Samstag, 27. Juni 2015

eine Eigenkirche unter dem Marktplatz ? - Spurensuche in Eitorf

Marktplatz Eitorf
Im Grunde genommen war es makaber und der Baggerführer musste all seine Regungen in einen emotionalen Eisschrank stecken. Sein  Löffelbagger grub sich in menschliche Skelette hinein, Schädel, Knochen, Röhrenknochen, Beckenreste, Gebisse, also all das, was die Verwesung vom menschlichen Körper nach Jahrtausenden übrig gelassen hatte. Die Baggerschaufel verfrachtete dann den Geist der Toten auf LKWs, wo sie zwischen Erdklumpen zerstoben, um mit ihrer Unsterblichkeit in der zerkrümelten Masse des Erdreichs auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Die eigentliche Herausforderung wartete mehrere Erdschichten darunter. Unter den Fundamenten der mittelalterlichen Kirche vermutete man neben dem Friedhof mit all den Skeletten karge Überbleibsel einer sogenannte Eigenkirche. Ihre Existenz reichte noch ein Stück weiter zurück, über die Toten aus dem Mittelalter hinweg zu den Wurzeln des Christentums im Rheinland. In der geschichtlichen Zeitrechnung war dies der Übergang von der Römerzeit ins frühe Mittelalter.

1969 kam der große Augenblick, als der Marktplatz in Eitorf umgestaltet werden sollte. Indizien hatten sich verdichtet, dass unter der alten romanischen Kirche eine Eigenkirche sich hätte befinden können. Die romanische Kirche wiederum war vollständig platt gemacht worden. Zunächst war 1889 das baufällige Kirchenschiff abgerissen worden. Den Turm aus dem 12. Jahrhundert, der stehen geblieben war, hatte ein Volltreffer der Alliierten Truppen am 8. März 1945 vernichtet. Die Nachkriegszeit gab dem Turm den Rest, als die Ruinen abgetragen wurden, um den Marktplatz zu pflastern und einzuebnen.

Es war der Eitorfer Heimatforscher Hermann Josef Ersfeld, der unter den Fundamenten der romanischen Kirche eine Eigenkirche vermutete. Eigenkirchen entstanden mit der Auflösung des römischen Reiches, als fränkische Volksstämme seßhaft wurden. Die Franken pflegten ihre heidnischen Bräuche und verehrten viele Götter. Parallel dazu entwickelte sich das Christentum, weil sich die großen Herrscher taufen ließen. Das war der Frankenfürst Chlodwig, der sich als Dank für die im Jahr 496 gewonnene Schlacht bei Zülpich in Reims taufen ließ, bis hin zu Karl dem Großen, der nach seiner Taufe 796 dem Christentum zu großen Sprüngen verhalf, indem er unterstützte, dass der Papst von Rom aus über Bischöfe eine kirchliche Infrastruktur aufbaute.

Eisenplatte des Turms auf dem Eitorfer Marktplatz
Während sich in Römerstädten wie Köln Kirchenbauten wie St. Ursula, St. Gereon oder St. Severin etabliert hatten, verlief die Christianisierung abseits der Römerstädte anders. Einen Ort zu finden, um die Rituale des Christentums zu feiern, läßt sich aus vielen Stellen der Bibel ableiten, so aus dem Matthäus-Evangelium: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ In seinen Anfängen war das Christentum höchst virtuell. Tatsächlich handelte es sich um eine Versammlung, bei der rund um einen Altar das letzte Abendmahl gefeiert werden konnte. Solche Versammlungen konnten in jedem Haus stattfinden, welches dann, wenn das Ritual eingeschwungen war, zu einer Hauskirche erklärt werden konnte. Selbst die großen romanischen Kirchen von St. Ursula, St. Gereon oder St. Severin dürften in ihren Anfängen eine Hauskirche, ein Gebetsraum oder eine kleine Kapelle gewesen sein. Da dieser Raum dem Hausherren gehörte, bezeichnet man diese Kirchenform als Eigenkirche. Sieht man von den Römerstädten ab, gibt es in dieser dunklen Epoche viele Jahrhunderte lang keine wirkliche christliche Sakralarchitektur, wie wir sie als Kirchen heute kennen. Diese setzt ungefähr in der Epoche der Karolinger ein, wobei die Entwicklung über die Jahrhunderte hinweg je nach Volksstamm höchst unterschiedlich verlaufen sein konnte.

Eigenkirchen aufgrund von Funden nachzuweisen, ist ein archäologisches Kunststück. Die Altersbestimmung von Gestein oder Knochen ist zu grob, da Halbwertszeiten radioaktiver Elemente mit ihrer Strahlenintensität zurückgerechnet werden, was nur grob in Einheiten von Jahrhunderten oder Jahrtausenden möglich ist. Enthalten die Fundstücke Kohlenstoff,  können die Halbwertszeiten ein bißchen kürzer eingegrenzt werden. Präzise ist die Altersbestimmung bei Holz: bei Bäumen wie Eiche oder Buche können die Jahresringe fast bis auf das Jahr genau ermittelt werden. Bei anderen Funden hat man sich in dieser dunklen Epoche der späten Antike oft mit vergleichenden Methodiken beholfen, indem Funde und Altersbestimmungen an anderen Orten in ein valides Konstrukt überführt werden, das erfahrungsgemäß mehr Lücken als aussagefähige Punkte enthält.



Modell der Eigenkirche in Theux/Belgien
oben Eigenkirche
Mitte Grundriss der Eigenkirche (6.-7. Jahrhundert)
unten romanische Kirche (11. Jahrhundert)
Vor zwei Jahren hatte ich das grandiose Erlebnis, das Modell einer Eigenkirche bestaunen zu können.  In der Kirche Saints-Hermes-et-Alexandre in Theux in den belgischen Ardennen hatten Grabbeigaben unter dem Chor der Kirche, kombiniert mit Holzresten, offensichtlich eine genauere Datierung einer Eigenkirche ermöglichte. Diese Gebetskapelle stammte aus dem sechsten bis siebten Jahrhundert, auf die im neunten Jahrhundert der Chor und das Langhaus gebaut wurde und 1091 die romanische Kirche.

