kleinen Bach bezeichnet wurde, der gerade einmal 40 Kilometer lang ist und an den Nordhängen der Eifel entspringt. Sein Wasser speist diverse Wasserburgen, so auch in Heimerzheim.

Dieses stolze Anwesen steht bereits seit dem 13. Jahrhundert. Zu dieser Zeit waren die Herren von Heimerzheim die Besitzer. 1326 baute dann der Deutsche Ritterorden die Burg zu einer befestigten Wehranlage aus, 1360 wurde ein zweiter Flügel an die Wasserburg dran gebaut. Heimerzheim war stets Lehen der Kölner Erzbischöfe, wobei die Adelsgeschlechter der Burgenbesitzer rasch wechselten. Im 17. Jahrhundert erwarb Johann Peter von Meinerzhagen, er kam aus Köln und war mit Silber- und Bleibergwerken in Mechernich reich geworden, die Burg, er erweiterte diese 1686 zu einer dreiflügeligen Burganlage mit repräsentativen, komfortablen Wohnräumen, so dass sich der Bestimmungszweck von der Verteidigung zum Wohnen verlagerte. Im Stil der aufgekommenen Landschaftsästhetik gestaltete er einen Barockgarten. Mit der Herrschaft des Kölner Kurfürsten Clemens August erhielten Burg und Landschaft eine weitere Funktion, denn diese wurden 1727 an die Jagdreviere in den Weiten des Kottenforstes angegliedert.

Nachdem Clemens August verstarb, bewahrten die Adelsgeschlechter Kontinuität. Von 1773 bis heute, waren nicht mehr als zwei Adelshäuser die Burgenbesitzer von Heimerzheim, die beide ihre adlige Herkunft nicht verschweigen und sich mit der Vorsilbe „von“ schmücken. In besagtem Jahr 1773 kauften die „von der Heydens“ die Wasserburg. Sie gestalteten die Parkanlage um, dessen Hauptachse sich nun an der 13 Kilometer entfernten Burgruine Tomburg ausrichtet.

Wasserburg Heimerzheim
Wenn ich heute die Burganlage betreten möchte, weisen mich Verbotsschilder „Privatbesitz“ oder „Durchfahrt verboten“ zurück. 1825 heiratete die letzte Gräfin aus dem Adelsgeschlecht der von der Heydens den Freiherrn Karl von Boeselager, so dass sich bis heute die Burg Heimerzheim im Privatbesitz der Adelsfamilie von Boeselager befindet. Dass rheinische Wasserburgen der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind, ist durchaus normal. Doch die Burgherren der „von Boeselager“ geben sich nicht nur exklusiv, adlig, elitär, scheu oder unnahbar. Auf Anfrage können Gruppen jederzeit die Innenräume besichtigen, dabei werden sie sogar persönlich vom Burgherren durch Spiegelsäle, Tapisserien, Möbel im Rokoko-Stil und hoch herrschaftliche Bauornamente geführt. Einmal im Jahr öffnet die Wasserburg ihre Pforten zu einem Weihnachtsmarkt, der urig sein muss und wahrscheinlich viel zu viele Besucher anlockt, so dass alles in einem Parkplatz-Chaos endet.

Das Adelsgeschlecht der „von Boeselager“ hat sogar Weltgeschichte geschrieben, denn die Spuren führen direkt zum Hitlerattentat am 20. Juli 1944. Es war Philipp Freiherr von Boeselager, der 1917 auf der Burg Heimerzheim geboren wurde. Während des Rußland-Feldzugs, erfuhr er als Offizier bei der Wehrmacht 1942 von dem systematischen Völkermord an Juden, Sintis und Romas. Davon distanzierte er sich, er schloß sich einer Widerstandsgruppe an und gelangte 1944 in der Kreis des Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Über sein Bataillon konnte er den als besonders gut geltenden, englischen Sprengstoff für das Attentat des 20. Juli 1944 organisieren. Wäre das Attentat geglückt, hätte er Heinrich Himmler und Joseph Göbbels in Berlin verhaften sollen. Im Gegensatz zu den übrigen Verschwörern wurde Philipp Freiherr von Boeselager nicht erschossen, da er nicht verraten wurde.

Ich kehre zur Hauptstraße nach Heimerzheim zurück, die mit Einzelhandelsgeschäften, Bäckerei, Modeläden, Möbel-Einrichtungshaus, Hotel und Raiffeisenbank nur bedingt mein Interesse weckt. Ein, zwei Kreisverkehre fahre ich weiter geradeaus, es geht unter die Autobahn hindurch. Danach bin auf freiem Feld zurück gekehrt, wo rechterhand der Berghang des Vorgebirges ansteigt und linkerhand das Gelände neben dem Swistbach flach ausgleitet.

Wasserburg Metternich
In Metternich, dem nächsten Ort, biege ich von der Hauptstraße nach rechts ab und wage einen Abstecher zu einer weiteren Wasserburg. Dessen Entstehungsgeschichte gleicht ungefähr derjenigen von Burg Heimerzheim, allerdings mit dem krassen Unterschied, dass Metternich im Zweiten Weltkrieg zu großen Teilen zerstört wurde. Nur das Herrenhaus ist wieder aufgebaut worden, über dessen Eingang das Familienwappen mit dem Löwen der Grafen von und zu Metternich ähnlich fragmenthaft über der Burg schwebt wie die übrige Geschichte.

Metternich verbindet man als Person weitläufig mit dem gleichnamigen Adelsgeschlecht, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Außenminister des Habsburger Reiches in Wien hervor gebracht hat. Um diese Verbindung herzustellen, ist nichts so richtig bewiesen. Drei unterschiedliche Adelsgeschlechter residierten, die sich Metternich nannten, das waren die Grafen von Metternich zur Gracht, die Freiherren von und zu Metternich sowie die Fürsten von Metternich-Winneburg. Die ersten beiden Adelslinien sind in Metternich im 17. Jahrhundert ausgestorben, wobei diese aber ihr Adelsgeschlecht beibehielten, wenn sie an einen anderen Ort wegzogen. Der damalige Außenminister in Wien – Fürst Klemens Wenzel Lothar von Metternich – ist in dem gleichnamigen Stadtteil von Koblenz geboren, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich irgendeine Adelslinie aus der Wasserburg Metternich nach Koblenz verirrt hat.

