Sonntag, 22. Februar 2015

ein Stück New York am Rhein - das Wilhelm-Marx-Haus in Düsseldorf und das Hansahochhaus in Köln

Wilhelm-Marx-Haus in Düsseldorf
Schräg und kurios, so klingt es, dass ein Gärtner den Stahlbeton erfunden hat. Folglich haben Gärtner die Architektur revolutioniert, indem sie die Grundlage für höhere Ingenieurskünste geschaffen haben, Häuser noch höher in den Himmel bauen zu können. Dass Forschungszweck und Erfindungen auseinanderklaffen, ist bei der Produktenwicklung gar keine Seltenheit.

Joseph Monier war Gärtner in den Pariser Tuilerien. In den Gewächshäusern wuchsen die empfindlichen Pflanzen, so auch Orangenbäume, die einen kräftigen Stamm entwickelten und auch eine gute Ernte brachten. Da sich der Stab aus Holz, an den er den Stamm festband, sich bei vollem Wachstum neigte, experimentierte er mit Beton. Er goß Pflanzkübel aus Beton, variierte die Mischung aus Zement, Sand, Schlacke und Wasser und fügte ein Drahtgewebe ein, damit der Beton an Festigkeit gewann. Den Stab in der Mitte formte er aus derselben Mischung, außerdem fixierte ihn in seinem Inneren mit einem Eisenstab. Dieser sackte weder ab, noch knickte er ein, wenn Massen von reifen Früchten an dem Orangenbaum hingen. Bei der Weltausstellung 1867 in Paris ließ er sich diese Erfindung patentieren.

Durch die Hände eines Gärtners war der Stahlbeton geboren. Die Erfindung aus Frankreich zog Kreise in die ganze Welt. In den USA wurden in den Stahlbau Wände und Decken eingezogen, daraus wurde dann der Stahlskelettbau. Die technischen Entwicklungen galoppierten davon, der Entwicklungs- und Erfindergeist wurde zum Leitbild der amerikanischen Nation. Neue Industrien scharten sich um die amerikanischen Städte, die mit ihren Arbeitsplätzen wuchsen und explodierten.

Erst Chicago, dann New York. In die Höhe bauen zu können, schuf komplett neue Dimensionen. Das erste Hochhaus als Stahlskelettbau maß zehn Stockwerke und wurde 1885 in Chicago gebaut. Innenstadtnahe Flächen waren knapp, und dieselbe Fläche konnte mehr Wohn- oder Büroraum unterbringen. Das revolutionierte die Bauwelt. „Wolkenkratzer“, diese Wortschöpfung versinnbildlicht die ungeahnten Größenordnungen, in denen die Hochhäuser an den Wolken zu kratzen schienen.

Hansahochhaus Köln, Quelle Wikipedia
New York sprengte nach der 1900er-Jahrhundertwende die Rekorde. 1909 wuchs der Metropolitan Tower 213 Meter in die Höhe, 241 Meter erreichte das Woolworth Building 1913. Wer vermutete, dass in den Folgejahren New York weitere Rekorde knacken würde, der irrte. Anstatt höher zu bauen, widmeten die Architekten ihre Phantasie den Verzierungen. Die Hochhäuser erhielten Klinkerfassaden aus Backstein, es wurde verschachtelt gebaut, die Farbabstufungen der Klinker wechselten, Elemente des Art-Deko-Stils hoben an prägnanten Stellen ihre Akzente hervor, man verschönerte durch Ornamente und Stuckarbeiten.

In den 1920er Jahren erreichte dieser Baustil das Rheinland, wenngleich nicht in den Größenordnungen wie in New York. Das Maß der Verstädterung ähnelte sich: wie in Amerika, waren Tüftler und Erfinder im Rheinland aktiv, der Verbrennungsmotor wurde erfunden, der Wechselstrom, Generatoren, Gleichrichter, Glühlampen, die Formgebung von Kristall in Glashüttenöfen oder der Automobilbau. Mit Fabriken, Arbeitsplätzen und Arbeiterwohnsiedlungen wucherten insbesondere Köln und Düsseldorf in die Außenbezirke.

Der Zeitgeist hatte sich in den Zwischenkriegsjahren nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg radikal gewandelt. Die Normen und Werte des „American Way of Live“ hatten sich in weiten Teilen Europas eingenistet. Die Urbanisierung hatte in den Städten zugenommen, riesige Geldströme und Kapital ergossen sich über die Metropolen, an der Schnittstelle zwischen Börsen, Banken und Fabriken. In Bürowelten wurde das Kapital gesteuert, die Masse wurde zum bestimmenden Faktor in Produktion und Konsum. In der Stadtlandschaft pulsierte das Leben schneller, Leuchtreklamen vervielfachten die visuellen Reize, mit den ersten Kinos entstand eine Art von Vergnügungsindustrie.

Wilhelm-Marx-Haus
Seit Anfang der 1920er Jahre beschäftigte man sich in ganz Deutschland mit der Frage, ob Hochhäuser in Deutschland benötigt wurden und ob man dem Trend der US-amerikanischen Großstädte folgen sollte. Im Rheinland wollten die Stadtplaner mit Hochhäusern ein Zeichen des Fortschritts setzen, nach Kriegsende wollte man damit eine Grundlage für einen wirtschaftlichen Aufschwung legen, Unternehmen sollten daran gehindert werden, in fremde Städte abzuwandern. 1921 wurde die „Düsseldorfer Bürohausgesellschaft“ gegründet, die die Bürokratie bis zur Baugenehmigung vereinfachen sollte. Die ersten Hochhäuser im Rheinland ahmten den Baustil in New York nach, insbesondere mit der rotbraunen Klinkerfassade. Die Formen von Fenstern bezog man in die Fassadengestaltung ein, die Hochhäuser bestanden aus mehreren Gebäudeflügeln, die vorweg standen oder in sich verschachtelt waren. Die Spitze des Hochhauses schlossen Turmelemente mit einer Aussichtsplattform ab. Arkaden umgaben das Erdgeschoss. Dreizehn Etagen zählte das Hochhaus, und ein Jahr lang war es das „höchste Eisenbetonwerk in Europa“. 1924 bezog die Börse die Büroräume.

Während der Bauzeit hatte das Wettrennen mit der Nachbarstadt am Rhein, Köln, längst begonnen. Die Kölner bauten das Hansahochhaus, das sie nach der Zugehörigkeit der Domstadt zur mittelalterlichen Hanse benannt hatten. Der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer war eitel und wollte seine Stadt auf Augenhöhe sehen mit anderen Städten an Rhein und Ruhr. Er suchte Zeichen und Symbolen der Größe. Genau das konnten Hochhäuser ausdrücken, den Himmel kratzend, zähl- und messbar mit der Anzahl der Stockwerke und dazu noch schön. Das Hansahochhaus wuchs um weitere vier Stockwerke in die Höhe, und für ein paar Monate, nach der Fertigstellung 1925, überholte es Düsseldorf. Es heimste den Titel des „höchsten Eisenbetonwerks in Europa“ ein, es wurde danach von einem noch höheren Wolkenkratzer in einer anderen europäischen Metropole überflügelt, dessen Namen ich nicht recherchiert habe.

Wilhelm-Marx-Haus
Den Stolz konnten sich die Architekten des Hansahochhauses nicht verkneifen. Sie schwärmten 1926: „Das mächtige Bauwerk, sowohl im Gesamtgebilde der Stadt wie aus nächster Nähe betrachtet, hinterlässt einen schönen Eindruck. Seine wuchtige, schlichte Form passt sich außerordentlich gut seiner Zweckbestimmung ab und verträgt sich überraschend gut mit den in nächster Nähe aufragenden Türmen des Kölner Doms …“, so beschrieben sie im Zentralblatt der Bauverwaltung des Deutschen Reiches, wie harmonisch sich der Monumentalbau in die Umgebung einfügte.

Schräg und kurios, so klingt es tatsächlich, was ein Gärtner aus Paris in der Architektur bewegt hat. Es war nicht die Schönheit der Pflanzen oder der Gartengestaltung, sondern die Schönheit des Betons, die, aus heutiger Sicht, paradoxerweise schöne Formen gezeigt hatte. Glatt, unterschiedlos und voller emotionaler Kälte sind heute die Formen von Bürotürmen, die sich in die viereckige Schachbrettform der Düsseldorfer Innenstadt einfügen oder entlang der Kölner Rheinuferstraße. Die Architektur hat sich überdreht und wuchert unsystematisch in die Höhe. In Hast und Eile schieben sich die Menschenmassen durch die Häuserfluchten. 
Augenblicke verflüchtigen sich so schnell, dass sie nicht mehr greifbar sind. Ein wenig komme ich mir dort vor wie „der Tramp“ aus dem Film „Lichter der Großstadt“ von Charlie Chaplin. Mit Bündeln von Geldscheinen in der Hand fühlte er sich abgestoßen von den Menschenmassen, ziellos flüchtete er in die Häuserschluchten hinein und aus den Häuserschluchten hinaus, er rang um menschliche Zuneigung, bis er verhaftet wurde.