Ganz ähnlich hätte es in Eitorf aussehen können. Da das Pfarrarchiv in Eitorf die kirchlichen Ereignisse erst ab 1646 dokumentierte, durchforstete der quirlige Heimatforscher Hermann Josef Ersfeld die Stadtarchive von Bonn, Köln und andere Quellen in Bistümern und im Erzbistum Köln. Fündig wurde er nicht im Rheinland, sondern  in Westfalen.  1168 wurde die romanische Kirche von Eitorf fertiggestellt, das belegen Güterverzeichnisse des Bonner Cassiusstiftes.  In der Zeitrechnung davor, am 18. März 927, bestätigt der Deutsche Kaiser Heinrich I. dem Stift in Herford Besitzungen, die dem Stift im Zuge von Bedrängnissen durch Heiden streitig gemacht wurden, darunter ein Ort „hunbech secus fluvium secinam“. „Secinam“ bedeutet Sieg und „hunbech“ kann nur die Ansiedlung „Hombach“ bedeuten, das heute Stadtteil von Eitorf ist. Den Heiden konnte dieser Besitz nur streitig gemacht werden, indem das Gebiet an der Sieg christianisiert worden war. Ersfeld entwickelt eine weitere Argumentation über die Gründungsgeschichte des Benediktinerinnenkloster Vilich, das 978 mit dem Zweck gegründet wurde, das Christentum im Auelgau, wozu auch die Gebiete an der Sieg gehörten, zu verbreiten. Anderthalb Jahrhunderte später, 1144, bestätigte dann König Konrad III. die Gründungsbesitzungen des Benediktinerinnenklosters von Vilich, wozu auch eine „villa eidtorph“ gehört. Eine „villa“, das war ein Haus, ein Landhaus oder ein Hof, den ein Gutsbesitzer bewirtschaftete. Anderenorts gehörten Kirchen zu den Gründungsbesitzungen von Vilich. Wenn es denn in Eitorf eine „villa“ gab und wenn das Gebiet von „hunbech“ christianisiert war, dann konnten sich die gläubigen Christen nur in einer Eigenkirche zu ihren Gebeten versammeln.

fiktive Zeichnungen der Eigenkirche in Eitorf
1969, als der Marktplatz ausgebuddelt wurde, war die Konstellation ungünstig. Kulturgut genießt in unserer Gesellschaft keinen allzu großen Stellwert, und, in ihrer eigenen Ignoranz beharrend, mischen die Behörden tatkräftig mit, dass die Abläufe der Bauausführung Vorrang haben vor der Größe von archäologischen Entdeckungen. Für das Rheinische Landesmuseum war dieses Gebiet an der Sieg offensichtlich tiefste Provinz, so dass sich kein Archäologe in Eitorf blicken ließ.

So entwickelten sich die Ausgrabungen zu einer merkwürdigen Schicksalsgemeinschaft zwischen dem Heimatforscher, dem Gemeindedirektor, der Interesse zeigte an den Ausgrabungen,  und den Arbeitern, die aus aller Herren Ländern kamen. „Schau mal, das ist der Pisspott von Karl dem Großen“ kommentierte ein Arbeiter einen der Funde, als ein Eisenbecher gefunden wurde. Die Arbeiter hatten strikte Anweisung: „Wenn etwas auftaucht, dann rasch weg damit, bevor die Denkmalschützer erscheinen und uns aufhalten.“

Sie waren überfordert. Der Heimatforscher unterrichtete an einem Gymnasium in Troisdorf und konnte werktags nur ab den Nachmittagsstunden den Ausgrabungen beiwohnen. In diesen Stunden sammelte er alles ein, was er irgendwie kriegen konnte, Münzen, Tonpfeifen, Knochen, Schädel, Fliesen, Wandputz, und alles, was verrostet aussah. Schutt und Trümmer stapelten sich im Garten des Heimatforschers. Der Moment, dass die ausgebaggerten Fundamente unter dem Chor sichtbar wurden, war kurz. Die Hoffnung wuchs, dass die Grabungen die konkrete Gestalt einer Eigenkirche zusammen flicken könnten. Doch dann fuhr der Bauleiter dazwischen, dass alles zuzuschütten sei. Am nächsten Tag  war von Fundamenten und Ausgrabungen nichts mehr zu sehen. Der Traum von einer Eigenkirche hatte sich verflüchtigt in einer Wolke von Phantasie, die niemand bis auf weiteres beweisen oder widerlegen konnte. Eine archäologische Sensation im Rheinland war ausgeblieben. Bis dahin müssen wir alle so damit umgehen, wie dies die Menschen im Mittelalter getan haben, ohne jegliche naturwissenschaftliche Beweise. Sie haben geglaubt. So wie in ihrer Eigenkirche.

Quelle: Hermann Josef Ersfeld, Mitten in Eitorf

Montag, 22. Juni 2015

Petra Schier - Die Eifelgräfin

Kempenich 1348. Kleinheit und Größe verbinden sich im 14. Jahrhundert in diesem Eifeldorf, das heute hinter der Umgehungsstraße der Bundesstraße B412 ein unscheinbares Dasein fristet, sich seicht zusammen schiebend in seiner Höhenlage. Heute führen alle Wege zum Nürburgring: im nicht motorisierten Zeitalter war die Wegeführung naturgemäß anders, und so bringt das Wegenetz zu den mittelalterlichen Städten Ahrweiler, Mayen, Münstermaifeld und Koblenz die Geschehnisse des Mittelalters auch nach Kempenich.

„Die Stadt war noch kleiner, als sie erwartet hatte. Genau genommen war sie nicht viel mehr als ein von einer Stadtmauer umgebenes Dorf mit einem winzigen Marktplatz zu Füßen der allerdings recht ansehnlichen und wehrhafte Kirche“, so beschreibt Petra Schier Kempenich in seiner Kleinheit und Größe, als die Hauptfigur ihres Romans, die Eifelgräfin Elisabeth von Küneburg, den Eifelort erreicht.

Die Handlung beginnt genau zwei Jahrhunderte vorher, als sich drei Kreuzritter in Jerusalem ihre Kriegsbeute teilen. Im Angesicht eines magischen Kruzifixes schließen sie einen Pakt, dass sie und ihre Familien sich bis in alle Ewigkeit schützen wollen. Als Beutestück teilen die drei Kreuzritter sich ein Kreuz, das sich in drei Teile zerlegen läßt.

Nach der Ankunft auf der Burg Kempenich, wohin sich Elisabeth wegen zu erwartender Erbstreitigkeiten begibt, entwickelt sich die Handlung ohne jegliche Effekthascherei, ohne Verbrechen und ohne allzu große Spannungen. Der Roman lebt von Alltäglichkeiten und Beiläufigkeiten, indem die Autorin Abläufe und Gewohnheiten in der Abfolge von Tagen und Jahren erzählt. Dabei musste ich an manchen Stellen schmunzeln, wenn sich zum Beispiel niemand daran stört, wenn ein betrunkener Priester einen Gottesdienst abhält, wobei die lateinischen Formeln der Liturgie zum Zungenbrecher werden, so dass er diese unvollständig und falsch herunter plappert.

Abgesperrt von den Undurchdringlichkeiten der Eifel, ist das Leben auf einer solchen Burg ebenso wenig langweilig wie die Länge des historischen Romans, der immerhin 576 Seiten füllt. Die Frauen vertreiben sich den Tag mit Näh- und Stickarbeiten. Abwechslung bieten Feste, die dann im großen Rahmen gefeiert werden. Gaukler musizieren und vertreiben die Zeit mit Künststücken und Spielereien. Klatsch und Neugierde über Liebe und Liebschaften drehen die Runde. Für Abwechslung sorgen Ausflüge in die mittelalterlichen Städte Mayen, Ahrweiler und Koblenz.