Seit 1895 gehört Metternich den Freiherren Spies von Büllesheim. Ihnen blieb es verwehrt, Glanzlichter in der Geschichte zu setzen, aber Ludwig Spies von Büllesheim, der Großvater, hatte sich in einem zähen Kampf um das Erbrecht aufgerieben. Mit der französischen Besatzung wurde der Code Napoléon angewendet, der weithin als Modernisierung der Rechtsprechung betrachtet wurde. Aus Sicht des Adels galt dies aber nicht für das Erbrecht, dem die Idee einer gerechten Verteilung von Erbansprüchen entgegen stand. Der Adel wollte lieber die Zeit zurück drehen, indem der Familienälteste wieder als Alleinerbe eingesetzt werden sollte. Das Familienvermögen sollte nicht zersplittert werden, um die jahrhunderte alte gewachsene Einheit zu erhalten. Schließlich taten sich dreißig rheinische Adelsfamilien zusammen, die beim Kaiser intervenierten. 1837 unterschrieb der Preußische König Friedrich Wilhelm III. eine Verordnung, die im Code Napoléon das Erbrecht unter Adligen aufhob. Auch heute ist übrigens die Wasserburg Metternich in fester Hand des Adelsgeschlechtes Spies von Büllesheim. Michael Freiherr von Büllesheim mischt in der Kommunalpolitik von Weilerswist mit.

Tristesse in Weilerswist
Ich drehe zur Hauptstraße zurück, und gelange zum nächsten Ort, Weilerswist, der schrecklich ist, seitdem die Autobahnauffahrten neu gebaut worden sind und Weilerswist zur Dauerbaustelle geworden ist. Alle Verkehrswege geraten nun in den Sog der Autobahnzubringer hinein, sie bilden Kraftfelder, die wie ein Köder Industriegebiete anlocken. Schon der Betonsockel, der sich mit seinen Logos von Mc Donald’s und vom ADAC endlos in den Himmel schraubt, läßt mich an die Bergfriede mittelalterlicher Burgen denken, die in der Landschaft alles überblicken, ob Freunde oder Feinde. Doch anstelle Burgenarchitektur geht es weiter in die Trostlosigkeit von Lagerhallen, Bürokomplexen, Laderampen und betonierten Hofflächen, die allenfalls durch grüne Farbkleckse von Bodendeckern oder Ziersträucher aufgelockert wird. Ich fahre gleich über drei Kreisverkehre, am ersten und zweiten geradeaus, am dritten biege ich nach rechts ab. Dort muss ich am rechten Straßenrand schieben, denn die Straße ist großflächig aufgerissen worden und eine erste Asphaltschicht aufgebracht worden. Befahren kann ich die Straße wieder vor den Bahnschranken, aber dort muss ich erneut absteigen, denn diese haben sich geschlossen. Als die Regionalbahn vorbei gerauscht ist, halte ich mich an der Hauptstraße nach links, dann wieder rechts, im Feld wieder links, wobei ich mich konsequent in Richtung Friesheim halte.

Nachdem ich Weilerswist verlassen habe,  fahre ich hinein in dieses künstliches Gebilde, das 1969 aus zwölf Gemeinden zusammengewürfelt wurde und sich Erftstadt nennt. Dabei ist die Erft, die ich in Weilerswist überquert habe, als Namensgeber durchaus treffend, da sich ungefähr die Hälfte der Stadtteile an der Erft aneinander reihen. In der Ferne drehen sich die Rotoren von Windrädern, und ich rolle sanft über Wirtschaftswege, die mich nach Friesheim bringen, wobei es sich zwischen den Feldern Pferde in großen Gestüten gemütlich gemacht haben.

In Friesheim fahre ich zunächst nach rechts an der Kirche vorbei, dann wieder links, wo ich den sogenannten Rotbach überquere. Die Reste der Wasserburg in Bachnähe sind mickrig und kaum zu erkennen, während die Burg-Apotheke auf der anderen Straßenseite mit ihrer Bezeichnung erahnen läßt, dass hier einst ein größerer Burg-Komplex gestanden hat.

Reste der Wasserburg Friesheim
Rechts abgebogen, fahre ich wieder hinaus aus Erftstadt, um ein paar Kilometer wieder hinein zu fahren nach Erftstadt, diesmal in den Ortsteil Ahrem. Unscheinbar verschwindet der Ort zwischen rostbraunen Ziegelsteinfassaden, und nichts erinnert mehr daran, dass hier einst eine Römerstraße von der Colonia Claudia Ara Agrippinensum – dem heutigen Köln – über Tolbiacum – dem heutigen Zülpich - zur Augusta Treverorum – dem heutigen Trier – verlief.

Die Häuserreihen in diesem Straßendorf lasse ich schnell hinter mir, dann überquere ich die Kreuzung der Umgehungsstraße, und schon bin ich in Lechenich angekommen. Liblar und Lechenich, das sind die beiden Hauptorte von Erftstadt, deren Einwohnerzahl kräftig angestiegen ist, und Umgehungsstraßen umringen die Stadtkerne wie einst die Heere von fremden Fürsten, die mächtige Festungen in die Knie zwingen wollten.

Ein Stich von Merian aus dem Jahr 1646 veranschaulicht die Bedeutung, die Lechenich als Festungsstadt einst hatte. Die Stadtmauern formen ein zackiges Quadrat, die Türme nach Westen kann ich kaum zählen, drei Stadttore riegeln das Innere hermetisch ab, ein weiter Platz öffnet sich in der Mitte. Genau diese Weite und Großzügigkeit bestaune ich, als ich den Platz erreiche, eine Großzügigkeit, die die Bebauung zur Seite schiebt und das Innere des Stiches von Merian in die heutige Zeit gerettet hat. Allerdings stört der Verkehr, der sich seitwärts an dem Platz vorbei drängelt. Busse halten und bringen Hektik in das Gedrängele des Verkehrs hinein.