Er wurde freigelassen, und ein blindes Mädchen, das Blumen verkaufte, verliebte sich in ihn und schenkte ihm ihre menschliche Wärme.

Dienstag, 17. Februar 2015

Verdamp lang her, katholisches Internat, Sympathy for the Devil und Anna - Wolfgang Niedecken in Rheinbach


In der Tat, verdammt lange ist seine Zeit her, die Wolfgang Niedecken nach Rheinbach katapultiert hatte. „Verdamp lang her“, sein wohl bekanntestes Stück, erzählt weniger von Rheinbach und mehr von seinem nicht ganz krisenfreien Verhältnis zu seinem Vater, da die Gegensätze von Vater und Sohn kaum größer sein konnten. So merkwürdig wie in der Passage „merkwürdig wo so mancher haas lang lööft“ mochte es dem damals 11-jährigen erschienen sein, als ihn seine Eltern an ein katholisches Internat in Rheinbach übergaben. Er ging auf ein Gymnasium in der Kölner Südstadt, seine Schulnoten hatten sich verschlechtert, es fehlte an Zeit, dass ihm seine Eltern bei den Hausaufgaben halfen, so dass sie alles verfügbare Geld zusammenkratzten, damit seine schulischen Leistungen in der Abgeschiedenheit eines Internates wieder aufwärts gehen sollten.

So ging es nach den Osterferien 1962 in dem Opel Caravan seiner Eltern nach Rheinbach. Schon in dem Moment, als die Pallottiner-Patres in ihren schwarzen Kutten und ihren seidenen Schärpen ihn in Empfang nahmen, wurde ihm klar, dass es kein Aufenthalt werden sollte wie in den Büchern von den Fünf Freunden. Sie ging ebenso in einem Internat zur Schule, die Umgangsformen waren locker und die Sommer waren voller Abenteuer.

Ein Speisesaal, ein Studiersaal, ein Waschsaal, ein Schranksaal, sogar ein Tischtennissaal, alles war starr reglementiert. Die Patres waren wie besessen von einem Kontrollwahn. Frühmorgens wurden die sechzig Internatsschüler von einer ohrenbetäubenden Schelle geweckt, sofort mussten sie aus dem Bett springen und in den Waschsaal im Keller rennen. Die Patres kontrollierten, ob genug Zahnpasta auf der Bürste war, sie kontrollierten, ob die Ohren gewaschen waren und die Fingernägel sauber waren.

Morgens ging es über einen kurzen Fußweg am Stadtpark vorbei zum Gymnasium. Nach Schulschluss folgten zwei Stunden Mittagspause und mehrere Stunden Silentien, in denen die Hausaufgaben erledigt werden mussten. Wer vorher mit den Hausaufgaben fertig wurde, der durfte ein Buch lesen. Die Zimmer mussten wie geleckt aussehen. Die Ordnung in Spind und Schreibtisch wurden jeden Abend kontrolliert. Die Bettlaken mussten so stramm gezogen sein, dass keine Falte mehr zu sehen war. Vor dem Schlafengehen ging es in die Kapelle, wo gebetet wurde. Dass die menschliche Existenz lediglich ein Übergangszustand zum Tode ist, wurde den Schülern eingetrichtert, in dem sie allabendlich das Lied sangen „Wir sind nur Gast auf Erden“.

Die Kontrollen hatten ein System. Es wurde solange kontrolliert, bis etwas gefunden wurde, das nicht so war, wie es sein wollte. Als Strafe durften die Schüler dann Koks in den Keller schaufeln, sie wurden zur Gartenarbeit verdonnert oder mussten im Keller Kartoffeln von Keimen befreien.

Die Situation eskalierte in dem katholischen Internat, als 1964 zwei Fälle sexuellen Missbrauchs bekannt wurden, davon war einer Wolfgang Niedecken, wobei Wolfgang Niedecken den Begriff „sexueller Missbrauch“ lieber vermeidet. Als es mit den Lateinvokabeln nicht so richtig klappen wollte, gab es mit dem Rohrstock eine Tracht Prügel. Um die Prügelstrafe zu ersparen, wurde ein Pater zudringlich und in dessen Folge kam es zu sexuellen Handlungen.

Als Wolfgang Niedecken am Wochenende bei seinen Eltern in Köln war, bemerkte sein Vater Striemen und blaue Flecken auf seinem Rücken, er fragte nach, und wie befreit, erzählte der Sohn seinem Vater alles haarklein, was im Internat geschehen war. Sein Vater erstattete Anzeige bei der Polizei, und der Pater verschwand von einem Tag auf den anderen von der Bildfläche und wurde nie mehr gesehen. Um seinem Sohn eventuelle Schwierigkeiten zu ersparen, sorgte er dafür, dass sein Name nirgendwo bei der Staatsanwaltschaft aktenkundig wurde. So konnten Wolfgang Niedecken Jahre und Jahrzehnte später keine Verbindungen zu den strafrechtlichen Ermittlungen nachgesagt werden. Genau das ist die eine Kernaussage in seinem bekanntesten Stück „Verdamp lang her“. Die andere Kernaussage geht in die Richtung des nicht immer harmonischen Verhältnisses zwischen Vater und Sohn, der eine war ein Buchhaltertyp und besaß ein Einzelhandelsgeschaft, der andere war mit Leib und Seele Künstler.

1968 wechselte der Betreiber des Internates, und gleichzeitig hatte in kleinem Umfang die Lässigkeit und die Rebellion der 1968er-Generation Einzug gehalten in den Schulbetrieb. In weiten Teilen verharrte die Lehrerschaft in einer stock-konserativen Denkweise, mit Ausnahme des Deutschlehrers, der als jüngerer Lehrer nachgerückt war. Als Hausaufgabe mussten die Schüler in der Oberstufe eine Interpretation erarbeiten, welches Gedicht sie in ihrem Leben am stärksten beeinflusst hätte. Viele Schüler schrieben über Goethe, Schiller, Herder, Lessing. Die Rolling Stones hatten zu diesem Zeitpunkt das Album „Beggars Banket“ heraus gegeben, und als Rebell schrieb Wolfgang Niedecken über das Stück „Sympathy for the Devil“. Er sinnierte, dass der Mensch gleichzeitig mit den Göttern den Teufel erfunden hat. Er betrügt, hasst, lügt, verrät, mordet und begeht Verbrechen. Der Teufel verkörpert eine Sehnsucht, für das Böse im Menschen eine Erklärung zu finden, und Mechanismen zu finden, das Böse auszurotten. Den Teufel werden wir nie ganz klein kriegen. Der Teufel vertrieb uns aus dem Paradies, er zündete Rom an, er ließ die Soldaten auf den Schlachtfeldern von Verdun sterben, er war Lagerkommandant in Auschwitz. Der Deutschlehrer weigerte sich, die Interpretation zu bewerten. Sollte jemand anders aber eine Bewertung fordern, würde diese positiv sein.

Schon bevor der Betreiber des Internates gewechselt hatte, war Wolfgang Niedecken in ein Privatquartier in Rheinbach ausgezogen, da die Zustände in dem katholischen Internat unzumutbar waren. Je mehr es auf das Abitur zuging, um so häufiger erhielt er Damenbesuch. Es war Hille, die aus Ramershoven kam, zwei Kilometer entfernt von Rheinbach. Sie hatte ein Jahr zuvor ihr Abitur gemacht. Sie ließen es sich gut gehen, träumten in den Tag hinein, und manchmal holte sie ihn mit ihrem Simca ab und brachte ihn zur Schule. Sie war launisch, begleitete ihn, und trotzdem wollte es mit seinem Abitur in Rheinbach nicht so richtig werden. Die zwölfte Klasse musste er wiederholen, und als er zwei Fünfen hatte, eine in Mathe und eine in Latein, musste er das Rheinbacher Gymnasium ohne Abitur in der Tasche verlassen. Und auch Hille blieb ihm zwar treu, eine richtige Beziehung wurde es aber nie, weil sie einfach nur launisch und dauernd unterwegs war.

Ihr wechselhaftes Temperament lieferte ihm die Inspiration für das Stück „Anna“, das 1980 auf der LP „Affjetaut“ erschien:

„Moondachs besste ne Friedhoff
diensdaachs besste ne Puff
mittwochs dräumste dich früh
donnersdaach stirvste em Suff
friedaachs isste kei Fleisch
Sabbat arbeitste nie
spaars ding Kräfte für sonndaachs
Annamarie.“

Auch in etwas betagteren Jahren ist Wolfgang Niedecken Rheinbach treu geblieben. Es ist wie so oft mit der Vergangenheit, dass die dunkle Zeit im katholischen Internat ausgeblendet wird, während die positiven Eindrücke überwiegen. Sein Freundeskreis in Rheinbach wird nicht klein sein. Unter anderem ist es Hille in ihrer Rechtsanwaltskanzlei und die Musiker aus seiner ersten Band „The Troop“, mit denen er des öfteren in der Rheinbacher Stadthalle gespielt hatte.