Petra Schier beschreibt diese Situationen in einem sehr flüssigen, anschaulichen und leicht verständlichen Stil. Zudem hat die Autorin mit sehr viel Liebe zum Detail recherchiert, wie die Burg in Kempenich einst ausgesehen haben könnte, wo die Burgherren wohnten, Schlafräume, Gästeräume, Kemenate, Hof, Wirtschaftsräume, über drei Etagen hinweg. Von der Burg, die auf drei Seiten im Anhang nachgezeichnet ist, ist heute nur ein Jagdhaus übrig geblieben, welches in der Anordnung der Räume nichts mehr mit der damaligen Kempenicher Burg zu tun hat. Das meiste haben anstürmende französische Truppen nach dem Dreßigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert zerstört.

Rangordnungen bestimmen das Alltagsgefüge, die sich nach den sozialen Verhältnissen gliedern. Die Burgherren unterscheiden nach Leibeigenen, Gesinde, frei geborenen Bauern, Bediensteten, Rittern usw., die sich dann in der Hierarchie nach höfischen Regeln verhalten sollen. Niederschmetternd ist vor allem die Rolle der Frau: eine adäquate Bildung wird ihr verweigert, sie besitzt kein Mitspracherecht, ihre Heirat dient alleine der Absicherung von Machtinteressen, oft wird ihr Körper als sexuelles Freiwild betrachtet. Dem widerläuft Elisabeth, indem sie ihre Dienerin Luzia gleichstellt und ihr Lesen und Schreiben beibringt. Wie der Zufall es will, besitzen Elisabeth und Luzia zwei Teile des magischen Kruzifixes, so dass sie innig miteinander verbunden sind. Dieses leuchtet immer dann auf, wenn es vor einem unvorhersehbaren Ereignis warnen will.

Klug und gebildet, bewegt sich Elisabeth, auf Augenhöhe mit der Männerwelt. Die einzige Schwachstelle des Romans ist, dass die Handlung im Kern eine Liebesgeschichte ist. So viele Schleifen, die gedreht werden, in denen der eine umworben wird und der andere die Gefühle nicht erwidert, erscheinen mir zu langatmig, bis sich die Gräfin Elisabeth von Küneburg und der Ritter Johann von Manten sehr, sehr spät zueinander finden. Spannender ist die politische Dimension: als ein Ritter aus Maifeld an Elisabeths Körper handgreiflich wird und Johann von Manten ihn niederschlägt, wollen die Maifelder aus Rache den Krieg. Um diesen abzuwenden, erfordert dies ein nicht unerhebliches Verhandlungsgeschick.

Ich war etwas erstaunt, dass die Handlung des Buches, ohne bis dahin langweilig zu werden, im letzten Drittel an Fahrt aufnimmt. Maßgebliche Schuld daran hat die Pest, die von Südeuropa aus über den Handel auf dem Rhein die Eifel erreicht. Verglichen mit dem Umland, sind die Toten auf der Burg Kempenich halbwegs überschaubar, da sich die Burg über ihre Tore und Mauern vollständig abriegeln läßt. Dennoch erschüttern die Zustände im Siechenhaus auf der Burg. „Kranke husteten, keuchten, jammerten oder murmelten in Fieberträumen. Die Luft war stickig, denn die Fensterläden waren verschlossen. Außerdem hing der Geruch nach menschlichen Ausscheidungen, Schweiß und Erbrochenem in der Luft. Im Stroh raschelten Mäuse und Ratten auf der Suche nach Essbarem.“ so beschreibt Petra Schier dieses apokalytische Grauen, das an der einen oder anderen Stelle an Gemälde von Hieronymus Bosch erinnert.

Die Autorin beschreibt sehr plastisch den Alltag mit der Pest, über die beschränkten Mittel, die den Menschen  zur Verfügung standen, über Aufopferung und Heldentum derjenigen, die die Pestkranken gepflegt haben, aber auch den Aberglauben, wenn etwa Juden festgenommen werden sollen, weil sie angeblich Brunnen vergiftet haben. Die Wendung zum Schluß des Buches überrascht.  Nachdem die Menschen immunisiert sind und die Pest abgeklungen ist, nutzt Elisabeths Stiefonkel die Nachwirren des Schwarzen Todes. Während Elisabeths Vater sich auf der Rückkehr von Böhmen in die Eifel befindet, will dieser die Herrschaft der Küneburg an sich reißen. Genauso überrascht der Epilog, dass das dritte Teil des magischen Kreuzes im Keller eines Weinhändlers in Koblenz auftaucht.

Petra Schiers Beschreibungen haben mein Wissen über das Mittelalter immens bereichert. Ihr Stil ist stets anschaulich, bildhaft, präzise und reich an Details, wie die Menschen im Mittelalter gelebt haben. Abstrakte Strukturen von Ständen, Herrschaftsstrukturen, Besitztum und Rittern werden dort stets lebendig.

Donnerstag, 18. Juni 2015

Reinhard Selten, der Nobelpreis und das Gefangenen-Dilemma

Fast hätte er seinen Nobelpreis verpasst. Als die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften am 11. Oktober 1994 die Namen der Wirtschafts-Nobelpreisträger bekannt gab, war Reinhard Selten beim Einkaufen. Da die Ära der Mobilfunkkommunikation noch nicht angebrochen war, kam der Professor der Bonner Universität ahnungslos nach Hause. Ein Pulk von Journalisten belagerte sein Haus in Königswinter-Ittenbach. „Ich gratuliere Ihnen“, sagte ein Reporter, worauf Selten ratlos antwortete „Wozu ?“ Danach kümmerte sich Selten zuerst darum, seine Einkäufe sicher ins Haus zu bringen. Erst als die Journalisten ihm in sein Haus folgten und sich nicht abschütteln ließen, realisierte Selten, was in diesem Moment geschehen war.

Reinhard Selten, 84 Jahre alt, ist bislang der einzige Deutsche, der sich mit der Auszeichnung eines Nobelpreises für Wirtschaft schmücken kann. Nachdem er an den Universitäten in Berlin und Bielefeld gelehrt hatte, führten ihn 1984 seine Wege an die Universität Bonn. Den Nobelpreis erhielt er auf seinem Spezialgebiet, der Spieltheorie. Um spieltheoretische Situationen in volkswirtschaftlichem Sinne handelt es sich genau dann, wenn mehrere in Konkurrenz stehende Entscheidungsträger an übergeordneten Entscheidungsprozessen beteiligt sind. Dabei ähneln die Mechanismen denjenigen von Gesellschaftsspielen, wenn in die eigenen Handlungsweisen die Überlegungen und die Strategien der Mitspieler einzubeziehen sind. Es kommt zu Interaktionen zwischen den Spielern, wobei jeder Spieler seine eigenen Entscheidungspräferenzen hat und sein eigenes Spielergebnis zu maximieren sucht.

Selten hat den Menschen als „homo oeconomicus“ durch leuchtet, wie er mit seinen eigenen Nutzenpräferenzen als rationaler Entscheider wirklich tickt. Wichtig ist das volkswirtschaftliche Gesamtergebnis, und zwar als Konglomerat eines Gesamtnutzens, wenn man die Nutzen der einzelnen Beteiligten aufsummiert.