Die Spuren der Besiedlung Lechenichs führen zu den Römern und den Franken zurück. So gab ein Römer, der „Julius Jalechenius“ hieß, der Ansiedlung ihren Namen, als er um 200 nach Christus einen Matronenaltar stiftete. Der Altar war Fruchtbarkeitsgöttinnen geweiht, und so wuchs die Römerstadt fleißig, sie ging aber irgendwann unter, bis die Franken auf den Ruinen der Römerstadt seßhaft wurden. Sie siedelten ein Stück nördlich der Ruinen, schütteten einen Wall auf, hoben einen Graben aus, fluteten ihn mit den Wassern des Rotbaches, bauten Palisaden aus Holz mit einem Turm, um sich vor Feinden zu schützen. Um diese Turmhügelburg scharte sich ein Herrenhof. Nach dessen Zerstörung, als es zu Kämpfen mit den Herzögen von Jülich gekommen war, bauten die Kölner Erzbischöfe die Stadt 1306 zur Festung aus. Dabei wurden die Festung und die einstige Turmhügelburg, die als Wasserburg ausgebaut wurde, eine Einheit. Lechenich war fortan doppelt gesichert, wobei die Türme der Wasserburg ähnlich hoch in den Himmel ragten wie diejenigen der Festung. In den folgenden Jahrhunderten wurde Lechenich mehrfach belagert. Aber sowohl von den Grafen von Jülich wie den Herzögen von Brabant sollte es nicht gelingen, die Stadt zu erobern.

Fische ? Nachdem ich das Bonner Tor passiert habe, verweilt ein Spaziergänger an dem Wassergraben, seine Schritte stocken. Aus seinem in Falten gelegten Gesicht und seinen ergrauten Haaren, die ich ins Rentneralter einordne, schaut er mich  ungläubig an,  er deutet mit dem Zeigefinger in die trübe Wasserfläche hinein und meint: „Schauen sie mal !“ Meinen Blick fixierend, kann ich nicht allzu viel erkennen, als ich den Wassergraben unter dem kurzen Stück der Stadtmauer betrachte, die unzerstört den Gang der Jahrhunderte und Jahrtausende überlebt hat. Tatsächlich, als ich den Blick durch das verschwimmende Grün des Wassers hindurch bohre, erkenne ich einen wirklich dicken Fisch. Zufrieden schrauben wir unsere Blicke auf das richtig fette Exemplar, das in die Tiefen abtaucht, während winzig kleine Fische unter der Wasseroberfläche hängen bleiben.




Lechenich:
Kupferstich Merian (oben), darunter Marktplatz und Pfarrkirche St. Kilian,
darunter Wasserburg (Quelle Wikipedia) und Rathaus,
ganz unten Bonner Tor
Vieles ist verschwunden in Lechenich, so die Stadtmauer, die die Preußen 1845 geschleift haben. Als der Kölner Dom 1848 fertiggebaut wurde, betrachteten die Preußen die Stilform der Gotik als das Maß aller Dinge. Oder auch die Neugotik. Das bekam der Marktplatz von Lechenich zu spüren. Das Bonner Tor wurde mit einem Zinnenkranz geschmückt, der Herriger Tor erhielt einen Treppengiebel, das Rathaus sowie das Haus Kretz wurden im neugotischen Stil gebaut, das Kirchenschiff und der Chor der Pfarrkirche St. Kilian wurden im neugotischen Stil angefügt.

Ich verlasse dieses harmonische Miteinander. Um von Lechenich nach Liblar zu gelangen, wähle ich die schlechtere Variante. Schlechter deswegen, weil ich ab dem Römerhofweg der Fahrradbeschilderung folge, die mich zwar ein Stück durch das Feld führt, aber danach geradewegs auf die Bundesstraße B265, die nahtlos in die Autobahnauffahrt der A61 übergeht. Dort ist nichts mit Fahrradweg, so dass ich hilflos diesem Gewimmel von Autoverkehr ausgesetzt bin. Ich muss mich behaupten zwischen der Abbiegespur auf die Autobahn und der vierspurigen Bundesstraße, wo die Autofahrer wie aus einem Nest ausschwärmen und sich Stoßstange an Stoßstange drängelt. Besser hätte ich der Beschilderung über Konradsheim und Blessem folgen sollen – über Gemächlichkeit und Ruhe auf den Feldern jenseits des Autoverkehrs.

Liblar - Schloß Gracht (Hauptburg)
Egal. Hinter der Autobahnauffahrt geht es die Böschung hinab. Unbefahren, stoße ich auf die alte Bundesstraße B265. Dort bin ich für mich alleine, und hinter der Ampel mit der großen Kreuzung bin ich gleich mittendrin in Liblar, wo ich an der nächsten Querstraße ein Stück nach rechts abbiege, dann wieder nach links hinein in den Schloßpark des Wasserschlosses Gracht.

Über die Entstehung der Wasserburg ist nicht allzu viel bekannt, lediglich, dass ein Ritter von Buschfeld 1433 die Burg erbte. Ganz schlicht, baute er Scheune und Stall und wohnte dort, um Landwirtschaft zu betreiben. Erst zwei Jahrhunderte später geben die Quellen weitere Auskünfte über Schloß Gracht: Unterlagen über die Belagerung von Lechenich im Jahr 1642 zeigen auch Schloß Gracht, und zwar mit Burg, Vorburg, Wehrturm und einem Wassergraben so groß wie ein See.

Die Pläne, einen Garten im Sinne des Absolutismus ähnlich wie in Versailles zu gestalten, waren hoch trabend. René Roidkin, ein Maler aus der belgischen Wallonie, der bereits Stuckarbeiten im Schloß Augustusburg bei Brühl ausgeführt hatte, legte 1724 seine Pläne offen. Diese verinnerlichten den Wesenszug absolutistischer Herrscher, die nicht nur das Volk, sondern auch die Natur regieren wollten. Das Gesamtbild des Gartens hatte sich geometrischen und mathematischen Formen unterzuordnen. Wegeränder und Eckpunkte wurden durch Kübelpflanzen oder beschnittene Sträucher akzentuiert. Hecken wurden geradflächig geschoren, so dass sie wie Mauern aussahen. Der Gemüsegarten sollte in Farbgruppen, sortiert nach den einzelnen Gemüsearten, bepflanzt werden, um ein durchgeformtes Kunstwerk zu ergeben. Steinfiguren aus der Mythologie – wie die Götter des Olymps – sollten den Garten in die Sphären des Himmels erheben. Doch wie so oft bei solchen Vorhaben in einer derartigen Größenordnung, blieb die Gartenplanung eine Luftblase, da der Garten um ein Vielfaches hätte vergrößert werden müssen. Was aber realisiert wurde, das war ein Umbau im Jahr 1854. Dabei entstand eine Burganlage aus vier Gebäudeteilen, die jeweils unterschiedlich hoch sind, der Ostflügel dreistöckig, der Südostturm vierstöckig, der Südflügel zweistöckig, der Südwestturm dreistöckig. Und genau in dieser uneinheitlichen Form kann ich noch heute Schloß Gracht bewundern. Ähnlich wie bei der Wasserburg Heimerzheim, ist auch auf Schloß Gracht eine Persönlichkeit geboren worden, die Eingang in die Geschichte gefunden hat. Das war Karl Schurz, Geburtsdatum 2. März 1829, er war einer der Wortführer der 1848er Revolution. Weil er verfolgt wurde, wanderte er in die USA aus, er wurde dort General in der Armee, später war er Senator in Missouri und kämpfte ein Leben lang für Freiheit und Menschenrechte.

