Freitag, 2. November 2012

Jean-Paul Sartre - Der Ekel


Zielloses Herumstreunen in Kneipen. Langeweile, Neugierde und Aufbruchstimmung trieben mich aus meiner Single-Wohnung heraus. Doch jedes Mal, wenn ich die Kneipenszene rund um die Kölner Universität aufsuchte, stumpfte deren Einfallsreichtum ab. Die Gesichter an der Theke waren austauschbar. Die Verbindungen, die ich knüpfte, waren kurzweilig und verschwammen in der Unbeständigkeit des Augenblicks. Ich wechselte in die nächste Kneipe. Oder in die Altstadt. Bis mich die Ziellosigkeit in meine Single-Wohnung zurück trieb.

Sartre’s Roman „Der Ekel“ beschreibt den Historiker Roquentin, der eine Biografie schreibt. Ebenso ziellos streift er durch die Kleinstadt Bouville und verbringt einen nicht unerheblichen Teil seiner Zeit in Cafés.

1938 geschrieben, ist der Roman „Der Ekel“ eines der frühen Werke Sartres (1905-1980). Im Gegensatz zu seinem Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“ (Original „l’être et le néant), stellt die Form des Romans eher die Ausnahme dar; der überwiegende Teil seines Werks sind philosophische Schriften.

Anders wie bei mir, als ich in Köln auf der Suche nach Kontakten war, sind Aufbruchstimmung und Ziellosigkeit bei Roquentin Dauerzustand. Dadurch ist der Roman schwerfällig zu lesen. Roquentin recherchiert in der Bibliothek für seine Biografie und streift, um sich abzulenken, durch Cafés. Seinen Mitmenschen steht er gleichgültig gegenüber, ja, er ist sogar eine Art Misantrop und sieht nur das Schlechte an seinen Mitmenschen. Er begegnet in den Cafés Spinnern, Besserwissern, Aufreißer von Frauen, Mitläufern. Menschen, denen ihre Mitmenschen gleichgültig sind, Menschen, die sich gegenseitig anschweigen. Menschen mit Vorurteilen, Fehlurteilen und kleinbürgerlichen Ansichten. Er empfindet Ekel gegenüber diesen Menschen. Er will diesen Ekel überwinden, indem er die Gründe untersucht.

Dabei klingen die Formulierungen, wie er seine Mitmenschen beschreibt, bisweilen merkwürdig:
„Jetzt ist der Regen da: er schlägt leicht gegen die Milchglasscheiben; wenn auf den Straßen noch verkleidete Kinder sind, wird er ihre Pappmasken aufweichen oder verschmieren …“
Oder:
„Der Aufseher kam auf uns zu: ein Mann mit dem Schnurrbart eines Tambourmajors. Er spazierte stundenlang zwischen den Tischen umher und knallte mit den Absätzen. Im Winter spuckte er ins Taschentuch, das er anschließend im Ofen trocknen ließ.“

Bei mir hatten sich irgendwann zwischenmenschliche Anknüpfungspunkte aufgebaut. Interaktion und Kommunikation begannen zu fließen, wenngleich sehr langsam. Später war das Herumstreunen nicht mehr ziellos, und Szenekneipen oder Cafés haben mich dauerhaft inspiriert.

Sartre ist aber kein Netzwerker, sondern Philosoph. Angeekelt, findet sich Roquentin an einem Punkt wieder, wo er inmitten all seiner gleichgültigen Mitmenschen seine eigene Existenz hinterfragt. Sich anlehnend an Descartes, erforscht er sein Inneres: ich denke also bin ich (cogito ergo sum). Zurückgeworfen auf sein eigenes Ich, muss Roquentin sich positionieren, sich selbst definieren.

Dieser Existenzialismus, mit dem Sartre ein Durchbruch gelungen ist, liest sich in dem Roman genauso schwerfällig. So sinniert Roquentin eine gefühlte Ewigkeit lang vor sich her, wie seine eigene Existenz zu beschreiben ist:
„… die Existenz ist wabbelig und rollt und schwankt, ich schwanke zwischen den Häusern, ich bin, ich existiere, ich denke, also schwanke ich, ich bin, die Existenz ist ein gefallener Sturz, wird nicht fallen, wird fallen, der Finger kratzt an der Luke, die Existenz ist eine Unvollkommenheit. Der Herr. Der schöne Herr existiert. Der Herr fühlt, dass er existiert … „
Usw.

Roquentin ist also auf Dauersuche nach seiner eigenen Existenz. Das hört sich widersprüchlich an, aber gerade dies hat mich an dem Roman fasziniert. Sartre schickt seine Romanfigur in diese Dauersuche hinein. Roquentins Lebensinhalt ist, ein Biografie zu schreiben (was eigentlich ein Ziel ist). Roquentin definiert sich ständig neu und sucht einen Neubeginn. Seine erste Erkenntnis ist, dass er keine historische Biografie schreiben will, sondern einen Roman. Dazu will er nach Paris umziehen. Zwischendurch trifft er sein Ex-Geliebte wieder, in die er sich hoffnungslos neu verliebt. Sie reist aber nach einigen Tag ab nach New York. Über den gesamten Roman hinweg endet die Dauersuche nach der eigenen Existenz darin, dass Roquentin vieles verwirft, sich ständig neu definiert und nichts von dem erreicht, was er sich vorgenommen hat. Und die Grundstimmung des Ekels ist nicht verschwunden.

Bezogen auf meinen eigenen Blog, denke ich bei Roquentin an den Post über Lieven Deflandre. Lieven Deflandre hatte eine pessimistische Grundhaltung gegenüber Politik, Staat, Gesellschaft, Alltag. Beziehungen zu seinen Mitmenschen pflegte er über soziale Netzwerke. In seinen Posts beschreibt er die Leere der Cafés in Gent, wo er gelebt hat, und wie ihn die Menschen in den Cafés abgestoßen haben.

Bei dieser Grundhaltung, wie Menschen wegsehen, wie in der Informationsflut Lebensziele abhanden kommen, wie in den Nachrichten nur über Negatives berichtet wird, wird dieser Menschentyp eines Roquentin mitten unter uns sein.

1 Kommentar:

  1. Scheint ein interessanter Roman gewesen zu seinmein Lieber. Viele dieser Typen wie Roquentin leben unter uns, wir erkennen sie meist erst auf den zweiten Blick.

    Liebe Abendgrüße
    Angelika

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