Dieser Gesamtnutzen kann auch suboptimal sein, das zeigt das Beispiel des Gefangenen-Dilemmas. Angenommen sei die Situation, dass zwei Komplizen eine Bank überfallen haben. Nach ihrer Flucht werden sie in demselben Fluchtfahrzeug ohne das erbeutete Geld von der Polizei geschnappt. In separaten Verhören haben die beiden Bankräuber die Alternative, entweder die Tat zuzugeben oder diese zu leugnen. Geben sie die Tat zu, müssen sie mit einer Gefängnisstrafe von 3 Monaten rechnen. Leugnen sie die Tat, dann müssen sie wegen Kleinkriminalität aus den vergangenen Monaten eine Geldstrafe von 500 Euro zahlen. Gibt aber ein Bankräuber den Raub zu und der andere leugnet diesen, dann verlängert sich die Gefängnisstrafe ohne Geständnis für den zweiten Bankräuber auf 6 Monate. Diese Konstellation ergibt den schlechtest möglichen Gesamtnutzen, nämlich 9 Monate Gefängnis, obschon der eine Bankräuber sich nach besten Kräften bemüht hat, seinen eigenen Nutzen zu optimieren.

Spieltheoretische Ansätze lassen sich auf Verhandlungssituationen übertragen. So taktiert Griechenland in der Euro-Krise, indem es versucht, ein Optimum für das eigene Land bei maximalen Schulden herauszuholen, während es mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Weltwirtschaft herum spielt. Ein Herr Weselsky schafft es, ein Maximum für die kleine Klientschaft der Lokführer heraus zu holen, während der Schaden durch stillstehende Güter- und Personenzüge für die Volkswirtschaft immens ist. In der Energiewende läuft so manches durcheinander, weil die Entscheidungsbedarfe über die gesamte Energiepolitik hinweg hoch sind. Gaskraftwerke, die gebaut worden sind, werden nicht genutzt. Bei Rekordminustemperaturen im Winter 2012/2013 stand  das Stromnetz vor dem Zusammenbruch, weil zu viele Kraftwerke abgeschaltet worden waren. An einer anderen Front kämpft Bayern dafür, dass alle neuen Hochspannungstrassen, die Windenergie von Nord nach Süd befördern sollen, über Baden-Württemberg an Bayern vorbei laufen sollen. 

Solche Schieflagen eines Gefangenen-Dilemmas sollten vermieden werden. In der Ökonomie nennt man das Optimum, wenn sich aus der Summe der Einzelnutzen ein optimaler Gesamtnutzen gibt, ein sogenanntes Nash-Gleichgewicht.

Seltens Ansätze, ein Gefangenen-Dilemma in ein Nash-Gleichgewicht zu überführen, mögen trivial klingen: der Mensch ist nicht nur ein Konstrukt aus mathematischen und ökonomische Modellen, sondern er zeigt auch Gefühle, Einsichten, Erfahrungen, Vernunft, Urteilsvermögen, individuelle Verhaltensweisen beziehungsweise alles, was die Persönlichkeit des Mensch prägt. Selten hätte auch Immanuel Kant aus seiner Kritik der praktischen Vernunft zitieren können: „ … die Idee des Ganzen richtig zu fassen, und aus derselben alle jene Teile in ihrer wechselseitigen Beziehung auf einander, vermittelst der Ableitung derselben von dem Begriffe jenes Ganzen, in einem reinen Vernunftvermögen ins Auge zu fassen.“ In Seltens Theorien optimieren sich die Nutzen der einzelnen Individuen über Bestandteile von Vernunft, so dass automatisch die optimierten Nash-Gleichgewichte entstehen.

So banal und alltäglich diese Gedanken klingen: der Nobelpreis wurde vergeben, weil Selten ein eigenes Laboratorium für volkswirtschaftliche Experimente an der Universität Bonn aufgebaut hat, das Bonn-Econ-Lab. In dem Laboratorium geht es hoch mathematisch her: spieltheoretische Entscheidungssituationen werden simuliert, die Beteiligten werden festgelegt, der Mensch als rationaler Entscheider wird in Frage gestellt, indem Stufen der Rationalität eingeführt werden. Verhaltensweisen wie Fairness, Uneigennützigkeit, Hedonismus, Statusüberlegungen, Neid und vieles mehr können modelliert werden.

Zum Beispiel wurde das Problem einer Währungsunion experimentell dargestellt. Selten simulierte eine Währungsunion in einem Zwei-Länder-Modell, indem er die Situation mit und ohne Währungsunion darstellte. Ausgewählte Teilnehmer schlüpften in die Rolle der Regierungen und der Zentralbanken, andere spielten Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Unternehmen. Entscheidend war die Rolle der Zentralbanken, auf stabile Wechselkurse zu achten. Wenn dies der Fall war, ließen sich keine Unterschiede zwischen den Situationen mit und ohne Währungsunion nachweisen. Wenngleich umstritten ist, die verhaltensökonomischen Ansätze auf die komplexen Gebilde von Volkswirtschaften zu übertragen, haben sich solche Experimentallabore durchgesetzt. So gibt es in Europa 61 solcher Laboratorien, in Amerika sind es 69.

Reinhard Selten gibt sich bodenständig und bescheiden. Im Siebengebirge ist er gerne mit bequemem Schuhwerk und mit Wanderstöcken unterwegs. Seine Nobelpreismedaille steht in seinem Büro hinter ein paar Aktenordnern, ohne dass er diese an einem feierlichen Platz aufgehängt hat. Man kennt ihn in Königswinter-Ittenbach. Ob mit oder ohne Nobelpreis, das ist ihm egal.

Samstag, 13. Juni 2015

mit dem Rennrad nach Ruppichteroth

Steinhauer-Denkmal in Königswinter-Thomasberg
Bei J.G. Adrian, pfiffig und weitsichtig, wie er war, grassierte die Angst. Aus Steinen ließ sich im Siebengebirge Geld machen, und so hatte er 1849 den Limperichsberg gekauft, diesen Steinbruch im Herzen von Thomasberg, den andere abgeschrieben hatten. So der Preußische Staat, der keinen Cent zu zahlen bereit war, da man für dieses zerklüftete Ödland ohnehin nur Steuern zahlen müsse.

Doch J.G. Adrian, dem bereits große Steinbrüche in Oberkassel gehörten, dachte als Unternehmer zukunftsorientiert. Weitsichtig war der Kaufvertrag des Steinbruches, denn den Vorbesitzern standen lediglich fünf Silbergroschen je Tausend Steine zu, wenn diese als Pflastersteine verkauft würden. Anderenfalls hätte er ohne jede Bedingung vom Vertrag zurücktreten können. Weitsichtig war seine Vision, technologische Entwicklungen vorherzusehen, und weitsichtig war auch seine Unternehmenspolitik, denn seine Firma war bis 1948 ein Familienunternehmen.

Dieser Berg, zu dem er täglich ausritt und von dem er schwärmte wegen des „schönen blauen Säulenmaterials“, wurde 1886 an seinen Enkel vererbt, der mit seinem Vornamen „Johann Gabriel“ nahtlos an Familientraditionen anknüpfte.

