Dienstag, 4. Juni 2013

das Netz

Der Auszug rückte näher, und das war gut so. Die Wohnung, die sie sechs Monate bewohnt hatte, hatte sie gedanklich bereits abgehakt. Obschon der Mietvertrag erst in drei Tagen endete, wollte sie nur noch weg von diesem Ort der Kontrolle und Willkür. Sie weigerte sich, Erinnerungen aufleben zu lassen, wie die sechs Monate verlaufen waren. Die letzten Kleinigkeiten abholen, ihr Freund hatte gestrichen und renoviert. Ihr Auto kurvte durch die Vorstadtsiedlung, die mit den Platanenreihen merkwürdig hübsch aussah. Der Kinderwagen schiebenden jungen Mutter auf dem Gehsteig schenkte sie keine Beachtung. Es war widersinnig. Lieber in einer eintönigen Mietskaserne wohnen als in dieser Vorstadt, wo zwischen den Einfamilienhäusern ausreichend Platz war. Lieber Wohnung neben Wohnung eng zusammengequetscht wohnen als hier auf lauter sauber heraus geputzte Vorgärten zu schauen.

Sie parkte in einer Seitenstraße. Die prallen Blüten von Rhododendron-Büschen wucherten über einen Jägerzaun. Sie roch die dezente Frische von gemähtem Rasen, dessen Farbe von einem hellen zu einem beschwingten Grünton wechselte.

Herein, Umzugskiste befüllen, heraus, möglichst schnell diesen unseligen Ort wieder verlassen, mehr wollte sie nicht. Sie traute ihren Augen nicht, als sie von der Straße aus zu dem rostrot verklinkerten Einfamilienhaus hinauf schaute. Über dem Balkon ihrer sechzig Quadratmeter großen Noch-Mietwohnung erkannte sie schemenhaft einen Vorhang. Was war los ? Über die Pflastersteine, die zur Haustüre gelangten, trat sie näher heran. Es war keine optische Täuschung. Jemand hatte tatsächlich über der Brüstung ihres Balkons eine Art Netz gehangen, das so aussah wie das Mittelnetz auf einem Tennisplatz. An den Seitenwänden und an der Decke befestigt, blähte sich das Netz sogar auf wie ein Tornetz beim Fußball, wenn der Wind hinein pustete.

Sie rätselte, staunte, wie sich menschliche Verhaltensweisen verirren konnten. Sie schritt über die Haustüre, Flur, Diele und Treppenaufgang zu ihrer Noch-Mietwohnung.

„Was machen Sie hier ?“
Schnauzte der Vermieter, als müsse sie zu einem Appell wie bei der Bundeswehr antreten.

Ihre Blicke kreuzten sich. Es war ohnehin gleichgültig, wie sie gekleidet war, wie sie sich gab, welches Mienenspiel sie zeigte oder wie sie auf die blasse Tapete starrte. Sie lieferte ihm stets einen Grund, sich aufzuregen. Seine eng zusammenliegenden Pupillen spuckten Gift. Er warf ihr vernichtende Blicke zu, als hätte er sie auf den Mond oder sonst wo hin gewünscht, wo er sie niemals wieder sehen würde.

Die sympathische Mieterin, die sie anfangs für ihn war, hatte sich mit ihrem Einzug in ein Feindbild verwandelt. Seine Schwiegermutter war genügsam. Zahlungsfähig, fester Job, einfach, unkompliziert, so hatten er und seine Frau sie als Nachmieterin für die Einliegerwohnung ausgewählt, nachdem seine Schwiegermutter gestorben war. Die Probleme begannen nach ihrem Einzug. Seine Frau machte Diät, und sie mochte es nicht, wenn Gerüche aus der Küche nach außen drangen. Daher mussten die Fenster beim Kochen geschlossen bleiben. Er kannte keine Geräusche mitten in der Nacht. Schlagartig wurde er wach und er hatte es notiert: regelmäßig morgens – die früheste Zeit war 5.26 Uhr – hörte er die Toilettenspülung (weil sie wegen ihrer Arbeit so früh aufstehen musste).