Liblar - Schloß Gracht (Vorburg)
Ich verlasse Schloß Gracht an der Vorburg vorbei, die im Zuge der Umbauarbeiten im Jahr 1854 mit ihren Turmdächern im neugotischen Stil umgebaut wurden, und kehre zurück zur alten Bundesstraße B265, der ich ortsauswärts immer geradeaus folge. Dort ist eine der wenigen Streckenabschnitte, an denen es bergauf geht. Sonst führt diese Rennradtour durch ausschließlich flaches Gelände, wo sogar der Gegenwind heute ein zahmer Geselle ist. Hinter dem Ortsausgangsschild tauche in die grüne Natur und dichten Laubwald ein, wo ich auf einem einsamen Radweg für mich alleine bin und all die Herrlichkeit des Rennradfahrens genießen kann, während rechterhand zwischen einzelnen gelb gefärbten Herbstblättern der Wasserspiegel des Liblarer Sees hindurch schillert.

Ein bis zwei Kilometer weiter fädelt sich die Bundesstraße B265 an den Radweg ein, dann biege ich nach weiteren zwei bis drei Kilometern nach rechts ab in Richtung Brühl. Um nicht auf der stark befahrenen Landstraße fahren zu müssen, biege ich nach einhundert Metern wieder nach rechts ab und lande im Stadtteil Heide, das bereits zu Brühl gehört. Dort fahre ich direkt wieder links und dann immer geradeaus. Nachdem ich die Straßenbahnlinie mit den Bahnschranken überquert habe, bin ich mitten in Brühl. An der Ampel, die die Römerstraße, die frühere Bundesstraße B51 kreuzt, muss ich aufpassen (linkerhand hinter der Ampel befindet sich ein Friedhof). Dort muss ich rechts abbiegen, an der nächsten Ampel wieder links in Richtung Wesseling. Dieser Straße muss ich immer geradeaus folgen, unter der Eisenbahnlinie, die Umgehungsstraße kreuzend, unter die Autobahn A553 hindurch, durch Berzdorf, das bereits zu Wesseling gehört.

Einen Kilometer weiter werde ich eingeholt von der Realität des Industriestandortes Wesseling. Das ist eine Welt für sich, wo hinter silo-ähnlichen Anlagen chemische Prozesse ablaufen. Diese Welt schottet sich ab, ist weder greifbar noch begreifbar und verbarrikadiert sich. Die Komplexität von chemischen Formeln schwebt über diesen Anlagen, deren Abfallprodukte aus Schornsteinen heraus quillen. Die Anlagen kommen mir gespenstisch vor, sie sind wie aus dem Boden gestampft, sie zeigen keinen Weg in die Vergangenheit, ihre Gegenwart mündet in Waren, die man als Output aus einem industriellen Prozess kaufen kann, ihre Zukunft ist umgeben von Mythos und Ungewißheit. Ein Stück weit fühle ich mich wie der „El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha“, der als Ritter durch die Welt zieht. Gemeinsam mit seinem Begleiter Sancho Panza erscheinen ihm Windmühlen als Riesen. Mit dem, was er mental begreifen kann, das sind Lanze und Schwert, kämpft er gegen die Windmühlen. Erschöpft sinkt er schließlich nieder, da er nichts ausrichten kann gegen die ständigen Drehbewegungen der Flügel der Windmühlen.

Wesseling - EVONIK-Werke
Ich folge der Hauptstraße, bis ich mich auf Höhe der neuromanischen Kirche von Wesseling in Rheinnähe berfinde. Ich fahre hinunter zum Rhein, den ich über Urfeld, Widdig, Hersel und Graurheindorf bis zum Ziel, dem Alten Zoll, nicht verlasse.


Strecke (88 Kilometer):


Höhenprofil:



Donnerstag, 16. Oktober 2014

mit dem Rennrad durch das Ahrtal nach Altenahr

Blick von der Fritzdorfer Windmühle aus
Der goldene Herbst startet durch. Sonne verwöhnt die Täler, die Wärme sammelt sich und läßt den Sommer gut gelaunt ausklingen. Wenn Wärme und Sonne dermaßen aushalten, freuen sich die Winzer. Nicht nur die Ausflugsscharen bevölkern das Ahrtal. Ebenso streckt jeder Sonnentag die Weinlese nach hinten, das Wachstum der üppigen Weinreben kann sich fortsetzen. Der Öchslegrad als Maß für Intensität und Geschmack des Weines kann noch zulegen. Solche sonnendurchfluteten Tage bedeuten, dass der Ahrwein mit anderen Weinanbauregionen locker mithalten kann, obschon es neben Unstrut und Saale das nördlichste Weinanbaugebiet Deutschlands ist. Wein ist Tradition. Wein ist Kultur. Im Gegensatz zum Bierkonsum, zergehen Geschmack und Aroma auf der Zunge. Es gilt als barbarisch, die Flüssigkeit in sich hinein zu schütten. Der Genuß des Weines lebt vom Augenblick und will den Augenblick festhalten.