1889 schien sich all die Weitsicht zu bewahrheiten, als die Heisterbacher Talbahn, eine mit Dampflokomotiven betriebene Schmalspurbahn, gebaut wurde. Goldene Zeiten sollten anbrechen, um Pflastersteine und all die anderen nötigen Endprodukte aus Basalt aus dem Steinbruch zu fördern. Doch dann drohte das Gespenst der Sozialdemokratie, das Arbeiter anstachelte, sich zusammenzuschließen, auf die Straße zu gehen, Rechte einzufordern, gegen menschenunwürdige Arbeitsbedingungen zu protestieren und einen sozialen Klassenkampf loszutreten, all diese weitsichtigen Visionen zu zerstören. Es rumorte im Siebengebirge. Dort hatte sich ein sozialdemokratischer Arbeiterverein gebildet, der auf begehrte gegen soziale Schieflagen, für Arbeitsschutz, für faire Arbeit und für faire Löhne. Hinzu kam, dass die SPD bei den Reichstagswahlen 1898 für das Siebengebirge vom Nullpunkt aus Stimmen gewann und 12 Abgeordnetenmandate stellte.

Dieser Steinbruch, den die Thomasberger liebevoll „Strüch“ nannten, spaltete das Siebengebirge. Als Gegenbewegung formierte sich 1901 ein christlich-sozialer Arbeiterverein, er drohte mit dem „Schreckgespenst der Brodlosigkeit“, er forderte, die Steinbrucharbeiten auszuweiten und formulierte eine Eingabe an den Regierungspräsidenten. Die Wege des Abtransportes über die Heisterbacher Talbahn waren kurz, Loren führten direkt an den Steinbruch heran, maschinelle Steinbrecher lösten Vorschlaghammer und Stemmeisen ab, so dass sich eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen nicht weg diskutieren ließ. Fortan wurde gearbeitet in den Steinbrüchen, und dem widersprachen weder Sozialdemokraten noch Arbeitervereine. Den Arbeitern in den Thomasberger Steinbrüchen ist das Steinhauer-Denkmal gewidmet, das die Künstlerin Sigrid Wenzel aus Thomasberg geschaffen hat. 1997 wurde es auf dem Dorfplatz aufgestellt.

Vom Alten Zoll aus kommend, den Rhein entlang bis zur Konrad-Adenauer-Brücke, auf der anderen Rheinseite durch Oberkassel, nach links über die Autobahnauffahrt der A59 hinweg, dann rechts in Richtung Oberdollendorf, an der großen Ampel wieder links, folge ich auf der Landstraße L331 der früheren Eisenbahntrasse der Heisterbacher Talbahn. Auf der Landstraße vermag ich kaum zu erahnen, dass ab 1889 auf derselben Trasse Dampflokomotiven aus dem Rheintal die Höhen des Siebengebirges hinauf tuckerten, um sich an Steinbrüchen wie dem Weilberg voll zu laden. Das Hinweisschild zum Weilberg weist nach links in den Wald hinein, wohin die Heisterbacher Talbahn eine Schleife drehte und wieder zurückkehrte nach Heisterbacherrott, das ich auf direktem Wege hinter der Anhöhe erreiche.

Hier geht es nun wunderbar bergab, ich rolle vor mich hin, linkerhand vorbei an der zartgelb gestrichenen Anlage des Hauses Schlesien. Rechterhand passiere ich die Kirche St. Judas Thaddäus, wo ich die Gestalt der Latitquader aus den hiesigen Steinbrüchen genau erkennen kann. Die grauen Steine stapeln sich schwer zu dem Kirchenbau aufeinander, der, von 1890 bis 1892 gebaut, nach einem der zwölf Apostel benannt wurde.

Während sich die Landstraße leicht talwärts windet und dann wieder ansteigt, steigt rechterhand das Gelände rasant an. Dort liegt genau  der Limperichsberg, zu dessen Ehren im Ortskern von Thomasberg das Denkmal des Steinhauers steht.

Ich bewege mich weiter durch Thomasberg, die Straße schlängelt sich ein Stück bergauf, bis sie hinter dem Ortsausgang wieder bergabwärts stößt, über die ICE-Strecke hinweg, über die Autobahn A3 hinweg. Im Tal geht es an der großen Ampel links weiter nach Oberpleis, über die Dollendorfer Straße bis vor die Kirche St. Pankratius, kurz davor an dem etwas zusammen gequetschten Kreisverkehr rechts, geradeaus, dann schräg links, wieder aus Oberpleis hinaus. An der nächsten Kreuzung fahre ich genau geradeaus an dem gelb gestrichenen Gasthaus Oelpenich vorbei, auf der früheren Landstraße, die nun als Fahrradweg gekennzeichnet ist. Nach zweihundert Metern fahre ich nach rechts den Berg hinunter, wo ich über den Rastplatz auf der gut ausgebauten Straße mit Seitenstreifen lande. Von hier an geht es wieder bergauf, stramm, und der abflachenden Steigung folge ich nach links in Richtung Sand und Wellesberg.




12% Gefälle (oben),
Hanfbach und Wellesberg (darunter),
sehr steiler Anstieg (darunter),
Uckerather Kirche (unten)
Hinter der Kapelle, einem Backsteinbau im neoromanischen Stil, formiert sich das gnadenlose Panorama. Der Hanfbach hat sich tief in das Tal hineingesägt, die 12% Gefälle donnern in das Tal hinunter, den gegenüberliegenden Berg markiert der Turm der Uckerather Kirche, davor steigt wie eine Wand die Straße an.

Also hinunter in das Tal des Hanfbaches, dessen Name sich aus dem germanischen „Hanafa“ ableitet, was so viel wie „tönernder Fluss“ bedeutet, nach dem die Stadt „Hennef“ benannt ist und dessen Wasser reihenweise Mühlen angetrieben hat. Danach warte ich auf den Anstieg, die Straße schlängelt sich unentschlossen durch ein Seitental, bis sie wie eine Verladerampe ansteigt. Meine Beine müssen sich mächtig ins Zeug legen, mein Blick hakt sich an der Uckerather Kirche fest, dessen Turm das einzige Überbleibsel aus der romanischen Bauepoche ist. Als ich die Hauptstraße erreiche, ist der Spuk des Anstiegs verflogen. Ich biege nach links ab, dann direkt wieder rechts in Richtung Süchterscheid. Die Hauptstraße durch Uckerath, die hier Westerwaldstraße heißt, war einst eine historische Handelsstraße, genannt „Hohe Heer- und Geleitstraße“, die Köln über die Reichsstädte Wetzlar und Friedberg mit Frankfurt  verband. Seit 2007 ist diese Straße über den sogenannten Elisabethpfad ebenso Pilgerweg nach Marburg, wo die Heilige Elisabeth von Thüringen begraben liegt.