Und wenn Wolfgang Niedecken auf Tour geht, dann ist auch Rheinbach dabei.



Quelle: Wolfgang Niedecken mit Oliver Kobold - Für 'ne Moment (Autobiografie)

Sonntag, 15. Februar 2015

Goethe im Rheinland

Die ersten beiden Begegnungen mit Bonn waren verkorkst, misslungen beziehungsweise geistesabwesend.

Verglichen mit anderen Dichtern und Denkern, kann man mit Fug und Recht behaupten, dass der Rhein nicht zu den erstrangigen Reisezielen Goethes gehörte. Von einer Romantik des breiten Stroms mit seinen Burgen findet sich ungefähr nichts in seinen Werken. Andere Ziele trieben Goethe an. Zwei Jahre lang tingelte er durch Italien, er sog die Antike, das Mittelalter und die Renaissance in sich hinein wie kein anderer. Italien bezeichnete Goethe als seine eigene Wiedergeburt, und danach war er so randvoll mit Ideen und Inspirationen, dass Romane und Dramen nur so aus ihm heraus purzelten.

Mit dem Rhein hatte Goethe auch deswegen wenig zu tun, weil er sozusagen in seinem Zweitjob Dichter und Denker war. Er übte einen ordentlichen Beruf aus, also einen Beruf zum Geldverdienen, auf dem er sein Leben als Künstler aufsetzen konnte. Goethe hatte ab 1765 in Leipzig Jura studiert, danach war er ab 1771 in Frankfurt in einer Anwaltskanzlei tätig, ab 1775 wurde er im Herzogtum Eisenach-Sachsen-Weimar zum Minister ernannt. Dort war er für Bergbau und Wegebau zuständig, später wurde er sogar Finanzminister.

Goethes Reisen an den Rhein hatten ihn ins Rhein-Main-Gebiet geführt, als er in seiner Frankfurter Anwalts-Kanzlei tätig war, und an den Oberrhein, als er eine Zeitlang in Straßburg studierte. Der Rhein war somit für ihn eine Begleiterscheinung, kein zwingendes Muß, aber dennoch lernte er das Rheinland schätzen.

Wenn man Goethes Rheinreisen zusammenzählt, kommt man auf insgesamt acht längere Rheinreisen. "Ich sah den herrlichen Rhein", so schrieb Goethe in sein Tagebuch, und er war überwältigt von "der großartigen Landschaft, von Landesgröße und Wasserfülle". Es war weder Köln, noch Bonn, noch die rheinische Burgenromantik, die Goethe in einer gewissen Regelmäßigkeit ins Rheinland führte, sondern Düsseldorf. Fritz Jacobi war Philosoph, Jurist, Kaufmann und Schriftsteller, er bewohnte ein Landgut bei Düsseldorf und seine Freundschaft mit Goethe pflegte er über mehrere Jahrzehnte. Auf einer Reise nach Genf hatte er Jean Jacques Rousseau mit seinen Ideen der Aufklärung kennen gelernt. Um Jacobi bildete sich ein Kreis von Dichter und Denkern, die zu Denkern der Aufklärung wurden, das waren unter anderem Basedow und Lavater. Sie schrieben eigene Schriften zur Aufklärung und trafen sich in Düsseldorf in regelmäßigen Zyklen, um ihre Gedanken auszutauschen. Goethe war in diesem Kreis herzlich willkommen.

Geistesabwesend war Goethes erste Begegnung mit Bonn. Im Juli 1774 fuhr er mit eben diesen beiden Aufklärern Basedow und Lavater auf einem Schiff nach Düsseldorf. Das Schiff legte am Rheinufer an, und die beiden wollten dem 25-jährigen, der mit „Götz von Berlichingen“ einen ersten Ruhm erlangt hatte, die Stadt am Rhein zeigen. Aber Goethe war, bedeckt mit Mantel, Hut und einem Tuch, in der schwerfälligen Mittagshitze eingeschlafen. Als die beiden das Tuch anhoben, um ihn zu wecken, lautete sein einziger Kommentar: „Mach wieder zu“. Die träge Mittagssonne hatte somit Goethe vollends umnebelt.

18 Jahre später, war die zweite Begegnung mit Bonn nicht viel versprechender. Diesmal ruderte er auf einem Boot mit Fährmann und Diener rheinabwärts, um wieder einmal die Gebrüder Jacobi in Düsseldorf zu besuchen. Es geschah Ende Oktober 1792, als die drei einen weiteren Ruderer aufnahmen. Doch die beiden Ruderer stritten und zankten sich unablässig, bis der eine Ruderer den anderen ins Wasser stieß. Nur mit Mühe fischten die drei den Ruderer wieder heraus. Auf seinen Wunsch legten die drei in Bonn an, damit er sich bei klammen Herbsttemperaturen trockene Anziehsachen besorgen konnte.  Da das Boot heftig Schlagseite genommen hatte, war Goethe ebenso klatschnass geworden. Er übernachtete einem Wirtshaus, trocknete dort seine Habseligkeiten, und am folgenden Tag machte er sich so schnell wie möglich aus dem Staub.

Goethes dritte Begegnung mit Bonn verlief deutlich entspannter. 1815, als das Rheinland beim Wiener Kongreß Preußen zugeschlagen wurde, kam der Freiherr vom Stein am Hof von Eisenach-Sachsen-Weimar auf Goethe zu. Er beauftragte eine „Begutachtung des rheinischen Kunst- und Bildungswesens und der dortigen Altentümer“. Das war ein Auftrag, der ganz im Sinne des mittlerweile 66-jährigen Goethe war. Er hatte den Drahtseilakt hingekriegt, gleichzeitig Minister und Dichter und Denker zu sein, all seine Eindrücke aus seinen Italien-Reisen hatte er ausgespeichert, in seiner Freundschaft mit Schiller war er zum Sinnbild der Weimarer Klassik geworden.

Gemeinsam mit dem Freiherrn vom Stein erkundete er das Rheinland. Am 24. Juli 1815 erreichte er Köln, den 27. und 28. Juli widmeten die beiden gemeinsam mit dem Kölner Maler Heinrich Fuchs der Stadt Bonn.

Als Goethe auf  dem Alten Zoll spazierte, notierte er in seinem Tagebuch: „Man muss gestehen, dass die Aussicht entzückend ist. Der Rhein und das Siebengebirge links, eine reich bebaute und lustig bewohnte Gegend rechts, man vergnügt sich  so sehr dieser Aussicht, dass man sich eines Versuches, sie mit Worten zu beschreiben, kaum enthalten kann.“

Danach besichtigte Goethe die Kirchen, das war die Münsterkirche und die Kirche St. Gangolf, die mit dem Abbruch von Kirchen in der französischen Besatzungszeit nur noch eine Ruine gewesen sein dürfte. Er besichtigte die Überreste aus der Römerzeit, und ausgiebig viel Zeit nahm er sich, den Kunstsammler Kanonius Pick kennen zu lernen.

In seinen Tagebüchern nimmt Kanonius Pick einen breiten Raum ein: „Dieser heitere und geistreiche Mann hat alles und jedes, was ihm altertümlich in die Hände kam, gewissenhaft gesammelt, welches schon ein großes Verdienst wäre. Ein größeres hat er sich aber erworben, dass er, mit Ernst und Scherz, gefühlvoll und geistreich, heiter und witzig, ein Chaos von Trümmern geordnet, belebt nützlich und genießbar gemacht hat.“ Goethe schreibt ausführlich über Portraits, Landschaften, Kupferstiche, Münzen, Drucke, Manuskripte. Kanonius Pick hat sogar eine eigene Hauskapelle mit alten Glasfenstern besessen.

Goethe äußerte sich wohlwollend, ob Bonn der Standort einer Universität innerhalb des neuen Preußischen Staatsgebietes werden könnte. Bonn wetteiferte mit Köln, Düsseldorf und Duisburg. Wie die Geschichte lehren sollte, sollte Bonn die anderen Metropolen aus dem Rheinland überholen, wobei nicht bewiesen werden kann, welchen Anteil Goethes Sichtweise an der späteren Entscheidung hatte.

Ein Gedicht entstand als Bleistiftnotiz auf einem Zettel während seines Bonner Aufenthaltes:

„Locken, haltet mich gefangen
In dem Kreise des Gesichts.
Euch geliebten braunen Schlangen
Zu erwidern hab’ ich nichts.

Nur dies Herz, es ist von Dauer,
schwillt in jugendlichem Flor.
Unter Schnee und Nebelschauern
Rast ein Ätna dir hervor.

Du beschämst wie Morgenröte
jener Gipfel ernste Wand,
und noch einmal fühlt Hatem
Frühlingshauch und Sommerbrand.

Schenke her ! Noch eine Flasche.
Diesen Becher bringe ihr.
Findet sie ein Häufchen Asche,
sagt sie. „Der verbrannte mir.““

Es findet sich wieder in der Gedichtsammlung des west-östlichen Divans.

Es gibt keinen Zweifel: das Rheinland hat Goethe inspiriert. Nicht alles war verkorkst, misslungen, geistesabwesend. 1818, als die Universität Bonn gegründet wurde, verschmolzen Dichtung und Wahrheit mit der ersten Generation der Bonner Professoren. Bereits alternd, hielt Goethe regen Kontakt. Viele Briefe mit den Professoren haben sich in der Handschriftensammlung der Universität erhalten.

Mittwoch, 11. Februar 2015

Holzweiler und Braunkohletagebau

Hinweisschild nach Holzweiler
Die Umgehungsstraße zerrann in der Unscheinbarkeit der Landschaft, die sich in der Müdigkeit des frühen Morgens bequemte. Die Felder, farblos, konturlos, ausgezehrt vom Winter und wie glatt gestrichen, harrten in der flachen Ebene aus. In der Ferne gelang es den Windrädern nicht, sich von der Allmacht des Einheitsgraus zu befreien. Der Sprühregen tastete auf die Windschutzscheibe wie ein unsichtbares Netz. Unsichtbar war auch die feuchte Schicht, die die Straße, den Grünstreifen, den Straßengraben und den Erdboden bedeckte.

Ich bog ab. Vor dem Autobahnkreuz Jackerath hatten meine Blicke in den Braunkohletagebau hinein gespäht, wo mich Vorstellungen und Ahnungen überfielen, welche Löcher sich in die mondartige Landschaft gefressen hatten. Nun war ich überrascht, wie schnell die Landschaft in eine Unberührtheit gewechselt hatte, die trügerisch war. Ich schaute auf Immerath, das, wenn die Planungen sich bewahrheiten sollten, 2017 von der Landkarte verschwinden sollte. Noch begehrten die grauen Türme der St. Lambertus-Kirche auf gegen den Tagebau, genauso wie die umliegenden Ortschaften Kuckum, Keyenberg, Berverich, Ober- und Unterwestrich, die noch standen, zum Abbruch frei gegeben waren, die sich zunehmend leerten und zu Geisterdörfern wurden.

Ich bog abermals ab, diesmal nach links in die alte Landstraße, die Immerath mit Holzweiler verbindet. Baumreihen, hastig dahin geschmissen am Straßenrand, scharten sich in Zweier- und Dreierreihen zusammen. Das nackte Geäst drückte gegen den bleiernen Himmel. Die Unebenheiten auf der Straße federte unser Auto locker ab, ohne dass es ruckelte und zuckelte, und dann stand dieser einstige Eintausendsechshundert-Seelen-Ort Holzweiler vor mir, der seinen Widerstand gegen den Braunkohletagebau bis vor das Bundesverfassungsgericht getragen hatte.

Für eine Weile tauchte ich hinein in einen Mythos, in Heldentum und Bereitschaft zum Kampf. Es war ein Kampf von David gegen Goliath, ein Zwerg gegen den Riesen, Umweltschützer gegen die RWE Power AG, vormals Rheinbraun. Dem Namen ihrer Tochtergesellschaft treu, strotzten die Braunkohlebagger vor Kraft, und diese Monster, so schwer wie 400 LKWs, fraßen sich in die Tiefen des Erdreichs hinein, verfrachteten Schichten und Flöze des schwarzen Goldes auf Förderbänder und Züge, damit Braunkohlekraftwerke vor sich her qualmen konnten und Geräte und  Steckdosen in unseren Häusern mit Strom versorgen konnten.




Ortsmitte Holzweiler
Dorfplatz (oben links), Kriegerdenkmal (oben rechts),
Kirche (Mitte), Haus zu verkaufen (unten)
Steinstraß, Kerpen-Mödrath oder Bedburg-Königshoven, das waren die größten Orte, die umgesiedelt wurden, insgesamt waren es rund fünfzig Dörfer, aber auch Kleinst-Ortschaften und Gehöfte. Kollatereralschäden von Umsiedlungen wurden bewusst in Kauf genommen, das war schon immer so, und bis in die Gegenwart gingen die Dinge ihren gewohnten Gang, indem sie über den Faktor Geld abgewickelt wurden. Also eine großzügige Entschädigung ausschütten, die Ortschaft räumen, dann wegbaggern, Neuansiedlung, Wiederaufbau. Was blieb den Einwohnern auch anderes übrig ?

1926, als erste Umsiedlungspläne für Hürth-Berrenrath gedacht wurden, tickte die Braunkohlewelt noch anders. Zur Enteignung kam es in Hürth-Berrenrath – vorläufig – nicht, da das aus der Preußenzeit stammende „Allgemeine Berggesetz“ das Privateigentum schützte und nicht antastete, was auch für den Braunkohletagebau galt. Das änderte sich 1937 unter den Nationalsozialisten. Sie hoben dieses Verbot auf, und auch in der Bundesrepublik blieb es dabei, dass bei "überwiegenden öffentlichen Interessen" auch Wohn- und Betriebsgrundstücke abzutreten waren. Seitdem predigte die Justiz gebetsmühlenartig, dass die Stromversorgung ein öffentliches Interesse darstellt, so dass es keinerlei Sinn macht, mit Umsiedlungen im Rahmen des Braunkohletagebaus Gerichte zu beschäftigen.

1987 nahm das Schicksal des Braunkohletagebaus Garzweiler II, westlich der Autobahn A44 von Aachen nach Düsseldorf gelegen, seinen Lauf. Zehn Jahre später, 1997, konkretisierten sich die Planungen, als das Bergamt Düren den "Rahmenbetriebsplan Garzweiler II" genehmigte und dieses Gebiet zum Kohletagebau freigab.

Die Opferbereitschaft, ihre Heimat für Strom und Braunkohle zu opfern, sank indes bei den 8.000 Einwohnern, die umsiedeln mussten, in den betroffenen vierzehn Dörfern. Sie klagten an, dass sie mit Geld ruhig gestellt wurden, während Heimat, gewachsene Dorfstrukturen, gewachsene Nachbarschaften, Vereinsleben, Natur und Harmonie unwiederbringlich zerstört wurden. „Ja zur Heimat – Stopp Rheinbraun“ – diese Protestschilder wurden zum Sinnbild ihres Widerstandes. Sie protestierten, demonstrierten auf Fahrrädern, bildeten eine Fackelkette entlang der Tagebaukante, sie belagerten den Düsseldorfer Landtag.

Mit den Gesetzen war es aber wie so oft, wenn sich der kleine Mann auf Recht und Gesetz berufen will: Gesetze scheinen nur für die Mächtigen der Republik gemacht, die mit der Regierung Hand in Hand zusammen arbeiten, und diese Zweisamkeit aufzubrechen, gleicht einem Versuch, einen Bunker aus Beton mit Hammer und Meißel aufstemmen zu wollen. So bissen sich selbst die Grünen, die siebzehn lange Jahre in Nordrhein-Westfalen mitregierten, die Zähne am Braunkohletagebau aus, ohne etwas zu bewegen. Den Braunkohletagebau kaputt zu reden, war ein Tabu, denn er ist der Wirtschaftsmotor in NRW und bedeutet an die 2.000 Arbeitsplätze.

Dass Holzweiler eine Erfolgsgeschichte des Widerstands geschrieben hat, sieht man dem Dorf nicht an. Noch nicht. Am Dorfplatz sind die Rolläden an manchen Häusern dicht. „Zu kaufen S-Immobilien“ belegt das weiße „S“ der Sparkasse auf rotem Untergrund, dass Immobilien nicht der Bestimmung des Untergangs entgegensehen, sondern wieder zu haben sind. Dass das Leben nicht ausgehaucht ist, sieht man dem Haus Krummen an. Bierreklame und Deutschlandadler in schwarz-rot-gold über dem Eingang, erwartet die Gaststätte Gäste. Im Frühjahr oder Sommer werden sie sicherlich zahlreicher sein, denn Tische und Stühle für den Biergarten warten im Hinterhof. Die Geste des Soldaten auf dem Kriegerdenkmal trifft die Symbolik des Widerstandes: vom Sockel richtet er einen Pfeil gegen einen Gegner, der Pfeil stößt ins Leere, aber der Soldat ist entschlossen zum Kampf, selbst wenn der Kampf gegen Windmühlen ausgetragen werden muss.



Immerather Dom (oben links), Abbruchkante bei Immerath (oben rechts),
Quelle: www.angelikadiesunddas.blogspot.de
Blick von der Aussichtsplattform Jackerath (Mitte),
Braunkohlekraftwerk Niederaußem (unten)
Holzweiler atmet auf, seitdem einsame Kämpfer ihren Kampf gegen übermächtige Gegner durchgehalten haben. Es war auch der Idealismus eines Einwohners von Immerath, der den Bund für Umwelt und Naturschutz dazu brachte, in den 1990er Jahren eine Wiese zu kaufen. Dort pflanzte er Obstbäume, aus dessen Früchten er in guten Jahren einen ausgezeichneten Obstler brannte, den er „Flächenbrand“ nannte. Obschon die Aussichten gegen das gerichtliche Räderwerk, das die Schwergewichte der Wirtschaft im Rücken hatte, gegen Null gingen, klagte dieser Einwohner aus Immerath, da er sein Grundrecht auf Freizügigkeit verletzt sah, und er berief sich auf Artikel 11 des Grundgesetzes.

Es war genau diese Obstwiese, die ein Umdenken in Recht und Gesetz bewirkte, gepaart mit der Energiewende, die zwar noch in den Kinderschuhen steckt, aber ihre Schatten voraus wirft. Der Artikel 11 des Grundgesetzes griff aus Sicht der Richter ins Leere, also war die Genehmigung von Garzweiler II durch das Bergamt Düren verfassungsgemäß. Aber bis zur Enteignung der Obstwiese klaffte ein rechtsfreier Raum, in dem es keine Chance gab, gegen die spätere Enteignung vorzugehen. Die Grundrechte seien zwar gewährleistet, die Richter bemängelten aber genau diese fehlende Rechtssicherheit.

Nach dieser Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichtes wurde der Obstler auf der inzwischen weggebaggerten Wiese seinem Namen gerecht: er entfesselte tatsächlich einen Flächenbrand in der Nordrhein-Westfälischen Landesregierung. Energiewende und Braunkohle passten nicht mehr zusammen, da die Braunkohle den CO2-Ausstoss in die Höhe trieb. Zudem sank mit Windrädern, Offshore-Windparks und Gaskraftwerken der Energiebedarf aus konventionellen Kraftwerken. Die Landesregierung ruderte zurück, indem sie Garzweiler II verkleinerte.

Protestschild "Stopp Rheinbraun"
Holzweiler ist ein Politikum erster Rangordnung. Den Einwohnern, die bleiben dürfen oder zurückkehren dürfen, ist dies vielleicht nicht ganz bewußt. Die Diskussionen werden weitergehen, ob der Tagebau weiter abgespeckt wird. Den Bewohnern aus Steinstraß, Kerpen-Mödrath oder Bedburg-Königshoven wird dies freilich wenig nutzen, denn dort ist alles aus, vorbei, untergegangen, weggebaggert. Energieversorgung ist ohnehin ein absolut heikles Thema. Sichere Energieversorgung ja, Strom aus der eigenen Steckdose ja, ökologisch sauber im Sinne der Energiewende ja, das meinen alle Bundesbürger. Aber bloß nicht vor der eigenen Haustüre. Am besten, man verlagert die komplette Stromgewinnung auf Offshore-Parks in die Nordsee, wo sie niemand sieht. Aber dann müssen Stromtrassen quer durch die Republik von Norden nach Süden gebaut werden. Und diese Hochspannungstrassen will auch niemand haben, also wird wieder protestiert, gestritten, geklagt.

Holzweiler wird weitergehen. Wenngleich der Erfolg gegen den Verlust der Heimat riesig ist. In der Müdigkeit der Landschaft verließ ich Holzweiler. In der Weite der Ebene sackten die Windräder in sich zusammen. Die Fabriktore der Seilerei versteckten sich vor den viereckigen Kästen, die unterschiedslos in die schwammigen Felder übergingen. Am Rande des Ortes überraschten die frühlingsgrünen Container einer Entsorgungsfirma, die dem Einheitsgrau widerstrebten.

Ich kehrte zu der Umgehungsstraße zurück. Der Nieselregen hatte seine erdrückende Variante fortgesetzt. Glücklicherweise erblickte ich die stationäre Geschwindigkeitskontrolle in der 70er-Zone rechtzeitig. Mit meinem Tempo wollte ich gegen die müde Stimmung dagegen halten.

Sonntag, 8. Februar 2015

als Köln Millionenstadt wurde ...

… hatte Monate zuvor der Landtag von Nordrhein-Westfalen heiß debattiert. Leidenschaftlich wogten die Argumente hin und her, wie denn die Zukunft von Leverkusen, Porz und Wesseling und vielen anderen Stadtteilen aussehen sollte. Unter der Drucksache 7/4190, kurz „Köln-Gesetz“ genannt, bürokratisch in aufgeblähter Form „Gesetz zur Neugliederung der Gemeinden und Kreise des Neugliederungsraums Köln“,  hatte der Landtagsausschuss, der der Verwaltung Flügel der Effizienz verleihen sollte, einen Vorschlag erarbeitet, welche Dörfer, Orte, Städte, Gemeinden im Kölner Umland wo und wie verbleiben sollten. Das war sehr viel Kleinvieh und Kleinmist, bei dem sich die Verantwortlichen zu verzetteln drohten, aber auch große Brocken wie Leverkusen, Porz und Wesseling sahen ihrem Schicksal entgegen. Die Landtagsabgeordneten mussten entscheiden über Tausend-Seelenorte wie Auweiler, Esch, Pesch im Kölner Norden. Mancherorts betrieben sie Haarspalterei: im Westen wurden 130 Seelen aus Marsdorf eingemeindet, im Norden mussten sich die 180 Bewohner der Siedlung Blechhof nach Dormagen umorientieren, 20 Einwohner traf es in Dünnwald, die von Leverkusen einkassiert wurden. Es waren aber auch dicke Brocken dabei, die sich bedroht fühlten, als würden sie von der übermächtigen Metropole Köln aufgefressen.

Ein bisschen war es ein Kampf auf Leben und Tod. In Leverkusen hatten Bürgerinitiativen mobil gemacht. „LEV muss leben“, so trugen Leverkusener Bürger ihre Proteste bis vor den Düsseldorfer Landtag. Leverkusen durfte nicht untergehen. Leverkusen als Vorort von Köln, das war schlichtweg unvorstellbar. So kramten die Befürworter von Leverkusen das Argument hervor, dass Zentren in der Umlandregion gebildet werden sollten. Aus Bayer, jede Menge Chemie, der Retortenstadt Leverkusen, Opladen und Bergisch Neunkirchen kneteten die Verantwortlichen dann dieses Gebilde der kreisfreien Stadt Leverkusen am grünen Tisch zusammen. Die Leverkusener Bürger sollten sich also durchsetzen.

Einig waren sich alle, dass nichts beim alten bleiben konnte. In den 1970er Jahren reformiert, stammen die Grenzziehungen von Städten und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen zuvor noch aus der Preußischen Zeit, also aus dem 19. Jahrhundert. Klein- und Kleinstgebilde verwalteten sich mitunter selbst, so dass es unstrittig war, Luft aus dem aufgeblähten Wasserkopf der öffentlichen Verwaltung heraus zu lassen. Überall wurden Kreise zusammengelegt, so dass die kommunale Neuordnung auch Köln erfassen sollte. Es ging um Kostensenkungen, die Stadtplaner konnten ihre Planungen durchgängig gestalten, Abstimmungsbedarfe bei gemeindeübergreifenden Industriegebieten fielen weg. Manche Städte fühlten sich benachteiligt, wenn diese für Arbeitsplätze in den Innenstädten die Verkehrsinfrastruktur bezahlten mussten. Viele Bürger wohnten aber im Umland und führten dort ihre Steuern ab.

Aber bis wie weit reichte der Ballungsraum Köln ? Und wo begann das ländliche Umland ? Wie man auch vorging, im Prinzip waren alle Ansätze gleichzeitig richtig und falsch, wobei die Verflechtungen durch den Industriegürtel, der linksrheinisch Köln umklammert, diese Grenzziehung verkomplizierte. Mit diesen industriellen Verflechtungen wurden rasch Stimmen laut, eine Großstadt zu konzipieren, die sich auf Augenhöhe mit den Großstadtmetropolen von Berlin, Hamburg und München bewegen sollte. Alle Industriestandorte, im Süden Frechen, Hürth, Brühl, Wesseling, im Norden Leverkusen, sollten Köln zugeschlagen werden. Aber die Verantwortlichen bissen sich die Zähne am Widerstand in der Bevölkerung aus. Frechen, Hürth und Brühl ließen sie fallen, Leverkusen und Wesseling wurden später Bestandteil des Köln-Gesetzes.

Die Debatte am 25. September 1974 im Düsseldorfer Landtag dauerte vier Stunden, sie war heiß und emotionsgeladen. Mit 28 Gegenstimmen und 10 Enthaltungen nahmen die Abgeordneten die Neuordnung des Kölner Stadtgebietes an. Am Ende der Debatte waren sie sich einig, dass sie eine Lösung gefunden hatten, in der sie die siedlungsmäßigen Verflechtungen des Ballungsraums der Stadt Köln in einem stabilen Pendlerraum gefunden hatten. Eigenständige Mittelzentren wurden beibehalten. Sie waren stolz, Köln ein Stück in die Richtung der Metropolen München, Hamburg und Berlin geschoben zu haben. Und die Abgeordneten konnten für sich verbuchen, dass Köln sogar größer als München war, wenn man nicht auf die Einwohner schaute, sondern auf die 47.000 Hektar, das war die Fläche des neuen Stadtgebietes.

Den Zuwachs brachten Porz (83.000 Einwohner), Rodenkirchen (45.000 Einwohner), Wesseling (27.000 Einwohner), Weiden (24.000 Einwohner) und diverse kleinere Stadtteile, die die Einwohnerzahl über die Eine-Million-Marke hievten. Am 1.1.1975 schlug dann die historische Stunde der neuen Millionenstadt Köln. Hatte Köln im Jahr 1974 noch 830.000 Einwohner, so stieg die Zahl mit einem Mal auf 1,022 Millionen Einwohner. Ohne eigene Aktionen, indem sich ein paar Grenzen auf der Landkarte verschoben, erreichte Köln dieses Ziel, in den exklusiven Kreis der Millionenstädte Deutschlands aufgenommen zu werden.

Für die Bürger änderte sich so manches. Neue Ortseingangsschilder, neue Autokennzeichen. Bezirksverwaltungen, Polizeibezirke und Gerichtsbezirke wurden durcheinander gewirbelt und neu organisiert. Die Gebühren für Müllabfuhr, Abwasser und Straßenreinigung stiegen. Billiger wurden hingegen Fahrten mit Bus und Straßenbahn, da sich die Preise für unterschiedliche Unternehmen des öffentlichen Personennahverkehrs nicht addierten. Billiger wurde auch das Telefonieren, da zum Kölner Ortstarif abgerechnet wurde. Es herrschten auch Irritationen. Als Kölner Feuerwehrleute auf der Wache in Wesseling stationiert waren, fuhren sie Verletzte ins Krankenhaus nach Rodenkirchen, weil sie nicht wussten, dass es in Wesseling ein eigenes Krankenhaus gab.

Als alle Kölner die stolze Millionenzahl auf ihrer Brust trugen und als sie sich auf den Karneval eingestimmt hatten, der themengemäß das Motto hatte „Seid umschlungen, Millionen“, drohte Ungemach. Die Stadtteile Porz und Wesseling hatten vor dem Landesverfassungsgericht geklagt. Nun galt es, die Kriterien auseinanderzunehmen, wie die Grenzen des Ballungsraum Köln gebildet worden waren. Das war nicht ganz einfach, weil fallweise, Stadt für Stadt, entschieden worden war. Und in der Ganzheit dieses Ballungsraums gab es Ansätze für Widersprüche.

Der Siedlungsraum von Porz geht nach Köln über, also gehört Porz zu Köln, das entschied das Landesverfassungsgericht. Das war bitter, denn Porz war erst 1951 selbst zur Stadt geworden. Die Porzer schimpfen gerne über die Kölner, da Eil, Urbach und Grengel mit ihren Hochhaussiedlungen häßlich geworden sind und in sich zerrissen sind, nachdem sie von Köln eingemeindet worden waren. Viele Einwohner empfinden sich bis heute in ihrer Identität nicht als Kölner, sondern als Porzer.

Wesseling hingegen wurde ein Erfolg vor dem Landesverfassungsgericht beschert. Wesseling verwies auf den Norden Kölns, wo die Industriestruktur ähnlich ist. Worringen gehört zu Köln, außerhalb der Stadtgrenze erstrecken sich die Bayer-Werke, dann folgt die Stadt Dormagen, die zum Kreis Neuss gehört. Die Abfolge der südlichen Stadtgrenze sieht genauso aus: erst Godorf, das zu Köln gehört, dann die Ölraffinierien und mit gebührendem Abstand Wesseling. Wesseling triumphierte.

Das Landesverfassungsgericht bestätigte im Dezember 1975 die Verfassungswidrigkeit, Wesseling nach Köln einzuverleiben. Bis zum Juni 1976 räumte das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber eine Frist ein, den vorherigen Zustand wiederherzustellen. So wurde Wesseling zu einem anderthalbjährigen Zwischenspiel im Kölner Stadtgebiet. Und wer nachrechnet, der wird zu dem Ergebnis kommen, dass Köln ab diesem Zeitpunkt den Status einer Millionenstadt wieder verloren hatte.

Bis auf weiteres blieb dies auch so, weil die Bevölkerung in ihrer demografischen Entwicklung sank. Das änderte sich erst vor wenigen Jahren, nämlich 2010, als die Domstadt mit 1.007.119 Einwohnern die magische Zahl von einer Million erneut überschritt. Die meisten Kölner werden ohnehin mit Gelassenheit registriert haben, ob die Einwohnerzahl ihrer Stadt diesseits oder jenseits der Millionengrenze gependelt hat. Das Motto des Karnevals im Jahr 1975 hatte jedenfalls gepasst: es waren wirklich Millionen, die im Kölner Stadtgebiet umschlungen werden konnten.

Freitag, 6. Februar 2015

Bonn, Heinrich Böll und Ansichten eines Clowns

Hauptbahnhof vom Cassius-Garten aus
Er dürfte sich in seinem Grabe umdrehen. Das Geschehen in Heinrich Bölls Roman „Ansichten eines Clowns“ spielt in dem engen Umfeld zwischen Hauptbahnhof und Innenstadt. „Ich musste mich zurückhalten, um vor dem Bahnhof in Bonn nicht ein Taxi heran zu winken: diese Geste war so gut einstudiert, dass sie mich fast in Verlegenheit gebracht hätte … „, so beginnt der Roman, in dem Hans Schnier, von Beruf Clown, als freischaffender Künstler durch die Republik tingelt und zu seiner Wohnung zurückkehrt, die ihm sein Großvater geschenkt hat. 1963, in der Aufbruchstimmung der Nachkriegszeit geschrieben, dürfte sich Heinrich Böll im Grabe umdrehen, da er das seiner Zeit harmonische Umfeld des Hauptbahnhofs  mit Hausfassaden aus der Gründerzeit nicht mehr wiedererkennen würde. Seitdem hat eine Abrißwelle, dessen Ausmaß unvorstellbar ist, den Bahnhofsvorplatz zu einem der häßlichsten Flecken in der Stadt entstellt, heutzutage ein Treffpunkt von Junkies, Dealern, Drogenabhängigen und Ordnungsbehörden, die die verwahrlosten Zustände nicht in den Griff bekommen.

Aus einem Aufenthalt von zwei Stunden in Bonn einen kompletten Roman zu schreiben, der aus zahllosen Rückblenden zusammen gestrickt ist, das gehört zu den Geniestreichen des Heinrich Böll. Mit dem Literaturnobelpreis, den er 1972 erhielt, ist er vielleicht der bedeutendste Nachkriegsautor im Rheinland. In all seinen Werken kritisiert er die Gesellschaft, allen voran Egoismus, Scheinheiligkeit, Heuchelei, Oberflächlichkeit, Mitläufertum und das verkehrte Verhältnis der Gesellschaft zu Geld und Kapitalismus.

Die Handlung ist denkbar einfach konstruiert: Hans Schnier, die Hauptperson, ist von seiner längjährigen Freundin Marie verlassen worden, die mit ihm außerehelich zusammengelebt hatte. Nun ist sie zu einem ihm bekannten Katholiken namens Zupfner gezogen. Weil er bei einem Auftritt, bei dem er betrunken war, von der Bühne gestürzt ist, haben die Veranstaltungsagenten, die ihm die Tourneetermine besorgen, ihn fallen gelassen und ihm zu einer längeren Pause geraten. Ohne Geld, muss er Freunde, Bekannte, Verwandte und jede Menge weitere Personen, die er in seinem Leben kennen gelernt hat, um Geld anpumpen. In insgesamt fünfundzwanzig Kapiteln nimmt er das christliche Weltbild unserer Gesellschaft auseinander, die Stellung der Moral in der Kirche, er prangert die Denkweisen des Nationalsozialismus an, die bis in die Nachkriegszeit überlebt haben.

Die Schilderung seines Schauplatzes Bonn ist ambivalent. Einerseits lobt er die Stadt: „Die Stadt ist wirklich hübsch: das Münster, die Dächer des ehemaligen kurfürstlichen Schlosses, das Beethovendenkmal, der kleine Markt und der Hofgarten. Ich atmete in vollen Zügen oben auf meinem Balkon die Bonner Luft, die mir überraschenderweise wohltat: als Luftveränderung kann Bonn für Stunden Wunder wirken.“

Andererseits benutzt er die Kulisse der Stadt, um in seinen fünfundzwanzig Kapiteln insbesondere die Kirche, den Glauben und die dahinterstehenden Menschen an den Pranger zu stellen. Somit verliert sich Böll mitunter in diffusen Umschreibungen: „Bonn hat immer gewisse Reize gehabt, schläfrige Reize, so wie es Frauen gibt, von denen ich mir vorstellen kann, dass ihre Schläfrigkeit einen Reiz hat. Bonn verträgt keine Übertreibung, aber man hat diese Stadt übertrieben. … Es weiß ja auch ein jedes Kind, dass das Bonner Klima ein Rentnerklima ist, es bestehen Beziehungen zwischen Luft- und Blutdruck.“

Einsam, deprimiert und Marie vermissend, trifft Hans Schnier im katholischen Bonn unweigerlich auf die eigene Vergangenheit. Er stößt auf die alltägliche Unmenschlichkeit und das permanente Versagen von denjenigen, die Gottes Wort predigen, aber nicht danach handeln. Beispielhaft begegnet er einem hochangesehenen Prälaten, in dessen Haus gleich mehrere gestohlene Madonnen stehen. Sein Bruder studiert Theologie, er will Priester werden und ist Teil eines Systems, das aus Materialismus, doppelbödiger Moral, Anpassung und Gehorsam besteht.

Tristesse des Bahnhofsvorplatzes
1963 geschrieben, hat die Allgegenwart der Kirche bis heute sicher eingebüßt. Die Nachwehen des Nationalsozialismus sind hingegen bis heute aktuell, aber anders. Das Verhältnis von Hans Schnier zu seinen Eltern ist vergiftet, seitdem seine Eltern seine Schwester als Flakhelferin in den letzten Kriegstagen zu Hitlers letztem Aufgebot geschickt hatten. Prompt wurde sie von den Alliierten überrollt und starb. Dabei gehört es zur Perversion des Weltbildes seiner Eltern, dass sie die US-Amerikaner als "jüdische Yankees" bezeichnen.

Sein Elternhaus, das in Rheinnähe liegt, beschreibt er so: „Die Stämme der Buchen in unserem Park waren schwarz, noch feucht, der Tennisplatz frisch gewalzt, rot, vom Rhein her hörte ich das Hupen der Schleppkähne.“

Hans Schnier verzweifelt an der Unbelehrbarkeit seiner Eltern. Sie stehen zu ihrem Verhalten, ihre Tochter für das Vaterland geopfert zu haben, und sie würden sich in derselben Situation nochmals so verhalten. Seine Eltern sind durch den Krieg sogar reich geworden, weil sie Braunkohleaktien gehortet haben, deren Wert in Kriegs- und Nachkriegszeiten gestiegen ist. Sein Vater, ein Unternehmer, hält sich eine Geliebte und ist Mitglied der CDU, wobei er seine christliche Weltanschauung nach vorne kehrt. Seine Mutter verkehrt zu regelmäßigen „jour fixen“ in einem dubiosen „Zentralkomitee zur Versöhnung rassischer Gegensätze“, dessen Name versöhnlich klingt, aber von dem niemand so richtig weiß, welche Art von Versöhnlichkeiten dort ausgeklüngelt werden.

Die einzige glaubwürdige Person inmitten all der Scheinheiligkeit ist Hans Schnier, der Clown. In aufrechter Haltung schwimmt er gegen den Strom, konsequent. Er läßt sich nicht verbiegen, trotzt allen Widrigkeiten, als Künstler behauptet er sich wie ein Fels in der Brandung. Seine Kunst, die Dinge in seinen Formen als Clown auszudrücken, treibt ihn an, mit einem Spaßfaktor als Motivationsschub.

So rund wie der Roman ist, endet er auch, wo er begonnen hat, nämlich am Bonner Hauptbahnhof. Weggeflutscht ist die letzte Mark des Hans Schnier aus dem Fenster auf eine daher fahrende Straßenbahn. Er findet niemandem, der ihm als brotlosen Künstler zu Geld verhilft. Also setzt er sich auf die Treppenstufen vor dem Bonner Hauptbahnhof, legt seinen Hut auf eine Stufe, er spielt auf seiner Gitarre, singt über den Papst und wartet, bis die erste Münze in den Hut fällt.

Mittwoch, 4. Februar 2015

Fondsmanager und strafrechtliche Ermittlungen im Alten- und Pflegeheim Bonn-Dottendorf

Im Jargon eines Fondsmanagers hört sich das alles vollkommen easy an. Unsere Gesellschaft altert, das hatte nicht erst Frank Schirrmacher in seinem Buch „Das Methusalem-Komplott“ festgestellt. Unter der alternden Bevölkerung nimmt die Anzahl der Pflegefälle zu, das war schon so vor der Einführung der Pflegeversicherung 1995. Die Methusalems unserer Gesellschaft wollen in ihren Häusern, im Schoß ihrer Familie wohnen bleiben, bis es nicht mehr anders geht: Schlaganfall, Sturz, Demenz, dann kann der Weg ins Pflegeheim von einem Tag auf den anderen drohen, schlagartig und unvorbereitet. Angehörige ? Manchmal sind es Glücksfälle, dass Angehörige in der Nähe wohnen, die sich kümmern könnten. Aber allzu oft sieht die Realität anders aus: die Angehörigen haben sich in den Weiten unserer Republik zerstreut, sie sind in sich zerstritten oder im Mittelpunkt ihres Lebens steht das eigene Ich. Also zeigt die Kurve der potenziellen Pflegefälle steil nach oben.

Alten- und Pflegeheimen sind somit Wachstumskurven beschert, von denen andere Branchen nur träumen können. Neubauten kosten, barrierefrei, schwellenfrei, mit Bewegungsflächen für Rollstühle und Rollatoren, rollstuhlgerechten Bädern, niedrigen Griffflächen in Küchen, mit Notrufanlagen und Leitsystemen, die auf alle Wechselfälle des Alltags vorbereitet sind.

Wie einen bunten Blumenstrauß, stellen Fondsmanager ihr Portfolio zusammen. Sie sammeln Geld von Anlegern ein, dass sie dann scheibchenweise investieren. Hier eine Büroimmobilie, dort ein Einkaufszentrum, hier Eigentumswohnungen, dort ein Hotel, aber bitte: alles in exklusiver und teurer Lage, damit die Immobilie von explodierenden Grundstückspreisen profitieren kann, zinsbringend und renditestark. Vollkommen easy ist das. Und seit geraumer Zeit gehören Alten- und Pflegeheime ebenso zu diesem bunten Blumenstrauß.

Im einer Verkaufsbroschüre der DPF Deutsche Pflegefonds AG hört sich das so an:

„Das Leistungsspektrum der DPF Unternehmensgruppe konzentriert sich auf die Investition, Finanzierung, Entwicklung und das Asset-Management von Seniorenimmobilien … das sind sämtliche operativen Schritte von der Markt- und Standortanalyse über den Erwerb und die Finanzierung und das langfristige Management, bis zum Interim-Management des Betriebes … nur wer das Asset richtig versteht und sich in den Märkten bestens auskennt, kann langfristig erfolgreich agieren. Dieses Spezialwissen im Bereich des Betreibens von Pflegeheimen und Betreuten Wohnungen, der nachhaltigen Ertragsoptimierung auf der Immobilien- und Betreiberseite, der Projektentwicklung sowie der Finanzierungsstrukturierung, ist die Basis für dieses erfolgreiche Unternehmen.“

Die nachfolgenden Zusammenhänge sind konstruiert, sie dürften aber nicht allzu weit weg von der Realität liegen. Zwei Todesfälle in einem Alten- und Pflegeheim in Bonn-Dottendorf hatten zuletzt Aufsehen erregt, nachdem zwei Heimbewohnern im Alter von 70 und 75 Jahren falsche Medikamente verabreicht worden waren. Ob dies ursächlich geschehen ist, damit beschäftigt sich derzeit die Staatsanwaltschaft. Nachdem eine anonyme E-Mail an den WDR die Zustände in diesem Alten- und Pflegeheim als unhaltbar bezeichnete, ja, sogar Fälle von Körperverletzung und Diebstahl nannte, unternahmen Polizei und Staatsanwaltschaft weitere Schritte. Sie ermittelten über die beiden Todesfälle hinaus, sie beschlagnahmten Heimakten und veranlassten, dass das Heim wegen einer Gefährdung der Heimbewohner geschlossen wurde.

Der Betreiber des Alten- und Pflegeheims, die Senator GmbH, ansässig in Lübeck, unterhält weitere Heime in NRW, Niedersachsen, Hamburg und Schleswig-Holstein. Zum Bau und zum Betrieb von Alten- und Pflegeheimen könnten Gelder aus Immobilienfonds geflossen sein. Konkret liegen dazu keine Erkenntnisse vor. Allgemein und übergreifend hatte aber das Handelsblatt festgestellt, dass die öffentliche Hand Investitionen in Alten- und Pflegeheime nicht mehr stemmen kann. Daher müssten private Investoren einspringen, zwangsläufig, die dann von Immobilienfonds eingesammelt werden.

Fondsmanager, die nur Rendite und nichts anderes interessiert, könnte man dann mit einem Aufseher in einer Galeere vergleichen. Der Aufseher musste die Sklaven antreiben. Wenn diese nicht ihr Pensum erbrachten, wurden sie ausgepeitscht. Ausgepeitscht wird heutzutage niemand in Alten- und Pflegeheimen. Dafür gibt es aber andere Indikatoren, was den Umgang mit der menschlichen Ressource der Arbeitskraft betrifft.

30.000 Fachkräfte in der Altenpflege fehlen, ein Altenpfleger verdient mit durchschnittlich 2.568 € rund 600 € weniger als ein Krankenpfleger, das hatte zuletzt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung heraus gefunden. Chronisch unterbesetzt, im Grenzbereich zum Mindestlohn, dürfte eine gehörige Portion Idealismus und Menschlichkeit dazugehören, solch einen Knochenjob auszuüben. Oftmals schaffen es auch Leiharbeiter und Aushilfskräfte nicht, den Personalmangel zu beseitigen. Der Gesetzgeber sieht einen Mindestanteil von 50% heimeigenen Kräften mit einem dauerhaften Arbeitsvertrag vor, was in dem Dottendorfer Alten- und Pflegeheim nicht der Fall war. Planbare Tagesabläufe dürften unter diesen Rahmenbedingungen die Ausnahme sein. In ständiger Zeitnot, werden dann die Methusalems unserer Gesellschaft abgefertigt wie in einer Fabrik.

Ganz easy, optimieren Fondsmanager ihr Immobilien-Portefeuille, indem sie ganze Pflegeheim-Ketten von einer Gesellschaft in die andere umhängen. Hat es der alte Eigentümer nicht geschafft, die nötige Verzinsung heraus zu peitschen, dann wird es der neue Eigentümer versuchen. Selbst wenn Todesfälle geschehen, wird sich der Fondsmanager so verhalten wie der „Prügler“ in Kafkas Roman „Der Prozess“. Die Frage nach der Schuld wird er nicht stellen. Anstatt dessen wird er die Schuld weiterreichen in die Organisation, hinter der sich ein nebulöser Apparat versteckt. Seine einzige menschliche Regung wird er zeigen, indem er die Augen verschließt.

Sonntag, 1. Februar 2015

Bouvier und Carthaus

Bouvier hat im Juli 2012 geschlossen
Es war wie in der Alltours-Werbung: „Ich möchte meinen Weltuntergang heute um 18 Uhr bestellen“. Aber während sich bei Alltours alles zum Guten wendete, weil mit „Weltuntergang“ ein genialer Sonnenuntergang über dem Meer an einem sonnenüberfluteten Urlaubsort gemeint war, wendeten sich im Frühjahr 2012 beim Gang durch die Bonner Fußgängerzone die Dinge zum Bösen. Ohne Vorwarnung. Hatte ich noch in der Woche zuvor in der Buchhandlung „Bouvier“ nach Abiturhilfen für unsere große Tochter geschaut, traf mich kurz danach der Schriftzug „Wir schließen“ im Schaufenster wie ein Schlag. Dass sich Bouvier gleichzeitig für die jahrelange Treue bedankte, zog meine Stimmung noch weiter herunter, denn die Universitätsbuchhandlung konnte auf eine stolze 185-jährige Geschichte zurück blicken.

Bouvier war Familienerlebnis und prägte unsere Familiengeschichte. In meinem Studium deckte ich mich mit BWL-Fachbüchern ein. Sorgfältig wählten wir Bilderbücher aus, als unsere großen Kinder noch klein waren. Die kompletten Bände von Harry Potter hielten Einzug in unsere Familienbibliothek. Mit Wanderkarten von Bouvier bereitete ich Wanderungen vor, mit Reiseführern Urlaubsreisen. Nun sollte Bouvier unserer Großen durch das Abitur helfen. Und dann das Aus. Bouvier war bereits 2004 von der Thalia-Kette aufgekauft worden, Bouvier erwirtschaftete Verluste, Thalia wuchs mit einer neuen Buchhandlung in die gigantischen Größenordnungen des früheren Metropol-Theaters.

Räumung und Schließung vollzogen sich im Sommer 2012 wie ein Akt der Bürokratie. Abtransport, die Lichter gingen aus, die Hoffnung war gestorben, die Dankesworte an treue Kunden versperrten die Schaufenster wie eine Wand.

Carthaus schließt zum 30. Juni
Die Schließung von Bouvier traf mitten ins Herz der Fußgängerzone. Bonn blutete, was das Schmökern in Büchern betraf. Die neue Thalia-Buchhandlung wuchs in größenwahnsinnige Dimensionen, Bücher stapelten sich regelrecht. Der schmökernde Buchleser konnte sich zwar in einem eigenen Café-Bereich ausbreiten, es fehlte aber an Ecken, Nischen, Strukturen, übersichtlichen Themenbereichen, die voneinander abgegrenzt waren, so dass der Leser auf engerem Raum in diese unterschiedlichen Bereiche eintauchen konnte. Kleinere Buchhandlungen kapitulierten in der Fußgängerzone und schlossen früher oder später.

Nun schließt in der Fußgängerzone ein anderes Traditionsgeschäft zum 30. Juni 2015, das Bürobedarf verkauft. Die 160-jährige Firmengeschichte begann damit, dass Joseph Franz Carthaus 1852 eine Druckerei, einen Telefonbuchverlag und Geschäft für Bürobedarf gründete. Die Druckerei schrieb Geschichte, als sie 1875 das Bonner Tageblatt druckte, aus dem der spätere „General-Anzeiger“ entstand. 1948 druckte die Druckerei die Erstfassung des Grundgesetzes, danach waren Bundesministerien die Hauptauftraggeber. Mit dem Umzug vieler Bundesministerien nach Berlin wanderte die Druckerei nach Berlin.

So wie Bouvier, begleitete Carthaus unser Familienleben. Wir deckten uns mit Buntstiften für Kindergeburtstage ein, Carthaus prägte mit seinen Schulranzen die Einschulungen unserer Kinder. Für feierliche Anlässe wie die Kinderkommunion besorgten wir Danksagungskarten. Zuletzt hatte ich einen Füller für unser kleines Mädchen beschafft, damit sie ihren Füllerführerschein machen konnte. Carthaus half mit seinen Taschenrechnern meiner Ehefrau, dass sie sich auf ihrer Abendschule durch Potenzfunktionen oder Exponentialfunktionen durchkämpfen konnte.

Bouvier und Carthaus, das sind Beispiele dafür, dass Einzelhandelsgeschäfte mit treuen Kunden, kompetenter Beratung und einem breiten Warenangebot von einem Moment auf den anderen von der Bildfläche verschwinden.

Ladenlokal von Bouvier zur Vermietung
So manches ist daran der Online-Handel schuld. Shoppen auf der heimischen Couch verspricht Wachstumsmärkte sondergleichen, das freut sicherlich www.amazon.de, www.bol.de, www.kidoh.de und wie sie alle heißen. Zum Leidwesen von Buchläden und Geschäften für Bürobedarf, deren Waren austauschbar sind über ISBN-Nummern oder DIN-Normen. Der Kunde hat nur bedingt einen Bedarf, beraten werden zu wollen zu Kaufentscheidungen über Bücher oder Bürobedarf. Das Interesse am Buch hat ohnehin abgenommen. Die Aufmerksamkeit wird weniger beansprucht, wenn das Wissen aus Fernsehsendungen bezogen wird als aus Büchern – oder auch aus Wikipedia. Der Bedarf an Bürobedarf ist gesunken, weil Dokumente über Rechner und Laptop papierlos archiviert werden.

Man könnte die These aufstellen, dass Fußgängerzonen dazu bestimmt sind, sich aufzulösen. So manche Käuferscharen verlagern sich auf die grüne Wiese, wo Einkaufszentren mit kostenlosen Parkplätzen locken. Das ist eigentlich nicht neu, genauso wie dass Gartenmärkte, Baumärkte, Möbelhäuser, dessen Sortimente immer breiter werden, eine echte Konkurrenz sind, weil sie ihre eigene Erlebniswelt entwickeln.

Mit Bouvier und Cathaus dreht sich die Fußgängerzone am Beispiel Bonns in einer Abwärtsspirale. Pleitekandidaten verschwinden, andere Pleitekandidaten wie Karstadt warten. Cafés mit Stil und Atmosphäre verschwinden, anstatt dessen breiten sich Billig-Back-Ketten aus, wo man eng zusammen gequetscht in einem Nebenraum einen Kaffee trinken kann. Wenn ich durch die Fußgängerzone gehe, fühle ich mich erdrückt von Modeläden. Shops mit Smartphones sprießen wie Unkraut aus dem Boden. Die Vielfalt hat abgenommen, wenngleich das historische Umfeld dagegenhält. Käufer fühlen sich bisweilen abgestoßen von Einkaufszentren aus der Retorte, an denen alles neu und modern und künstlich ist.

Ich denke, dass ich mich noch geruhsam zurücklehnen kann. Immerhin kann die Bonner Fußgängerzone unverwechselbare Alleinstellungsmerkmale aufbieten. Die Weiten des Münsterplatzes mit dem Blick auf die romanische Kirchenkunst. Shoppen vor dem Beethoven-Denkmal. Mit vollbepackten Einkaufstüten am Rathaus vorbei flanieren, im Rücken das Denkmal von Kurfürst Max Friedrich. In Reichweite Abstecher vom Hofgarten und zum Alten Zoll. Es werden allenfalls Fußgängerzonen in kleineren oder mittelgroßen Städten sein, die sich auflösen und veröden.