Die Anfahrt ins Ahrtal ist einigermaßen lang, aber voller Abwechslung und nie langweilig, obschon ich die Strecke so ungefähr im Schlaf kennen müsste, was die Häufigkeit dieser zurückgelegten Strecke betrifft. Den Rhein entlang, durch die Rheinaue, Plittersdorf, Godesberg, plötzlich bin ich mitten in Wald und Feld. Vor Wachtberg-Pech rückt der Wald nahe bis an den Straßenrand, in Wachtberg-Pech stört dank der Umgehungsstraße kaum Autoverkehr die Nachmittagsruhe. Stramm aufwärts geht es danach, das erste Mal an Villip vorbei, dann ein kurzes Abwärtsstück zur Burg Gudenau, dann wieder stramm auf den Höhenzug hinauf, wo Waldstücke das Sonnenlicht bremsen.

Nie ist die Strecke gleich, die Eindrücke sind stets neu, sie stumpfen nie ab und erhalten mit den Jahreszeiten ihre Gestalt.  Zur Erntezeit haben sich Bauernhöfe gefüllt mit Pflaumen, Äpfel, Himbeeren, Birnen. Eier und Ziegenkäse dürfen auch nicht fehlen, so dass das Angebot eine echte ökologische Variante zum Supermarkt darstellt. Fritzdorf folgt Arzdorf, nach links geht es an all den Obstbäumen vorbei. Die Fritzdorfer Windmühle auf dem höchsten Punkt der Anhöhe präsentiert sich in hellem, überschäumendem Sonnenlicht.

Feld mit Tagetes
Ins Tal hinab, strebt der Wirtschaftsweg auf Ringen zu, vereinigt sich mit einer Landstraße, die wiederum auf die Bundesstraße B266 stößt. Ein letzter kurzer Anstieg, dann geht es zielsicher in Kurven und Schleifen auf das Ahrtal zu. Vor dem großen Kreisverkehr im Tal, umrauscht von Hektik und Verkehr des Autobahnzubringers der A573, beginnen die ersten Weinberge, die dem Ahrtal seine Wesensgestalt verleihen. Diese Weinberge bedecken den Stadtrand von Bad Neuenahr, im unteren Abschnitt des Ahrtals steigen diese sachte an, ruhig und unspektakulär. Böden aus Löss, die sonst als gute Ackerböden gelten, überwiegen, so dass in diesen Lagen eher untypische Rebsorten angebaut werden - vor allem Weißweine. Riesling, Müller-Thurgau oder Silvaner, Weißweine, die in Baden oder der Pfalz Massenmärkte bedienen, fristen an der Ahr mit einem Anteil von 15% eher ein Schattendasein.

An dem Kreisverkehr halte ich mich in Richtung Königsfeld, das ist die zweite Abfahrt. Dann geht es zwei Kilometer geradeaus durch ein Industriegebiet, wo sich die Stadtwerke, ein Netto-Discounter oder die Eifel-Fango-Werke ausgebreitet haben, an der nächsten großen Kreuzung mit der Ampel rechts.

Über die Hauptstraße fahre ich nun immer geradeaus bis Ahrweiler, wo ich mein Rennrad durch das Stadttor schiebe. Kurz verweile ich in der Kreisstadt, in der sich das Mittelalter regelrecht konserviert hat. Das Innehalten lohnt sich. Zu Fuß, genieße ich den kompakten und geschlossenen Eindruck der sorgfältig restaurierten Fachwerkhäuser. Der Anblick, den die Stadt heute bietet, unterscheidet sich kaum von den Eindrücken, die 1440 ein wallfahrender Ritter hatte, der aus Jerusalem zurückkehrte: Mauern und Türme erinnerten ihn an die Heilige Stadt Jerusalem, und beim Anblick der Festung stockte sein Schritt. 1259 wurde Ahrweiler erstmals in einer Befreiungsurkunde des Kölner Erzbischofs Konrad von Hochstaden erwähnt, zu derselben Zeit erschien in einer anderen Urkunde ein Ritter namens „Balduin von Arwilre“. „Wilre“ oder „Weiler“: das Gebiet von Ahrweiler setzte sich aus einem Dorfverband zusammen, das waren im 13. Jahrhundert die umliegenden Orte Walporzheim, Marienthal, Bachem, Giesenhoven und Gerhardshoven, davon haben sich die ersten drei bis heute erhalten, die übrigen sind im Schicksal der Jahrhunderte untergegangen.

Untergang und Wiedergeburt, so könnte man das Schicksal von Ahrweiler beschreiben. Mit seiner Festung hielten die Kölner Kurfürsten ihre Vormachtstellung im Ahrtal bis zum 30-jährigen Krieg. In diesem Krieg wurde Ahrweiler gleich dreimal belagert, erobert, geplündert und dazwischen wieder befreit. Ein übriges leisteten französische Truppen, als sie am 1. Mai 1689 die Stadt niederbrannten. Doch das alles überlebte Ahrweiler bemerkenswert schnell, denn schon ab 1694 wurde die Stadt wiederaufgebaut. Dass es danach so rasch wieder aufwärts ging, lag auch am Wein. Ahrweiler zählte zu den edelsten Weinbaulagen im Ahrtal, der Handel mit Wein florierte und spülte Geld in die Stadtkasse, reichlich. So geschlossen, wie sich die Innenstadt mit Mauern und Türme heutzutage darstellt, das findet man im Rheinland vielleicht noch in Bad Münstereifel oder in Linz, aber sonst nirgendwo.






Ahrweiler
Rathaus (oben), darunter Weinhaus Deutscher Hof, Niedertor,
Pfarrkirche St. Laurentius, Weißer Turm, Synagoge, Altstadtgasse
Ich spaziere mit meinem Rennrad über die Niederhutstraße, studiere Weisheiten auf Fachwerkbalken. „Aus der Traube in die Tonne, aus der Tonne in das Faß, aus dem Fasse voller Wonne in die Flasche und ins Glas … „ dazu passen Szenen aus dem Weinbau, die in die Quadrate von Fachwerkbalken gemalt sind. Weinstock setzen, Weinstock schneiden, Weinlese, Trauben pressen, Gärungsprozess im Fass, Wein trinken. Wein ist Kultur, Wein ist Tradition. Am Marktplatz, wo ich angekommen bin, liegt die Geschichte Ahrweilers dicht beisammen, so die gotische Pfarrkirche St. Laurentius aus dem Jahr 1289, der Weiße Turm aus dem 13. Jahrhundert, das Wolffsche Haus aus dem Jahr 1621, der Blankartshof aus dem Jahr 1680, das Rathaus aus dem Jahr 1778 oder die Synagoge aus dem Jahr 1894.