Wallfahrtskirche Süchterscheid (Quelle Wikipedia)
Am Ortsausgang von Uckerath zieht die Straße für ein kurzes Stück nochmals an, dann geht es über einen eigenen Fahrradweg bergab nach Süchterscheid. Dort fällt im Ortskern die Wallfahrtskirche „Zum Heiligen Kreuz“ auf. Die Tradition der Wallfahrten besteht seit dem Jahr 1506, worauf Kreuzwege von Uckerath aus und von Blankenberg aus installiert wurden. Seit 1977 pilgern sogenannte „Ritter vom Heiligen Grab“ nach Süchterscheid. Befremdend wirkt die Vermischung von Tradition und Moderne, da die eigentliche Wallfahrtskirche aus dem 12. Jahrhundert, da stark kriegsbeschädigt, abgerissen wurde und 1959 durch einen postmodernen Halbschalenbau ersetzt wurde. Der Baumeister Le Corbusier läßt grüßen, denn der Stil der Halbschalen ist aus der Wallfahrtskirche Notre-Dame-du-Haut im französischen Ronchamp kopiert worden, die Le Corbusier als Architekt gestaltet hat.

Darüber hinaus ist die Fahrt auf dem Höhenrücken wirklich hübsch. Es sind nicht nur die postmodernen Formen, sondern Süchterscheid kann auch glänzen mit filigranem Fachwerk, Bauernhöfen und Reiterhöfen. Der Blick kann in die Ferne schweifen über Getreidefelder hinweg, und hinter Mittelscheid geht es dann in Kurven ins Siegtal hinunter. Auf der Landstraße L333 halte ich mich geradeaus in Richtung Eitorf. Linkerhand liegt das Kloster Merten, das seit 1991 zu einem Altenheim umfunktioniert worden ist, auf einem Hügel.

Siegbogen bei Eitorf
Kurz hinter dem Ortseingang von Eitorf fahre ich direkt links über die Bahnlinie in Richtung Ruppichteroth. Bald passiere ich über eine Brücke die Sieg, die Straße folgt dem Flußverlauf und auf der anderen Seite der Sieg mogele ich mich über die Orte Hombach und Halft an Eitorf vorbei. Ich verlasse Halft, indem ich nach links in Richtung Ruppichteroth abbiege. In Wellen steigt die Straße an, ohne allzu großes Niveau. Ein wenig habe ich den Eindruck, am Ende der Welt angelangt zu sein. Höfe sind verlassen und stehen leer. Die überquellende Natur erdrückt mich. Die Fahrbahnmarkierung endet im Nichts. Bauern suchen händeringend nach Geschäftsideen, indem sie zum Beispiel frische Kuhmilch zum Selberzapfen anbieten. Und nachdem ich in Niederottersbach auf der Abzweigung nach rechts abgebogen bin, kommt sie dann doch, die befürchtete Steigung aus dem Seitental der Sieg hinaus. Durch Wiesen und Weiden quäle ich mich hoch, Kühe grasen gemächlich auf der Höhe, die holprige Straße verengt sich. Und ein kleiner grauer Verteilkasten klärt mich auf, dass ich nicht am Ende der Welt angekommen bin, sondern dass der technische Fortschritt allgegenwärtig ist. „Hier drin steckt richtig Power“ signalisiert das Männchen mit Presslufthammer auf dem Verteilkasten. „Mit dem Turbo für superschnelles Internet“ fügt es hinzu. Aha. In der Welt der Zivilisation bin ich also wieder angekommen.

Zugegeben, die mit Schlaglöchern zugeflickte Straße ist weiterhin katastrophal. Vielleicht sollten die Städte Eitorf und Ruppichteroth darüber nachdenken, ob es nicht sinnvoll wäre, einige Megabite superschnelles Internet abzuzapfen und diese in die Instandhaltung von Landstraßen hinein zu stecken. Wie dem auch sei, auf meinem Rennrad schlängele ich mich auf dem kurven-durchsetzten Hochplateau des Nutscheid. Die Schönheit und die Unberührtheit der Natur sind genial. Da erscheint es schon geradezu pervers, dass die exponierte Lage dieses Höhenrückens für militärische Zwecke genutzt wurde. Das war so, als der Zusammenbruch des Dritten Reiches absehbar war. Die Nationalsozialisten kämpften bis zur letzten Patrone, und der Glaube an den Endsieg wurde durch neue Wunderwaffen aufrecht erhalten. Zuerst wurden mit der V2-Rakete von Abschussrampen in der Eifel London beschossen. Mit den Eroberungen der Alliierten zog sich die Wehrmacht zurück.

Die V2-Rakten wurden von den Abschussstellungen im Nutscheid auf Antwerpen abgefeuert, da London außerhalb der Reichweite lag. Die Raketen wurden mit Alkohol und flüssigem Sauerstoff betankt, befüllt wurde diese mit einem Gemisch aus Kaliumpermanganat und Wasserstoffperoxid, welches dann beim Einschlag explodierte. Zwar erreichten nur 30% der abgeschossenen Raketen Antwerpen, ihre Wirkung war aber gleichwohl vernichtend. Zwischen Oktober 1944 und März 1945 schlugen ungefähr im Wochentakt Raketen in Antwerpen ein, so dass der Wirkungsgrad der Zerstörungen nicht viel anders war als beim Bombenkrieg mit Flugzeugen.

Werbung auf Verteilkasten für superschnelles Internet
Über den Ortsteil Ennenbach geht es nun in Serpentinen abwärts nach Ruppichteroth. Die ersten Zeichen, die ich in Ruppichteroth spüre, sind die Ausläufer des Siegerländer Erzreviers, die sich über den Siegerländer-Wieder-Spateisensteinbezirk bis in das Bröltal erstrecken. Neben Kupfer-, Blei- oder Zinkerzen prägen Eisenerze das Gestein, das direkt am Ortseingang von Ruppichteroth an die Oberfläche befördert worden ist. Loren, umgeben von Blumenrabatten, begegne ich in der Mitte des Kreisverkehrs. Gleich dahinter konkretisieren sich die Bergwerke. Die goldenen Jahre des Bergbaus dauerten in Ruppichteroth kurz, aber intensiv. „Frühlingsgrube 1827-1860“ und „Zuckergrube 1827-1874“, mit diesen Jahreszahlen deuten zwei weitere Loren auf ein zartes Loch im hohen Gebüsch, welches den Grubeneingang zum früheren Juliusstollen markiert.

Zuerst waren es zwei devonische Kalkriffe, dann waren es Eisenerze, die Schmelzöfen im Bröltal befeuerten. Eine Kalkbrennerei ist erstmals in einem Mirakelbuch des 12. Jahrhundert nachgewiesen, beim Erzbergbau ist es das Jahr 1531. In diesem Jahr erbten Johann von Allner und Walfra Scheiffart von Merode „den Iserberch im Kirchspiel Ropgeroidt“. 1612 berichtet eine Ortschronik darüber, dass eine Schmelzhütte errichtet worden war. Diese Hüttenwerke finden sich noch heute in der Straßenbezeichnung „Schmelzgraben“ wieder. Die Blütezeit des Erzbergbaus dauerte kaum mehr als 30 Jahre. Das war im 19. Jahrhundert, als sich die hiesigen Eisenerzvorkommen mit der Friedrich-Wilhelms-Hütte in Troisdorf verbanden.