Für sie war dies der Horror der Kontrolle. Um 5.26 Uhr morgens durfte sie keine Toilettenspülung betätigen. Sie durfte nur bei geschlossenem Fenster kochen. Ihren Freund musste sie anweisen, geräuschlos zu kommen und genauso geräuschlos abends die Wohnung zu verlassen, ohne dass nur ein Muckser im Flur zu hören waren. Mehrere Freunde einzuladen, war schlichtweg undenkbar.

„Was wollen sie in ihrer Wohnung ?“
Bei seiner drahtigen, cholerischen, aufbrausenden, unruhigen Erscheinung hätte er sie am liebsten mit einer Handbewegung weggewischt.

„Ich wohne hier noch. Erst in drei Tagen sind Sie mich als Mieter los. Dann können Sie machen was sie wollen.“

Sie drehte den Schlüssel der Wohnungstür um, betrat die Wohnung, schleifte den Umzugskarton als lästiges Anhängsel hinein, ignorierte ihren Vermieter, der an ihr zu kleben nicht aufhörte.

Sie steuerte auf die Irrungen und Wirrungen menschlicher Verhaltensweisen, zu denen sie eine Erklärung suchte. Vergeblich, wie sich herausstellen sollte. Dissonanzen, würde man in der Musik sagen. Sie schritt auf den Balkon. Welche Bedeutung, welchen Sinn hatte das Netz ?

Der Balkon kam ihr verschleiert vor wie eine muslimische Frau, die ihre sonnige und aufreizende Seite nicht zeigen durfte und alles anstatt dessen in Verhüllung und Schleier verbergen musste.

„Und ?“
Sie zeigte auf das Netz und schüttelte den Kopf. Beide standen auf dem Balkon. Einem Tennisnetz, wie man es auf jedem Tennisplatz in Deutschland sah, war dieses Netz verblüffend ähnlich. Sie rang nach Deutung. Tornetz oder Tennisnetz, als kriegte sie keinerlei Verbindung hin zu einem Wohnen in Ruhe und Frieden, wie es eigentlich jeder Mensch anstrebte.

„Kreuz und quer stehen Ihre Pflanzen auf dem Balkon. Da ist keinerlei Ordnung erkennbar. Das kann ich niemandem zumuten. Ihre Pflanzen sollten schnellstmöglich verschwinden. Mit dem Netz habe ich es geschaftt, dieses Chaos zu verbergen.“

Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Solche Abgründe menschlicher Verhaltensweise hätte sie niemals für möglich gehalten. Als sie ihre letzten Hebseligkeiten in die Umzugskiste gepackt hatte, betrat sie niemals mehr diesen Ort. Leergeräumt, scherte sich niemand um die Übergabe. Das war schon beinahe ein Wunder, dass er mit seinem nörgelnden Charakter hätte bestimmt Mängel entdeckt

13 Kommentare:

  1. Bin ganz erstaunt ;-) Denke mal dass du diese Kurzgeschichte geschrieben hast...richtig?

    Danke dir jedenfalls dafür, so habe ich zuerst mal meine Musik im Hintergrund ausgemacht und mich ihr ganz gewidmet. Hast du klasse geschrieben, also mir hat sie gefallen und ich hatte Bilder vor Augen, also es hat sich sogleich mit lesen ein Film abgespielt.


    Die Handlung selbst, so könnte ich es mir zumindest vorstellen, dürfte sich so einige Male schon in der Realität genau so abgespielt habe, und bei so einem Vermieter würde ich ebenfalls lieber wegziehen.

    Nochmals ein Dank an dich und hab einen schönen Tag

    Herzliche Grüssle

    Nova

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  2. Lieber Dieter,
    Der erste Satz bringt es auf den Punkt, der Auszug rückte näher, und das war gut so. Wenn man die Geschichte gelesen hat, kommt man wieder zum Anfang zurück.
    Das ist "Leben live", so ist die Reaalität. Ich würd mal sagen Spießertum pur.
    Hast Du superklasse geschrieben!
    LG Marita

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  3. Hallo Dieter, die Geschichte kann sich genau so einige Male schon abgespielt haben.
    Hast Du gut geschrieben.

    Liebe Grüße
    Angelika

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  4. Dieter, diese Geschichte spielt sich in dieser oder leicht abgewandeltet Form
    immer wieder ab. Sie macht nachdenklich und man fragt sich: Warum tun Menschen
    das einander an?
    Einen sonnigen Tag wünscht
    Irmi

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  5. Hallo Dieter,
    da hast du ja ein Thema beschrieben. Ich wundere mich auch manchmal über Vermieter, die gerne teures Geld für ihre Wohnung kassieren, in der man aber möglichst nicht leben darf. Sollen sie sie dann lieber leer stehen lassen. Erinnerte mich darüber hinaus einen einen Bericht den ich vor Jahren mal sah (als ich noch einen Fernseher besaß)von einer jungen Frau, die nur zu bestimmten Zeiten duschen gehn durfte was sich auch nicht mit ihrer Schichtarbeit vertrug.
    Oder aber man lebt mit einer Diva im Haus. Alles richtig gruslig.

    Viele, liebe Grüße und einen entspannten, schönen Tag für dich und deine Familie!
    N.

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  6. Dem label nach, lieber Dieter, also eine geschichte von Dir, die wirklich gut ist; doch habe ich sie mit beklemmung gelesen. Ja, solche vermieter gibt es, habe es vor jahren als familie mit 3 kindern erfahren, sogar die "toilettenbenutzungs-zeiten" wurden kommentiert. Doch mit 3 kleinen kindern zieht man nicht so schnell aus, außerdem mit "dem makel, kinder" bekam man so leicht auch keine andere wohnung...
    DANKE, Du hast mir unbewußt gezeigt, wie gut ich es jetzt habe ;)

    Bine

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  7. tolle geschichte dieter. aber niemand sollte das erleben......dennoch gibt es wahrscheinlich noch viel schlimmere geschichten. ich hoffe du und deine familie fühlt euch wohl!
    LG

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  8. Eine wahre Geschichte... während meiner Studentenzeit leider so ähnlich auch erlebt! Es war unglaublich!
    LG Calendula

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  9. Oh mein Gott, was für ein Horror !
    Ich hoffe, es handelt sich hier nicht zufällig um deine Tochter ?

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  10. Na, da war wohl eine Mietminderung um 3 Tagessätze fällig, was bei den heutigen Mieten immerhin "etwas" sein dürfte. hehe Deine Geschichte ist sehr gut geschrieben, Dieter! Liest sich bestens! - mit einem Lachenden und einem weinendem Auge. Ich kann mir vorstellen, dass sie sich vlt. manchesmal hilflos gefühlt hat, so einem alten Choleriker ggüber. "Lieber in einer eintönigen Mietskaserne..." Diesen Gedanken kenne ich aus dem Vorstadtleben, wo ich selbst die schönsten Blumen i-wann nicht mehr leiden konnte. Schlimm, wenn man bei eigentlich schönen Dingen wie Garten, Vorgarten, Häuschen nur noch an Schlimmes denken kann. Aber in diesem Fall würde ich eher sagen: Das Schreckliche ist, bei fremden Leuten wohnen zu müssen, und dann auch noch so dicht.
    wieczoramatische Grüße zum Wochenteiler, (◔‿◔) | Mein Fotoblog

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  11. Eine Geschichte, wie das Leben sie spielt und viele werden sie wohl schon erlebt haben.
    Manche Vermieter sind wirklich dreist. Sicherlich sind im Zusammenleben manche Regelungen sinnvoll, aber man kann es auch übertreiben.


    Liebe Grüße
    Christa

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  12. ich finde du hast die Geschichte wieder sehr gut geschrieben - ich konnte mich in die Mieterin richtig reinversetzen. Klasse!

    lieber Gruß von Heidi-Trollspecht

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  13. Deine Fähigkeit, sich in die Gefühle anderer Leute zu versetzen und diese zu beschreiben, macht es leicht nachzuvollziehen, wie es dieser Frau ergeht.
    Meine Frage: miterlebt, selbst erdacht oder gelesen, wie auch immer, ein Stück Zwischenmenschlichkeit ausgezeichnet beschrieben, wie im wahren Leben. Toll!

    Gruß
    Beate

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