Zu Wein und Tourismus passen die Stimmen auf Niederländisch, die allgemein im Ahrtal unüberhörbar sind.. „Kijk dus, ontzettend mooi“ so oder so ähnlich höre ich die Begeisterung unseres westlichen Nachbarlandes heraus, das in ihrem eigenen Land nahezu keinen Weinbau kennt. Dabei klingt es trivial, dass unsere westlichen Landsleute Höhenmeter des Ahrgebirges vor ihren Augen haben, die in ihrem eigenen Land jenseits aller Vorstellungen liegen.

Weinbauterrassen bei Walporzheim
Ich verlasse Ahrweiler, und der Kreisverkehr hinter der Stadtmauer liefert einen eineindeutigen Beweis, dass die Römer im Ahrtal Fuß gefaßt hatten. Auf dem Hinweisschild zur Römervilla sind es nur wenige Meter, doch dieser eineindeutige Beweis fehlt, was den Weinbau betrifft. Die Römer haben das Ahrtal besiedelt, doch es findet sich keinerlei schriftliche Quelle, dass die Römer dem Ahrtal den Weinanbau beschert haben. Erstmals 770, während der Frankenzeit, wird der Weinbau an der Ahr („ad aram“) in einer Urkunde erwähnt.

Am Kreisverkehr biege ich nicht nach rechts zur Römervilla ab, sondern fahre geradeaus in Richtung Walporzheim. Das Tal verengt sich, Weinbau und Winzer rücken näher zusammen. Während vor dem Kreisverkehr ein größerer Hofparkplatz des Ahrweiler Winzer-Verein eG lockt, versuchen es ein Stück dahinter einzelne Weingüter auf eigene Faust, ihren Wein im Direktverkauf abzusetzen. Diese Verteilung ist durchaus repräsentativ. Winzer haben sich in Winzergenossenschaften zusammengetan, und der Verkauf des edlen Tropfens läuft zu 90% über Winzergesnossenschaften. 

Ab Walporzheim, nachdem ich links auf die B266 in Richtung Altenahr abgebogen bin, öffnet sich all die Herrlichkeit des Weinbaus. Die Sonne tunkt die Terrassen in helles Licht, Felsen wie der Kaiserstuhl stürzen senkrecht ins Tal. Solche Steillagen, deren Bewirtschaftung mir ein Rätsel ist, sind typisch für das Ahrtal und formen den charakteristischen Geschmack der Ahrweine. In der Tat, kann ich mir schlecht vorstellen, wie bei diesem Gefälle, dass zum Teil stärker ist wie ein 45-Grad-Winkel, das Arbeiten auf den Terrassen möglich ist. Diese Kultivierung in Terrassenform reicht weit ins Mittelalter zurück, denn 1127 wurde erstmals die Bewirtschaftungsform der Weinbergterrassen im Ahrtal genannt.

Felspartie
Den Höhepunkt all dieser Felsenformationen markiert ungefähr das Gasthaus „Bunte Kuh“, welches in einer Art von Nische zwischen senkrecht abfallenden Felsen liegt. Nun befinde ich mich mittendrin in dem spektakulärsten Abschnitt des Ahrtals, das ist das Stück von Walporzheim bis Altenahr. Diese zwölf Kilometer lange Strecke ist gleich mehrfach touristisch erschlossen. Die aus meinem Blickwinkel sicherlich langweiligste Fortbewegungsart – mit dem Auto – ist als Ahr-Rotweinstraße markiert. Viel interessanter ist die Erwanderung über den Rotwein-Wanderweg. Und die Tourismus-Verantwortlichen haben auch an die Gruppe der Radfahrer gedacht. Von der Quelle der Ahr in Blankenheim bis zur Mündung in den Rhein bei Remagen-Kripp begleitet ein Radweg den glucksenden Fluss. So wie ich den Radweg kennengelernt habe, muss man ihn allerdings differenziert betrachten – beziehungsweise abschnittsweise. Es fehlen diverse Teilstücke – wie zum Beispiel bei Mayschoß oder Altenahr – und auch in diesem Abschnitt von Walporzheim bis Dernau, hat mich der Radweg nicht wirklich überzeugt. Hier verläuft er genau neben der Bahnlinie, und zwar auf der zweiten Spur der Bahntrasse, die irgendwann demontiert worden ist. Mit Büschen, Sträuchern und Bäumen zugewachsen, sieht man dort nicht die wirkliche Schönheit des Ahrtals, die rassigen Felspartien, die elegant sich einfügenden Weinbergterrassen oder wie die Ahr sich zwischen all der Enge ihren Weg bahnt.

Ich folge lieber der Hauptstraße, erst Marienthal, wo sich die imposante Klosterruine ins Blickfeld schiebt, dann Dernau. Ringsum blicke ich in die Weite, wo die geraden Linien der Weinstöcke zu einem zartgrünen Streifenmuster verschwimmen. In Dernau wimmelt es längs der Hauptstraße vor Weinstuben, Gaststätten und Restaurants, während es in der Ortsmitte beschaulicher zugeht. Der Ortseingang und Ortsausgang setzen Zeichen, dass Wein ein Kulturgut ist, denn Dernau erhält den Status eines „Weinkulturdorfes“. Dass Wein ein Kulturgut ist, ist noch steigerungsfähig, denn, egal aus welcher Richtung der Besucher des Weinkulturdorfes Dernau kommt: er wird begrüßt von  zwei göttlichen Schönheiten, die ihre jugendliche Frische dem Genuss der Ahrweines widmen, ihr Lächeln strahlt die Besucher an, ihr Lebenselixier sind die Weinberge. Das sind die Deutschen Weinköniginnen Mandy Großgarten und Julia Bertram. Oder genauer: sie waren es von 2010/2011 und 2012/2013.

Weinkulturdorf Dernau
Da über Dernau eine der Standardrouten meiner Rennradtouren verläuft, habe ich die Plakate der beiden Schönheiten dermaßen oft gesehen, dass ich sie regelrecht verinnerlicht habe. Dabei ist mir klar geworden, dass es auch bei Weinköniginnen Rangordnungen gibt. Das ist nicht ganz vergleichbar mit dem Fußball, wo man von der Bundesliga bis zur Kreisliga kicken kann, aber es gibt Weinköniginnen auf unterschiedlichen Hierarchiestufen. Ortsweinköniginnen werden in Ahrweiler, Walporzheim, Rech, Mayschoß, Altenahr und Dernau gewählt. Diese Zeremonie geschieht im Kreis der ortsansässigen Vereine, und auf dem Maimarkt, der Mitte Mai in Ahrweiler stattfindet, wird aus dem Kreis der Ortsweinköniginnen eine Gebietsweinkönigin gewählt. Sie muss nicht nur hübsch aussehen, sondern vor einer Jury eine Prüfung durchlaufen, die aus Fragen zu Weinanbau und Geschichte rund um die Ahr besteht. Die Bundesliga der Weinköniginnen ist die Wahl zur Deutschen Weinkönigin, die alljährlich im August in Neustadt an der Weinstraße stattfindet. Insgesamt fünfmal haben es in der Nachkriegsgeschichte Weinköniginnen von der Ahr geschafft, Deutsche Weinkönigin zu werden, darunter Mandy Großgarten und Julia Bertram.

Der Abschnitt von Dernau nach Rech stellt eine Ausnahme dar, dass es stabil geradeaus geht. In Rech halte ich an und bestaune die Steingewölbebrücke über die Ahr, die ich mit ihrem Alter glatt in die Römerzeit eingeordnet hätte, doch mit ihrem Erbauungsdatum 1723 ist sie überraschend jung. "Vor böser Zunge und Wassergefahr / St. Nepomuk uns immer bewahr …“ mit diesen Worten, die in Stein gemeißelt sind, segnet mich der Brückenheilige. Seine Statue auf der Brückenmitte ist neueren Datums, nämlich aus den 1920er Jahren. Als Rheinland nach dem Ersten Weltkrieg von den Alliierten besetzt wurde, schien die amerikanischen Besatzungsmächte der Brückenheilige zu stören. Sie rissen sie ab und stießen sie in die Ahr. Dort zerstört, meißelte der hiesige Eifelverein eine neue Nepomukstatue. Der Ortskern von Rech ist jedenfalls nur über diese Brücke zu erreichen.

Ahrbrücke in Rech
Ich radele weiter, und die Sehenswürdigkeiten drängeln sich so dicht, so dass ich bereits zwei Kilometer weiter auf die Saffenburg schaue. Das Ahrtal brauchte ein Festungssystem von Burgen, logischerweise, um der hohen Zahl der Feinde zu trotzen. Wo ich heute nur noch zwei grobe Stümpfe aus Stein auf einem Berg bestaune, stand einst nicht nur die älteste, sondern auch die am schwierigsten zu erobernde Festung im Ahrtal. Bereits 1074 erscheint der Burggraf Adalbert de Saffenburg in den Annalen des Kloster Rolduc, das liegt bei Kerkrade in den Niederlanden. Er war mehrfacher Burgenbesitzer, nicht nur die Saffenburg, sondern auch die Wasserburg Nörvenich bei Düren gehörte ihm.

Um die Saffenburg herum dreht die Ahr eine Schleife, die dem griechischen Omega ähnelt. Da die Ahr geradeaus auf die Saffenburg zufließt und wieder wegfließt, lagen die heranrückenden Feinde – egal aus welcher Richtung - im vollen Blickfeld der Burg. Wie andere Burgen, wurde die Saffenburg im 30-jährigen Krieg gesprengt, wobei nur die noch heute sichtbaren Stümpfe aus Stein übrig blieben.

Die Partie des Ahrtals reißt mich mit, als ich den Bogen des Omegas mit meinem Rennrad durchfahre. Zunächst sind es die Felsenformationen. Felsen mit grauem Schiefer springen heraus, Felsblöcke fügen sich zu einer senkrechten Wand zusammen, verspielt laufen Reihen von Weinstöcken zu den Felsblöcken hoch.

Es ist genau dieses Zusammenspiel zwischen vulkanischem Schiefergestein, mineralischen Böden mit Anteilen von Lehm und Grauwacke sowie die Anbauform in Steillagen, die die Besonderheit der Ahrweine ausmachen. Der Löwenanteil der Ahrweine sind Rotweine, die 85% der Anbauflächen beanspruchen, davon wiederum Spätburgunder, dessen Gesamtanteil bei 56% liegt. Weinkenner schätzen den Spätburgunder für seinen leichten, rassigen und mineralischen Geschmack, dazu kommt eine fast mediterrane Wärme in dem verschnörkelten Flußtal. Die Ahrwinzer setzen auf Qualität, und das kommt bei den Weintrinkern an. Während die Weinerzeugung von 1995 bis heute leicht gesunken ist – von 7 Millionen auf 6 Millionen Liter – lassen sich für die äußerst mühselig zu bearbeitenden Steillagen bisweilen Spitzenpreise erzielen.

Somit ist der Spätburgunder so etwas wie die Essenz des Ahrtales. Um 1788 muss er im Ahrtal heimisch geworden sein, denn genau in diesem Jahr beklagt sich ein Kellermeister aus Altenahr gegenüber dem Kölner Erzbischof in einem Brief, dass das Ahrtal wegen der schlechten Weine in Verruf geraten sei. Die Qualität des Weines möchte er verbessern, indem er die „Rothe Burgunder Traube“, wie man sie aus Assmannshausen kenne, „auch in besagter Ecke“ einführen möchte.


Mayschoß: Weinkeller (oben links),
Felsen (oben rechts), Saffenburg (unten)
In Mayschoß knubbelt sich so manches im Ahrtal, was Weinfeste, Verkaufsstände und auch Bierzapfstände betrifft. Irgendwie schätze ich mich glücklich, unter der Woche unterwegs zu sein, denn am Wochenenden wird hier alles aus dem Ruder laufen. Nun ist es ruhig, der Weinpavillion in der Ortsmitte hat seine Rolläden herunter gelassen, der Autoverkehr schiebt sich gemächlich an der Ahr vorbei. Die Außengastronomie des Mayschosser Weinkellers füllt sich allmählich.