Anfang des 19. Jahrhunderts hatte der rheinische Unternehmer Johann Jakob Langen, dem bereits Zuckerfabriken gehörten, einen Spürsinn dafür, dass sich neben dem Ruhrgebiet auch in Kölner Raum eine Stahlindustrie aufbauen ließ. Langen investierte wie wild, als er 1843 die Hüttenwerke in Troisdorf (damals waren es die Mannsteadt-Werke)  kaufte und gleichzeitig die Erzgruben in Ruppichteroth.







Impressionen aus Ruppichteroth
Um die Hüttenwerke in Troisdorf mit den hochwertigen Eisenerzen aus dem Bröltal zu versorgen, ließ er eigens die Bröltalbahn bauen. 1862 fertiggestellt, schoss die Erzförderung ungefähr wie eine Fieberkurve nach oben, um anschließend wieder in den Keller abzusacken. Langen hatte sich verkalkuliert, denn die benötigten Fördermengen waren riesig, um zwei Hochöfen, eine Gießerei, zwei Walzwerke, Reckwerke, Puddel- und Schweißöfen in Troisdorf betreiben zu können. So waren die Erzgruben bereits gegen Ende der 1860er Jahre erschöpft. Weitere Erzgruben am Nordrand von Ruppichteroth waren entweder von Kalkflözen durchsetzt oder so hoch gelegen, dass sie nur mit unverhältnismäßigem Aufwand erschlossen werden konnten.

Vom Bergbauort Ruppichteroth bewege ich nun zum Fachwerkort Ruppichteroth. So richtig war ich noch nie in Ruppichteroth, und ich muss mir eingestehen, dass ich mir einen wirklich hübschen Flecken ausgesucht habe. Am Kreisverkehr halte ich mich links, dann fahre nach rechts ziemlich steil die Mucher Straße hinauf, dann stetig geradeaus. Alles Täuschung, denke ich mir am Burgplatz, wo von einer Burg weit und breit nichts zu sehen ist. Anstatt dessen präsentiert sich dort der kleine und feine und sorgfältig heraus geputzte Ortskern. Die Formen des Fachwerks mit schwarzen Fachwerkbalken, weißen Gefachen und grünen Holzschlagläden lassen sich dort studieren, ebenso Schrägstützen, Querverstrebungen und schwere Holztüren. Sogar eine Katze hat es sich vor einem weißgestrichenen Fensterrahmen gemütlich gemacht.

Nur ein gemütliche Lokalität, wo ich nach all den abgestrampelten Kilometern etwas Flüssiges trinken kann, finde ich nicht. Meine müden Beine müssen also noch durchhalten, vornüber gebeugt hänge ich im Sattel, und am Wirtshaus St. Severin sind in der Gartenwirtschaft die Klappstühle hochgeklappt. Ganz Ruppichteroth ruht friedlich über dem Kopfsteinpflaster, in dessen Ritzen sich zaghaft Moos hinein geschummelt hat.

Burgruine Herrenbröl
So wie zur Zeit der Reformation, erlebe ich diese friedliche Koexistenz. Ausgewogen und wohl proportioniert, füllt gediegenes Fachwerk die Räume aus zwischen der katholischen Kirche St. Severin mit dem Turm aus der romanischen Epoche und der evangelischen Kirche mit dem hohen Spitzturm. Die Wallungen der Reformation dauerten kurz. Graf Heinrich IV. von Homburg war sauer. Seine Ehe war zerrüttet, er wollte die Scheidung, doch die katholische Kirche lehnte ab. Es war um 1600, als er den lutherischen Glauben in seinem Herrschaftsbereich anordnete, der auch Ruppichteroth umfasste. Dies ordnete er an, ohne die Grafen von Berg zu befragen, die wiederum den Ideen der Reformation offen gegenüber standen, aber einen Konsens wünschten zwischen Katholiken und Protestanten. So tat sich erst einmal nichts, denn der Graf von Homburg musste zudem einen Pfarrer in der neuen Konfession finden. Dies geschah erst 1611, als ein Georg Drach, der vorher lutherischer Pfarrer in Hamm an der Sieg war, „ohne Vorwissen einiger obrigkeit durch Anreitzung Kirspels leuth in die Kirch von Ruppichteroth gekommen“. Dieses Zwischenspiel reformatorischen Glaubens dauerte gerade vier Jahre, als „gemelter Drach von Christian von Schlebusch, einem catholischen Priester weggetrieben worden“. 1625 wurde St. Severin den Katholiken zugesprochen, wobei die Grafen von Berg auf einen Ausgleich bedacht waren. Ab 1765 herrschte Religionsfrieden, nachdem für die Protestanten eine eigene Kirche gebaut worden war.

Auf leisen Wegen verlasse ich Ruppichteroth ins Tal hinab, bis mich direkt an der Bundesstraße B478 weitere Relikte der Vergangenheit ereilen, nämlich Gleise und ein Prellbock der Bröltalbahn. Immerhin: es geht bergab, und auf separatem Radweg kann ich nun meine schlappen Beine baumeln lassen.

In Herrenbröl angekommen, pflanzen sich alte Gemäuer einer Burgruine auf die Wiese. Die Überreste der Burg Herrenbröl aus dem 13. Jahrhundert sind mickrig, zweifellos, und wie anderenorts an Rhein, Sieg und Ahr haben französische Truppen wenig übrig gelassen von der einst großen Anlage mit Zinnen, Türmen, Wirtschaftsgebäuden, Hof, Scheune und so weiter. Das zumindest hat versucht, ein Werkzeugmacher-Meister, der um die Ecke wohnt, in einem Modell aus Pappe nachzubauen.

Imbiß "Futterkrippe" in Schönenberg
Der Zeitstrahl passt nicht richtig, aber nach einer Legende soll hier 1190 der Kreuzritter Dietrich von Bröl aufgebrochen sein. Sieben Jahre lang wartete seine Geliebte auf ihn, der irgendwo im Dunstkreis des Morgenlandes verschollen schien. Als die Geliebte des Kreuzritters nach all den Jahren des Wartens verzweifelte, rang sie in der Wortkunst seines doppeldeutigen Vornamens um Gewissheit:„Wenn jemand einen guten Dietrich, mit dem er lange Jahre seinen Schrein geschlossen hat, verliert, sich einen neuen machen läßt und, ehe er diesen noch gebraucht hat, den alten, lange gesuchten und vermißten wiederfindet, - welcher von beiden Dietrichen wird ihm wohl lieber sein, und welchen wird er fernerhin gebrauchen?“ Ihre eindeutige Antwort „Das muß der alte Dietrich sein!“ rief sie in die umstehende Menschenmenge hinein, und prompt rannte ihr aus der Menge nach siebenjähriger Abwesenheit ihr Geliebter Kreuzritter Dietrich von Bröl entgegen. Zum Dank stiftete Dietrich von Bröl im Nachbarort Schönenberg eine Kapelle.

In Schönenberg, das ich nach wenigen Kilometern erreiche, finde ich endlich einen Rastplatz. Die Futterkrippe, ein Imbiß, belagert von Motorradfahrern mit ihren schweren Maschinen und in ihrem schwerem Lederoutfit, lädt mich für die dringend benötigte Pause ein. Das erste Mal in meinem Leben sorge ich für Irritationen, weil ich Durst auf Bitburger habe. Bitburger kenne sie nicht, meint die Servicekraft hinter der Theke. Dann würde ich gerne ein anderes Pils trinken wie zum Beispiel Krombacher, Warsteiner, Veltins oder was so verfügbar sei. Schließlich kramt sie aus der letzten Ecke ihres Kühlschranks eine 0,33 Liter-Flasche Bitburger 0,0% heraus. Egal. Die Flüssigkeit bewirkt Wunder und bringt meine Muskeln wieder auf Trab. Zwanzig Minuten lang lümmele ich mich auf der Sitzbank herum, die in Baumstämme hinein gesägt ist.

621 Meilen nach Longdendale
Der Platz, auf dem die Futterkrippe steht, ist ein Musterbeispiel dafür, wie wenig von der Bröltalbahn übrig geblieben ist. Bahnhof, Güterbahnhof, Lagerräume sind längst abgerissen worden, so dass reichlich Phantasie dazugehört, wie das einstige Bahngelände einmal ausgesehen haben muss. Durch Ruppichteroth, durch Schönenberg, durch das Bröltal und durch so manche andere Orte tuckerten ab 1862 Dampfloks mit Waggons auf dem Verlauf der heutigen Bundesstraße B478, um Eisenerze nach Troisdorf zu befördern. Nachdem der Erzabbau in Ruppichteroth erschöpft war, ersetzten Personentransporte zunehmend die Gütertransporte im Bröltal. Dabei darf man die Geschwindigkeit der Personenzüge nicht an heutige Maßstäbe messen. Mit rund 30 Stundenkilometer waren die Züge nicht viel schneller als ich mit meinem Rennrad unterwegs. Das Schienennetz der Schmalspurbahn erschloss weite Gebiete, es reichte bis nach Bonn und in den Westerwald, und sogar die eingangs genannte Heisterbacher Talbahn im Siebengebirge war Teil dieses vielgliedrigen Schienennetzes.

Dort, wo heute die Futterkrippe steht, müssen die drei Gleise des Güterbahnhofs verlaufen sein, dahinter muss der Güterschuppen gestanden haben, und wo der Radweg dieses Gelände verläßt, müssen die Schienen auf die Straße abgebogen sein. Ich fahre weiter geradeaus und verzichte dankend darauf, die Überbleibsel der Kapelle, die der Kreuzritter Dietrich von Bröl gestiftet hat,  im Ortskern von Schönenberg zu betrachten. Dazu wälzt sich die nach rechts abbiegende Straße zu steil den Berg hinauf.

Einhundert Meter weiter wiederholen sich dann Legenden und Ereignisse. Nicht nur aus dem Bröltal schwärmten Kreuzritter in das Heilige Land aus, sondern aus ganz Europa, so auch aus England. Ein Kreuzritter von Mottram brach, bevor er zum Kreuzzug aufbrach, seinen Ehering in zwei Hälften, um seiner Gemahlin treu zu bleiben. Der Kreuzritter wurde gefangen genommen, und seine Gattin verzweifelte nach all den Jahren des Wartens. Als dieser zurückkehrte und nicht wusste, ob seine Gemahlin ihm noch treu geblieben war, legte er seine Hälfte des Eheringes in ein Glas Met und ließ es über einen Diener seiner Ehefrau zukommen. Wie beim Kreuzritter Dietrich von Bröl, nahm auch hier alles ein gutes Ende. Mottram ist ein Ortsteil von Longdendale, und Ruppichteroth gründete 1974 eine Städtepartnerschaft mit Longdendale. Ist die Duplizität der Legenden Zufall oder wurde die Städtepartnerschaft bewußt so ausgewählt ? Niemand weiß es so richtig. Jedenfalls schaue ich neben dem Rathaus in Schönenberg auf das etwas ungewöhnliche Hinweisschild, dass 621 englische Meilen weiter westwärts Longdendale liegt.

Nadelwald so dicht wie im verbotenen Wald von Harry Potter
Ich radele weiter. Kurven drehen den Straßenverlauf schwindlig, von links nach rechts, von rechts nach links. In der Enge des Tals schiebt sich undurchdringlicher Nadelwald bisweilen so dicht an den Straßenrand, dass ich an den verbotenen Wald in Harry Potter denke, wo Zentauren, Einhörner und selbst gezüchtete Drachen jeden Moment aus dem Dunklen hervor eilen könnten. Kreuze am Straßenrand sind melancholische Zeugen dafür, dass die Bundesstraße B478 eine der Unfallschwerpunkte im Rhein-Sieg-Kreis ist.

In Bröleck endet der Radweg. Am Brölbach wühle ich mich in das Gemengelage des früheren Bahnhofs „Felderhoferbrücke“ hinein. Auch hier haben Abriss und Verfall gesiegt, nichts ist vom Bahnhof übrig geblieben, mit Ausnahme einer Schnapsbrennerei, die mit ihren viereckigen, aus Ziegelsteinen gemauerten Jugendstilornamenten wirklich hübsch aussieht. Die Jahreszahl 1907 überblickt mit ihren geschwungenen Ziffern über dem Eingang den weitläufigen Fabrikhof.

Nun spule ich den Rest der Bundesstraße B478 herunter, die mit ihrem unmerklichen Gefälle ohne große Anstrengung zu fahren ist. Der kurvenbetonte Charakter des Straßenverlaufs verändert sich kaum, zwischendurch komme ich an Schloß Herrnstein vorbei, das ist eine Wasserburg im Privatbesitz, die aber auch öffentlich besichtigt werden kann. Ganz einfach geht es immer geradeaus, und ab der Ortschaft Bröl, die bereits zu Hennef gehört, weitet sich das Tal. An der großen Kreuzung vor der Siegbrücke biege ich nach rechts ab, dann direkt wieder schräg nach links auf den Radweg durch die Siegaue. Ich folge dem Radweg bis nach Hennef, wo ich auf der Hauptdurchgangsstraße, der Frankfurter Straße, lande. An der nächsten großen Ampel biege ich dann nach links ab, vorbei an der Meys-Fabrik, am Kreisverkehr in Geistingen rechts, an der Ampel vor der Mundorf-Tankstelle links, immer geradeaus bis zum Ortsausgangsschild, vorbei an der Bauschuttdeponie in Niederpleis. In Stoßdorf folge ich der Fahrradbeschilderung zurück an die Sieg, in Friedrich-Wilhelms-Hütte wechsele ich über die Brücke auf die andere Seite der Sieg, weiter die Sieg entlang bis zur Autobahnauffahrt Bonn-Beuel, nach Schwarz-Rheindorf, wieder zurück zum Alten Zoll.


Strecke (93 Kilometer):


Höhenprofil: