Montag, 27. Januar 2014

Paragraphen

Piet Klokke, der Kabarettist, antwortete in einem Radio-Talk auf die Frage, welches die größte Leistung seines Lebens gewesen sei: die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 vollständig rezitieren zu können. Das war in seiner Abiturprüfung, in der das Fach Geschichte sein absoluter Schwachpunkt war. Er hatte auf Lücke gelernt, und er hatte Glück, dass das Gelernte zum Abiturthema wurde. Er bestand mit Bravour. Was für Piet Klokke die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, das waren in meinem Studium die Rechtswissenschaften. Zwei Leistungsscheine musste ich im Grundstudium schaffen, und seitdem es Paragraphen gibt, stehe ich mit ihnen auf Kriegsfuß. Nicht mit Bravour, sondern mit Ach und Krach (und wahrscheinlich jede Menge Glück) bestand ich. Zweimal 4,0 ließen mich in einen Himmel höchster Gefühle schweben.

Bis heute ist mir diese juristische Denkweise verquer. Mein Verstand sperrt sich dagegen, in Gesetzen und Paragraphen herum zu suchen, was wie wo für welche Sachverhalte geregelt ist. Ich betrachte Gesetzesvorschriften als künstlich aufgeblähte Konstrukte, in wirrem und kompliziertem Deutsch, gekünstelte Wortblasen, wie niemand auf der Straße redet. Bandwurmsätze wollen nicht enden, Verweise auf andere Paragraphen führen einen in die Irre.

Wieso ich mich mit Recht und Gesetz befasse ? Meinem Interesse zuwiderlaufend, habe ich eine gewisse Dominanz von Prozessen und Gerichtsentscheidungen in unserer Tagespresse festgestellt. Bundesweit beschäftigt unser Justizapparat rund 150.000 Menschen, das ist nicht wenig. Dass Menschen ihre Streitereien und Zankereien vor Gericht austragen müssen, dadurch erhält ein Heer von Rechtsanwälten ihre Existenzberechtigung.

Zuletzt haben mich drei Gerichtsverfahren in unserer Tageszeitung ins Grübeln gebracht:

Fall 1:
Ein Ehepaar hatte ihre Nachbarn auf Unterlassung verklagt, weil deren behinderte Tochter zu viel Lärm machte. Eine Stunde lang morgens und vier Stunden abends, brüllte sie, schlug, schimpfte, fluchte, bevor bzw. nachdem sie in der Behindertenwerkstatt gewesen war.


Fall 2:
Anwohner hatten gegen einen geplanten Bahntrassenradweg geklagt, weil sie feuchte Keller befürchteten (Asphaltweg liegt höher als die Keller) sowie ihre Intimsphäre bedroht sahen (Radler können in Gärten hinein sehen).


Fall 3:
Bei der Eröffnung einer Sportsbar kam es zu einem Gerangel unter Fotografen. So als ob Paparazzis dem britischen Königspaar hinter her jagen würden, wollten Fotografen den besten Platz erhaschen. In diesem Gerangele verpasste ein Fotograf einem anderen einen Faustschlag. Vor Gericht wollte der geschlagene Fotograf Schadensersatzansprüche wegen Körperverletzung geltend machen.

Ich habe den virtuellen Ausflug in die Gerichtskanzleien gewagt. Im Internet habe ich in den Themen gestöbert, für was sich Menschen, die voll bei Verstand sind, vor Gericht herum streiten und herum zanken. Ich bin amüsiert und entsetzt zugleich. Den Alltag von Richtern und Rechtspflegern stelle ich mir jedenfalls nicht langweilig vor.

Es findet sich manches Kurioses unter den Gerichtsurteilen. „Wer in Afrika mit einer Banane herum läuft, dem kann es passieren, dass er von einem Affen gebissen wird“  so urteilte das Amtsgericht Köln zu einem Urlaub in Kenia. Ein Urlauber hatte eine Banane aus dem Frühstücksraum mitgenommen, um sie tagsüber zu verzehren. Auf dem Weg zum Hotelzimmer tauchte ein Affe auf, krallte sich die Banane und biß dem Urlauber in den Finger, weil er die Banane nicht hergeben wollte. Es ist nicht unüblich, dass in Afrika Affen frei herum laufen, mit dieser Begründung wies das Amtsgericht die Klage auf Schmerzensgeld gegen den Reiseveranstalter ab.

„Straßenfeste müssen nicht zwingend von Sicherheitsdiensten überwacht werden“, das befand das Amtsgericht Oldenburg. Als beim „Störtebecker Straßenfest“ eine Rock’n’Roll-Band spielte, stellte ein besoffener Gast zwei Biergläser auf die Lautsprecher. Als ein Mitglied der Band ihn aufforderte, die beiden Biergläser dort wegzustellen, schmiss der Gast ihm die beiden Biergläser ins Gesicht. Der Musiker wollte Schmerzensgeld gegen den Veranstalter des Straßenfestes geltend machen (und nicht gegen den Gast). Der Veranstalter muss weder für eine massive Polizeipräsenz sorgen, noch Sicherheitsdienste engagieren, das sagte das Gericht, so dass der Gast für den Schaden blechen muss und nicht der Veranstalter.

Das Amtsgericht Bonn hatte die Ehre, sich mit Katzen beschäftigen zu dürfen. Im Kleingedruckten des Mietvertrages stand, dass Haustiere mit Zustimmung des Vermieters gehalten werden dürfen. Mieterin und Vermieter redeten aber nie miteinander, bis der Vermieter nach anderthalb Jahren erstmalig in der Wohnung Mieterin samt Katze erblickte. Er bestand auf Beseitigung der Katze. Doch der Richter hatte ein Einsehen mit der Welt der Vierbeiner und die Katze durfte bleiben, weil der Vermieter sie anderthalb Jahre geduldet hatte.

Sogar der Kölner Karneval war Gegenstand von Gerichtsstreitigkeiten. Einem Besucher des Rosenmontagszuges wurde ein Schokoriegel ins Gesicht geworfen, worauf er Schmerzensgeld forderte. Der Kläger muss ein extremer Ignorant gewesen sein, denn das Amtsgericht Köln bügelte ihn schnell ab, dass das Werfen von Süßigkeiten beim Rosenmontagszug üblich, erwartbar und eine Jahrhunderte alte Tradition ist. Im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches stellen Kamelle keine Gefahrenquelle dar.

Recht und Gesetz sind ungefähr so alt wie die Menschheit selbst. Schon das römische Recht regelte Eigentum, Besitz und Bürgerrechte. Wesentlich später, nach der französischen Revolution, kamen im wesentlichen Freiheits- und Grundrechte dazu. Damit betrunkene Autofahrer bestraft werden, damit wir nicht alle gleichzeitig bei Rot über die Ampel fahren, damit uns Verkäufer nicht irgendwelchen Schrott andrehen, dazu brauchen wir Recht und Gesetz. Viele Streitigkeiten, die vor Gericht ausgetragen werden, haben im Kern sicherlich ihre Berechtigung.

Doch in einigen Fällen, die ich oben beschrieben habe, reagieren Menschen gereizt, als wolle man ihnen Böses. „Kniesbüggel“, so beschreibt man diesen Menschentyp auf Kölsch, der stets schlecht gelaunt ist. In einer Abwehrhaltung will er seine Umwelt von sich wegschieben, er ist leicht gekränkt und eingeschnappt.

Der Gang zum Rechtsanwalt ist dann gleichzeitig ein Gang zum Psychologen. Rechtsanwälte nehmen dann die Kommunikation auf, zu der ihr Klient nicht fähig ist. Das ist bequem, wobei der Streit auf die rein formale Ebene von Paragraphen gehoben wird. Rechtsanwälte können sich dann in diesen aufgeblähten Konstrukten von Gesetzen und Gerichtsentscheidungen bewegen, die kein normal Sterblicher versteht. Dahinter kann sich solch ein „Kniesbüggel“ verstecken. Er wird sogar aufgewertet, weil er sich solch einen Experten für diese höherwertige juristische Materie leisten kann.

Bisweilen wird er zusammenschrumpfen wie ein Uli Hoeness bei seiner Steuerhinterziehungs-Affäre. Er wird jegliche Kommunikation einstellen, er wird aufhören zu reden. Sofern er zurück schlägt, überläßt er das seinen Anwälten. Sofern diese Menschen eine Machtposition innehaben, sind das wahrlich unangenehme Zeitgenossen.

10 Kommentare:

  1. Lieber Dieter,
    ich weiß ja nicht, ob da nicht vielleicht auch schon ein bisserl die amerikanischen Sitten rüberschwappen. Manchmal denke ich mir selbst, in den USA wäre das und das jetzt eine Millionenklage. Z.B. als ich mir die Zunge an einem siedend heißen "Coffee-to-go" verbrannte, aber keine Warnung auf dem Pappbecher stand. Oder als ich mir im dänischen Legoland den Kopf an einer zu tief hängenden Lampe stieß. Ich habe zu der Sache ein zwiespältiges Verhältnis, denn einerseits sollten z.B. Veranstaltungsorte meiner Meinung nach schon möglichst sicher sein für Besucher und Akteure - aber andererseits: Wenn eine Frau in den USA eine Mikrowellenfirma mit Erfolg verklagen kann, weil in der Gebrauchsanleitung des Gerätes nicht drinnen stand, dass man da keine lebenden Tiere zur Felltrocknung hineinsetzen soll (wie sie es mit ihrem Chihuahua offenbar getan hatte, den sie früher immer auf niedriger Stufe im offenen Backrohr wärmte) ... ja, dann leistet man der menschlichen Verblödung doch ziemlichen Vorschub. Ein bisserl Eigenverantwortung und "selber denken" sollte schon drin sein...
    Offenbar gab es jedoch "schon immer" seltsame Gerichtsfälle. In einer österreichischen Tageszeitung gibt es und gab es schon in meiner Kindheit eine Kolumne "Das heitere Bezirksgericht" - da wurden reale Gerichtsfälle in etwas überspitzter Form und wienerischem Dialekt wiedergegeben, und die waren auch häufig ganz schön kurios...
    Apropos Wiener Dialekt - was bei euch „Kniesbüggel“ heißt, wird bei uns "Zwiderwurzn" genannt ;o))
    Ich wünsch dir und deinen Lieben eine wunderschöne neue Woche!
    Alles Liebe, Traude
    ♛ ♥ ♬ ♛ ♥ ♬ ♛ ♥ ♬ ♛ ♥ ♬ ♛ ♥ ♬

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  2. Jaja. Der "Mensch an sich" schiebt halt die Schuld gerne anderen in die Schuhe. Sich mit dem eigenen Verhalten auseinanderzusetzen und Verantwortung selbst zu übernehmen, liegt nicht allen.
    Und dazu kommt wahrscheinlich auch, dass ein Rechtsstreit für gewünschte Aufregung im Leben sorgt.
    Die Richter sind wirklich nicht zu beneiden. Zumal sie durch die Bearbeitung von solchen Fällen davon abgehalten werden, wirklich "richtenswürdiges" so zeitnah zu verhandeln, dass eine eventuelle Strafe noch mit der Tat in Zusammenhang gebracht werden kann ...

    Herzliche Grüße
    Brigitta

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  3. Ich bin auch der Meinung wie Brigitta Wullenweber. Böse sind immer die Anderen. Auch habe ich gelesen, dass sich sogar verurteilte Mörder noch im Gefängnis für gute Menschen - u. z.T. sogar für unschuldig - halten sollen.
    Zusätzlich bin ich der Meinung, dass unser Rechtssystem zunehmend missbraucht wird. - so wie eigentl alles missbraucht wird, sobald mensch mal genau hinsieht...
    wieczoramatische Grüße, (◔‿◔) | Mein Fotoblog

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  4. Dazu passt, was ich gerade in der Zeitung gelesen habe: 14 Zivilkammern des Kölner Gerichts haben sich alleine mit der Porno-Abmahnwelle der jüngsten Zeit beschäftigt und durch wenig sorgfältige Untersuchung sicherlich viele Kontroversen im familiären Umfeld hervorgerufen....
    LG
    Astrid

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  5. Das ist es wirklich: es gibt keine andere Sprache (außer eben Deutsch), bei der eine sogenannte Amtssprache existiert, die so völlig von der gesprochenen Sprache abweicht.
    DAS muss man als Volk erst einmal hinkriegen... :-)
    LG Calendula

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  6. Hallo Dieter,
    ein interessanter Artikel und es wird wohl keinen "vernünftigen" Bürger geben, der hier widerspricht!
    Die meisten "Kläger" vergessen, dass sie von einem Gericht nur ein Urteil, nicht aber Gerechtigkeit erwarten dürfen.

    In der heutigen Zeit wird leider nicht mehr miteinander kommuniziert, man lässt reden, streiten, urteilen. Ich finde das so bedauerlich.

    Mein (persönlich) hässlichstes Beispiel gefällig?
    Es soll Leute geben, die in Urlaub fahren. Nicht nur mit normal gepackten Koffern, sondern komplett ausgestattet mit allem, was zur Fehlersuche, Mängel, Beschwerde - Untermauerung dienen kann.Ich sage dann immer nur "die spinnen, die Menschen" ;-)

    Prinzipiell ist es natülich begrüßenswert, dass der Einzelne heute mehr Rechte zugesprochen bekommt. Aber es sollte sich eben doch immer im Gleichgewicht halten. Und dieses "normale Rechtsempfinden" ist bedauerlicherweise von einer Klageorgie gefressen worden.

    Einen angenehmen Dienstag und liebe Grüße
    moni

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  7. Halllo Dieter,

    Recht haben und Recht bekommen ist ja nicht dasselbe in unserem Rechtsstaat. Das kenne ich leider auch aus eigener Erfahrung. :-(
    Schmunzeln musste ich über die Banane/Affe Geschichte. Sollen die Leute doch zuhause bleiben und sich nicht in "Gefahr" begeben. Wer zum Karnevalszug geht um Klümpchen zu sammeln, darf sich nicht wundern, wenn er selbiges an den Kopf bekommt. Schuldfrage? Wenn er so blöd ist, seinen Kopf genau dahin zu halten, wo das Klümpchen hinfliegt ... :-)

    Amüsierte Grüße,
    Vera

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  8. Wen ich deine Beispiele so lese..und viele weitere gibt es ja genug, man muss nur die Zeitungen aufschlagen, dann würd ich mir Richter wünschen, die mit solch unsinnigen Klagen kurzen Prozeß machen. Ganz kurzen. Vielleicht mit einem Anruf. Der kann aufgezeichnet werden und wird dann nur noch abgespielt. Klage abgelehnt, machen sie sich lieber auf die Suche nach ihrem gesunden Menschenverstand.
    Klasse Text, lieber Dieter.
    Gruß vonner Grete

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  9. Zugrunde liegt wohl die Haltung: Soll doch die Stadt/der Staat/der Veranstalter für xyz sorgen. Es fehlt das Gefühl für die Eigenverantwortlichkeit und dafür, dass wir alle Bürger sind und für unsere Umwelt mitverantwortlich. Ganz schlimm finde ich auch, wenn Menschen Gerichte bemühen, um mitmenschliche Probleme klären zu lassen, die sich eigentlich auf diesem Wege nicht wirklich klären lassen.
    Übrigens: 'Kniesbüggel' kenne ich nur als 'Geizhals'
    LG, Franka

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  10. Ein toller Post Dieter.
    Ich verstehe auch viele Klagen nicht. Wenn Mensch nur etwas toleranter wäre und vor allem reden würde, müssten viele Prozesse gar nicht geführt werden. Aber in der heutigen Zeit der Ich-Menschen bleibt das wohl ein Traum und ich fürchte, das wird mit der Zeit auch nur noch schlimmer werden.

    Langweilig wird es in den Berufen, die sich mit den Klagen rumschlagen müssen, auf jeden Fall nicht.

    Grüße Frauke

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