Dieser Mayschosser Weinkeller verkörpert eine Art Freiheitsgefühl der Ahrwinzer. Im 19. Jahrhundert war die Klimaerwärmung noch nicht im Ahrtal angekommen, im Gegenteil: Fröste zogen sich in den Juni hinein, die Sommer waren komplett verregnet, und im Oktober – heutzutage die bevorzugte Zeit der Weinlese – setzten schnell die ersten Fröste ein. Die Weinhändler drückten die Preise in den Keller, zudem waren mit dem Preußischen Zollverband die Ausfuhrgebiete begrenzt. So wurde 1868 unter dem Namen „Winzer Verein zu Mayschoß – Eingetragene Genossenschaft“ die erste Winzergenossenschaft in Mayschoß gegründet. Anfangs aus 18 Mitgliedern bestehend, wuchs die Zahl der Winzergenossenschaften rasch. 1892 gab es 17 Winzergenossenschaften, denen eintausend Mitglieder angehörten. Heute ist die Anzahl der Winzergenossenschaften stark geschrumpft, nämlich auf fünf, während die Mitgliederzahl mit 1.050 konstant geblieben ist. Hauptbestandteil des Mayschosser Weinkellers ist der Gewölbekeller zur Lagerung der Holzfässer, der zwischen 1888 und 1889 gebaut wurde.

Rotweintrauben
Kurz hinter dem Weinkeller, biege ich von der Hauptstraße nach links ab und wage mich wieder an die Ahr. Von der Ahrbrücke aus, verkörpert der Blick auf die Saffenburg eine unendliche Harmonie, wie Felsen die Terrassen der Weinberge gliedern und wie diese nahtlos in die Burgruine übergehen und Fahnen auf deren Spitze in den azurblauen Himmel hinein wehen.

Ab dem Bahnhof benutze ich den Radweg, der diesmal wirklich schön ist, da er mitten durch die Weinberge führt. Zum Greifen und zum Fühlen sind die Reben nah. Kaum vorstellbar, dass noch vor einhundert Jahren das Betreten der Weinberge während der Weinlese streng verboten war. Verbotsschilder warnten, und sogenannte „Traubenschützen“ sollten potenzielle Diebe abschrecken. Längst darf sich jedermann frei bewegen, und so prall, wie die roten Weintrauben von den Stöcken herunter hängen, verspricht die Weinlese einen wunderbaren Jahrgang. Der Radweg dreht mehrere Schleifen und Kurven, so dass ich die wohl proportionierten Reihen der Weinstöcke aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten kann.

Auf die Starrheit der Felsen stoßend, endet der Radweg in Laach. Weiter geht es über die Hauptstraße, die aber nicht weniger atemberaubend ist. In luftiger Höhe schwebt die Burgruine der Burg Are über dem Ahrtal, so tief hat sich das Tal in die Mittelgebirgslandschaft der Eifel eingegraben. Sicher folge ich dem schmalen Band der Straße mit der plätschernden Ahr, eingeklemmt zwischen steil herab stürzenden Felsen. Den Bogen, den die Straße in Altenahr zieht, ist fulminant. Die Straße dreht sich, steigt an, dann bäumt sich ein wuchtiges Paket von Felsen auf. Mich überrascht, wie der Fels ein Loch freiläßt, so dass ein Tunnel hineinstechen kann. Wie an anderen Stellen in der Eifel, wird vor der Tunneldurchfahrt eine magische Verbindung zu Bikern gesucht. Am Biker-Hotel am Tunnel können Motorradfahrer einkehren, übernachten und sich verwöhnen lassen. Und die Motorräder sind hier so allgegenwärtig, dass eines von ihnen auf einem Betonsockel in den Status eines Denkmal erhoben worden ist.

Tunnel Altenahr
In Altenahr mache ich Pause und trinke zwei 0,4 Liter Bitburger anstelle Rot- oder Weißwein. In der Nähe des Rauthauses, das mit seinen dreiteiligen weißen Fenstern, den dreiecksförmigen Stuckarbeiten darüber und den geschwungenen Formen der Giebelpartie an die Renaissance – oder auch die Neo-Renaissance – erinnert, geht es weiter in Richtung Bonn oder Autobahnkreuz Meckenheim.  Dieser Anstieg zehrt an meinen Kräften. Einen toten Punkt muss ich überwinden, weiterzutreten anstatt zu stoppen, dann geht es Meter für Meter aufwärts, wobei mein Körper Kalorien ohne Ende verbrennt. Dann, endlich, läuft der Anstieg in Schleifen zur Kalenborner Höhe aus, wo ich an dem Gasthaus nach links abbiege und die Ruhe der Landstraße mich geradewegs nach Kalenborn befördert. Die Höhenzüge der Eifel packen ein letztes Mal ihr anspruchsvolles Niveau zusammen, Waldstücke werfen längere Schatten auf das freie Feld. Hinter Kalenborn knickt die Straße zuerst nach unten, dann hebt sie sich nach oben. Ich arbeite mich nach Hilberath hoch, wo der Geruch nach frisch gemähtem Gras alles durchdringt.

Der Anstieg nach Todenfeld ist eine Art von Endpunkt. Zu Rheinbach gehörend, sind dort die gemessenen 402 Meter über dem Meeresspiegel der höchste Punkt in der Stadt. Das ist das letzte Aufbäumen bei dieser Rennradtour, denn ab hier geht es nur noch bergab. Über Zäune und freie Weideflächen gleitet mein Blick in die Ebene, der sich mit dem beginnenden Mischwald rasch verschließt. Bergab, nimmt meine Fahrt ein höllisches Tempo auf. Bisweilen bremse ich ab, wenn mir dieses Tempo allzu rasant vorkommt.

In Rheinbach tanke ich auf, nach dem strapazierenden Anstieg hinter Altenahr mache ich eine kreative Pause. Das Brauhaus Rheinbach lädt ein mit seiner hauseigenen Gebräu, das ist ein hefetrübes Bier, und ich kann sogar zwischen einer hellen und dunklen Variante wählen.


Brauhausbier Rheinbach
Das Brauhausbier weckt neue Lebensgeister, ich wische den Schaum des hellen Bieres von meinen Lippen – und den Rest der Tour spule ich herunter. Peppenhoven, Buschhoven, über die B56 nach Bonn zurück, Duisdorf, Endenich, durch die Stadtmitte, Alter Zoll.

Strecke (78 Kilometer):


Höhenprofil: