Donnerstag, 24. April 2014

Formlos (8) - 2 Stunden 8 Minuten

Wir trafen uns in einer Örtlichkeit, die man gemeinhin als Eckkneipe bezeichnete. Das Rennen „Rund um Köln“ war gelaufen, über die Hauptstraße von Köln-Kalk, an der niedrigen und klein geduckten Kalker Kapelle vorbei, wann war ich jemals in Köln-Kalk ? An einer großen Kreuzung links, dann rechts, ich verlor mich im Nirgendwo des Stadtteils Köln-Höhenberg, wo mich die Straßennamen „Saalfeld“, „Erfurt“ oder „Weimar“ weit weg in den Osten unserer Republik versetzten.

Ich war ausgepowert, ich schleifte ich meine Tritte auf meinem Rennrad vorwärts, mühsam, angestrengt, willenlos, in Schweiß gebadet, und selbstsicher flatterte meine Rückennummer 2805 im Fahrtwind. Die Fahrt zu der Eckkneipe war so etwas wie mein persönlicher Triumphzug, eine elektrisierende Mischung aus Glück und Erschöpfung, denn mit 2 Stunden 8 Minuten hatte ich noch nie so schnell die 69 km von „Rund um Köln“ bezwungen.

Gerne hatte ich das Angebot angenommen, in diesem Jahr im Team an „Rund um Köln“ teilzunehmen. Einzelfahrer können sich zu einem Team zusammentun, und ein anderer Rennradler, der auf derselben Straße wie ich wohnt, hatte mich angesprochen, bei einem Team mit sechs Fahrern mitzumachen. „Lose Speiche“ hieß das Team, der Name ließ eine schlechte Rennradtauglichkeit vermuten, doch dem war nicht so. Ich habe noch nicht ergründen können, wer diesen seltsamen Namen erfunden hatte.

Das „Weimarer Stübchen“, die besagte Eckkneipe, in der wir „Lose-Speiche“-Fahrer „Rund um Köln“ ausklingen und Revue passieren ließen, war umgeben voller Mietskasernen. Es waren aber nicht diese tristen, grauen, kalten und strukturlosen Mietswohnungen, die ich sonst mit Armut und sozialem Wohnungsbau verband. Die Gemeinnützige AG für Wohnungsbau hatte die vierstöckigen Mietsklötze mit einem satten, zartgelben Anstrich heraus geputzt. Gediegen, alt und als hübsches Zierelement umschloß eine Klinkerfassade die Erdgeschosse.

Dirk, Martin, Frank, Mario, Andreas und meine Person: Hanno hatte bereits seinen Nachhauseweg angetreten, wir übrigen sechs waren im „Weimarer Stübchen“ angelangt, das Assoziationen an die neuen Bundesländer hervorrief, genauer gesagt, am Schnittpunkt von Kösener Weg und Weimarer Straße.

Was es bedeutete, im Team mitzufahren, weckte in mir eine mentale Revolution. Ein Plakat „Hopp Hopp Lose Speiche“ begrüßte uns, es gab ein richtiges Fotoshooting, aus uns wurde eine Art von Helden. Wie die Fußball-Weltmeister 1954 kamen wir uns im Kleinen vor, Jubel und Applaus empfingen uns. Der Wirt Bernie, ein eingewanderter Hanseat aus Hamburg, ließ es sich nicht nehmen, uns ein Faß Kölsch zu spendieren. Gulaschsuppe wurde serviert, wir konnten uns stärken, und zuvor hatte ich es genossen, mich auf der Toilette frisch zu machen und mich meiner vor Schweiß triefenden Rennradbekleidung zu entledigen. Lässig, meine Beine in den Jeans pendelnd, genoß ich es, mein Gesäß auf einem stink-normalen Stuhl in Sitzstellung bringen zu dürfen, nach der knüppelharten Aufsitzerei über viele Stunden hinweg auf wenigen Quadratzentimetern Fahrradsattel. Meine vier Buchstaben breiteten sich in eine ungeahnte Freiheit aus, meine Beine konnte ich in die Länge dehnen. Von diesem Nullpunkt aus konnte mein Körper wieder neu aufblühen.

Wir debattierten, philosophierten, resümierten und kamen alle zu dem gleichen Ergebnis, als die Rennergebnisse auf unseren Smartphones bekannt gegeben wurden. Wir hatten uns verbessert. Allesamt waren wir bessere Zeiten als im Vorjahr gefahren. Dirk war Spitzenreiter und hatte in 1 Stunde 47 Minuten das Ziel erreicht. Fünf Fahrer waren schneller als die magische Zeit von zwei Stunden, ich war langsamer und hatte 2 Stunden 8 Minuten gebraucht. Die steilen Anstiege in Kürten, Bergisch Gladbach und Bensberg waren wir locker hinauf gestiegen, und das letzte gerade und ebene Stück bis Köln hatten wir noch einmal mächtig aufgedreht und das Optimum aus uns heraus geholt.

Allesamt hatten wir mit unserem Sportsgeist Meisterleistungen vollbracht. Als das Kölsch floß und der Durst gelöscht war, stellte ich fest, dass ich in einer Gruppe neue Horizonte entdecken konnte. In einer Welt voller Blogs und Facebook, war mir diese Welt mit persönlichem Kontakt zuletzt abhanden gekommen. Das war nichts virtuelles, denn meine Mitstreiter saßen körperlich da. Blogs und Facebook wuchsen in einem luftleeren Raum, sie kamen und gingen, pusteten sich wie eine Blase auf und zerplatzten, wenn man danach tastete. In unserem Team spürte ich nun eine Substanz, dieses Event gemeinsam erlebt zu haben. Dieser Moment war monumental, dauerhaft und nachhaltig.

Die 2 Stunden 8 Minuten werde ich noch lange in meinem Herzen tragen. Das Erlebnis in der Gruppe stärkt. Egal, welche Masse von Fotos im Internet, Facebook & Co gepostet werden.

p.S.:
da ich keinerlei Aktivitäten mehr erkennen kann, wird dies mein letzter Post unter der Rubrik „Formlos“ sein; sicherlich wird es weitere Texte geben, die lebendige Augenblicke beschreiben; ich werde sie dann aber nicht mehr unter der Überschrift „Formlos“ plazieren

10 Kommentare:

  1. Oh ich bewundere dich für deine Leistung , für deine Energie! Ich selber bin ja eher die faule Socke -lach-
    2 Stunden 8 Minuten die dir immer in Erinnerung bleiben werden, mein tiefster Respekt!
    Ganz lieben Gruß, Michaela

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  2. Auch von meiner Seite kommt Applaus!
    Herzlichen Glückwunsch zu dieser Leistung!
    LG Martina

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  3. Als ich Ausschnitte davon in den Nachrichten gesehen habe, habe ich an dich gedacht Dieter, bravo und Applaus zu dieser tollen Leistung.

    Liebe Grüße
    Angelika

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  4. Ich gratuliere dir auch. Ich habe im Fernsehen einen
    Ausschnitt gesehen und muss sagen: Alle Achtung.
    Wieder ein toller Bericht-
    Einen schönen Abend wünscht dir
    Irmi

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  5. Also auch wenn ich supergerne blogge, viele nette Menschen schon kennenlernen durfte und Freunde gemacht habe - nichts geht über ein reales Leben das doch noch lebendiger ist.

    Meine anderen Profile bei Face, Google und Co verwaisen richtig. Irgendwie kann ich nicht wirklich damit etwas anfangen, denn chatten kann ich auch auf anderem Weg.

    Am Montag habe ich dir übrigens die Daumen gedrückt und ich finde es klasse dass du dich entschlossen hast in einem Team zu fahren. Hört sich auch nach viel Spaß an und genau so soll es sein. Gratuliere dir auch für deine Leistung, das mit dem Hut kennst du ja schon von mir.

    Herzliche Abendgrüssle

    N☼va

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  6. Hallo Dieter,
    erst einmal meinen Glückwunsch zu dieser Leistung. Teamgeist ist etwas Wunderbares und die bessere Leistung, denke ich, ist auch auf diese Gemeinsamkeit zurückzuführen.
    Was Du über die virtuelle Welt schreibst, dem stimme ich voll zu. Es kann Bekanntschaften oder Freundschaften in der Realität niemals ersetzen, höchstens, im besten Fall, dazu führen. Blogs, Foren etc sind interessant, aber niemals Ersatz für das reale Leben.

    Gruß
    Beate

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  7. Hallo Dieter,
    was für eine Wahnsinnszeit! Herzlichen Glückwunsch! Das ist wirklich was, auf du richtig stolz sein kannst!
    LG Calendula

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  8. Na dann, Chapeau!

    Gut gemacht, und ganz sicher ist die Freude ueber diese Leistung umso staerker, weil sie in einer Gruppe mit Mitstreitern erreicht wurde.

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  9. Tja, ich erinnere mich noch allzu gut - lang lang ist's her ...dann bleib Du mal schön wacker dabei! Viel Spaß, W.

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  10. Glückwunsch! Schon alleine für die Teilnahme. Zu mehreren Gleichgesinnten macht es doch immer viel mehr Spaß als alleine. Sich austauschen danach gehört mit dazu.
    Was den sozialen Wohnungsbau anbetrifft: die städtischen Baugesellschaften hier in Köln tun viel für die Modernisierung und Verschönerung der Siedlungen, die sie verwalten. Gut, dass es sie gibt!
    LG, Franka

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