Donnerstag, 27. September 2012

Beerdigung


Die Besprechung hatte sich um vierzig Minuten in die Länge gezogen. Ich flitzte mit dem Peugeot Rennrad nach Hause. Waschen, umziehen. Frau und Kind einsammeln, losfahren, kein Stau auf der Autobahn. Das war bis auf die Minute ausgezirkelt. Punkt halb drei, als die Glocke schlug, betraten wir die Kirche.

Das Orgelspiel setzte wie Hammerschläge ein. Die Schar der Trauernden war groß, und wir mussten weit nach vorne, bis wir in einer Seitenbank freie Plätze fanden.

Mein Onkel H. war im Alter von 72 Jahren verstorben.
„Wir alle trauern mit seiner hinterbliebenen Ehefrau, seiner Familie und seinen Angehörigen. Er war ein geschätzter Ehemann und Vater. Seine Familie hatte er über alles geliebt. Seine eigenen Bedürfnisse untergeordnet. Seine Familie wird ihm für immer dankbar sein, welch schönes Haus er selbst gebaut hat … „ würdigte die Pastorin den Verstorbenen.

Onkel H. hatte seit etwa drei Jahren an Sklerose gelitten. Muskeln und Körperbewegungen hatten zunehmend ihren Dienst verweigert. Seit einem Jahr hatte er im Rollstuhl gesessen. Zuletzt hatte ich in beim Geburtstag meines Bruders im März gesehen. Weil er in seinem Rollstuhl zu schwer war, waren wir nicht in der Lage gewesen, ihn auf unsere Terrasse zu tragen. Daher hatten wir uns zu ihm hinter dem Treppenaufgang gesellt. Seine Gliedmaßen regten sich zäh und vorsichtig. Trotzdem hatte er ein fröhliches Gesicht gemacht, er hatte uns angelächelt. Sonst war er eher ein trockener und korrekter Menschentyp, aber in diesem Moment war er mir locker und wie eine rheinische Frohnatur vorgekommen.   

Zuletzt war Onkel H. ein Pflegefall, und meine Tante und meine Cousine mussten sich rund um die Uhr um ihn kümmern. Niemand wird dem Tod seine Tragik nehmen können. Aber in seinem Fall war es vielleicht eine Art Erlösung von seinem Leiden.

Bis auf den Chorraum, der sich mächtig empor reckte, war die Kirche schlicht und einfach. Sie war neugotischen Ursprungs, um 1900 gebaut. Die hohen Kirchenfenster waren schnörkellos, und geschwungene Striche deuteten Verzierungen an. Der Boden war in einem kreisförmigen Muster gekachelt. Ich habe jede Menge schönere Kirchen gesehen, doch mit dieser Kirche in meinem Heimatort verbinden mich die meisten tragenden Erinnerungen. Als Messdiener und Vorbeter. Und als Relikt aus einer grauen Vorzeit, als die Kirche im Dorf noch so etwas wie Hörigkeit oder Autorität verkörperte.

Nach der Messe begaben sich die Trauenden vor die Kirche. Die Lippen blieben stumm, und den Weg zum Friedhof legten alle wortkarg zurück. Langsam schlurften die Schritte vorwärts. Vor der Friedhofsmauer erspähte ich das Grab meiner Großeltern, von dem ich nicht mehr wusste, wann ich es das letzte Mal besucht hatte (1975 und 1987 waren die Großeltern gestorben). Vor dem eisernen Gitter des Friedhofs erwartete uns der Leichenwagen mit Onkel H.’s Urne.

Spätestens, als ich den Leichenwagen sah, wusste ich nicht, wie ich mich fühlen sollte. Sonst vermied ich Bedrückung oder schwermütige Gedanken. Nun war mir die Gelassenheit abhanden gekommen. Ich tat mich schwer, meinen Seelenzustand auf einem ausgeglichenen Niveau zu halten.

Für meine Tante, meinen Cousin mit Frau und Sohn, für meine Cousine mit ihrem Mann, war das schlimm. Natürlich auch für die übrigen Anverwandten. Gemessenen Schrittes wandelte die Trauergemeinschaft zum Grab. Ein Wind pustete, der schon an die Stürme des Herbstes erinnerte. Die Sonne spinste zwischen daher brausenden Wolkenfetzen hindurch. Hinter dem Friedhof erstreckten sich die Weiten des Niederrheins. Felder rollten vom Ortsrand weg. Grenzenlos konnten Wirtschaftswege in Felder und Mischwald hinein stoßen. Sie zogen Radfahrer und Spaziergänger gleichermaßen an, wodurch sich die Ruhe der wohl geformten Landschaft noch verstärkte.

Die Urne wanderte ins Grab, das von Kränzen und Blumen umgeben war, die vor lauter Farben nur so strotzten.

„Von Erde bist du gekommen, zu Erde sollst du werden. Wir aber hoffen auf unseren Herrn Jesus Christus, der da spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich der wird nimmermehr sterben.“ 
sprach die Pastorin, warf einen Krumen Erde ins Grab und überließ dieses den Trauernden.

Allen voran meine Tante, nahmen sie Abschied, wobei jede Masse Tränen flossen. Kurze Zeit später, auf dem rot geschotterten Weg, drückte ich Tante, Cousin, Cousine nebst Ehefrau und Sohn und Ehemann ganz fest. Ich empfand eine bedrückende Ohnmacht vor dem Schicksal und konnte meine eigenen Tränen nicht vollständig zurückhalten. Aber ich war froh, mit einem großen Teil meiner Familie dabei zu sein und unsere gemeinsame Anteilnahme zu zeigen. Während viele Trauergäste noch wie angewurzelt da standen, entspannte sich in manchen Gesichtern die Situation. Es kam mir vor wie bei einem Gewitter, bei dem die dunkle Zelle mit Blitz und Donner über einem hinweggezogen war, aber es regnete noch kräftig und in der Ferne zeigte sich blauer Himmel.

Zum Kaffee. Die Trauergemeinschaft schlenderte zur Gaststätte im Sportlerheim. Es war vorbei. Die Verkrampfung lockerte sich. Die ersten Gesichter hatten sich aufgehellt. Memento mori. Die einzige Gewissheit im Leben eines Menschen ist der Tod. Alpha und Omega. Werden und Vergehen. Nicht erst jetzt, begriff ich das Leben als ständig wiederkehrenden und sinnstiftenden Kreislauf.

11 Kommentare:

  1. Lieber Rainer
    Es ist immer schwer einen lieben Menschen zu verlieren, mein aufrichtiges Beileid. Doch der Tod gehört zu Leben dazu und die menschen gehen, doch ihre Liebe und Erinnerungen bleiben in unseren Herzen.

    Ich ganz persönlich gehe nur zu Beerdigungen im allerengsten Familienkreis, ich kann mein Gefühlsgleichgewicht schlecht in diesen Situationen kontrollieren und mir kullern die Tränen.

    Erholt Euch und macht Euch einen gemütlichen Abend
    liebe Grüße
    Angelika

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  2. Traurig und auch gleichzeitig eine Erlösung, auch wenn sich sowas vielleicht hart anhört.

    Ich kann nur immer wieder sagen dass ich von der Welt gehen möchte wie mein Vater -umfallen-Herzinfakt und tot.

    War zwar schwer für uns (ich war gerade 13) aber ich war dabei und sehe noch immer die glücklichen, blauen Augen von ihm.

    RIP H. und mein Beileid an euch alle

    liebe Grüsse

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  3. Hej Dieter,

    Der Tod, für Viele ein schwieriges Thema, wird allzu oft als Thema ausgegrenzt. Ich hatte es zugegebener Maßen lange schwer damit. Selbst durch "tiefe Täler" gewandert, empfand ich mich eines Tages ausgesöhnt damit. Seitdem kann ich erleichtert leben.

    Mit herzlichem Gruß
    Beate

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  4. ♡liches Beileid!
    Beerdigungen finde ich immer sehr schwer zu bewältigen. Die Tradition ist entstanden oder wird aufrecht erhalten, weil es den Hinterbliebenen helfen soll, das Erlebnis/ den Abschied gemeinsam anzugehen. Davon habe ich bisher noch nie etwas gemerkt. Bei meinen verstorbenen Angehörigen wäre ich lieber allein mit dem Abschied geblieben und auf die Beerdigung von Leuten zu gehen, die mir wenig nahe standen, traue ich mich i-wie nicht .Bei uns ist am 18. eine unfreiwillig öffentliche Person aus der Armutszene gestorben - ebenfalls an den Rollstuhl gebunden. Sie verkaufte eine unserer drei Straßenzeitungen und ich kannte sie nur aus kurzen Gesprächen an ihrem Stammplatz. Daher wäre ich eher nicht hingegangen, aber die Beerdigung finde eh mitten am Tag statt.
    Kopf hoch, ihr als Familie schafft das.
    Gruß Wieczorama (◔‿◔) | Mein Fotoblog

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  5. Herzliches Beileid dir und deine Familie,
    es ist immer ein schwerer Gang und mit den Gefühlen um zu gehen, mit seinem ableben von meinem Ehemann war es meine Kinder auch mir ziemlich schlimm noch heute wird gesprochen darüber nach 5 Jahren.
    Im Herzen wird er immer lebendig sein dein Onkel!
    Lieben Gruss Elke

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  6. Deine Zeilen über diese Beerdigung hast Du sehr gut formuliert und ich kann die Gefühle die dich und auch deine Angehörigen und die Anghehörigen des geliebten Toten bewegen sehr gut erkennen.
    Der Tod gehört zum Leben dazu, genau so wie die Geburt eines Menschen.
    Schlimm finde ich nur, dass mancher so viel leiden muss und nicht mehr aktiv am Leben teilhaben kann. Natürlich ist es schön, wenn die Familie sich um einen alten Menschen kümmert, wenn er selbst nicht mehr kann, aber es ist auch eine Belastung für die anderen. Aber auch die Kinder muss man bemuttern, weil sie eben noch nicht so richtig können und so schließt sich der Kreis vom Kommen zum Gehen.
    Wichtig ist, dass man sich ab und zu an den Toten erinnert, dann ist alles ok.
    Liebe Grüße Ulrike

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  7. Lieber Dieter, zunächst einmal herzliches Beileid an dich und die anderen Verwandten. Mein Großvater litt (auch) viele Jahre lang an Multipler Sklerose, verbrachte die letzten Jahre seines Lebens im Rollstuhl und im Wasserbett und starb mit 63. (Ich war damals noch sehr klein und habe ihn leider nie bewußt kennengelernt; er soll sehr lieb, klug und humorvoll gewesen sein.) Ein trauriges Schicksal, das von meinem Opa und offenbar auch von deinem Onkel tapfer ertragen wurde. Das letzte Begräbnis, an dem ich teilgenommen habe, war das meines Vaters im Jahr 2007; er war fast 83 geworden, hatte ein erfülltes Leben gehabt und so gestorben, wie er es sich gewünscht hatte: ohne langes Leiden, einfach den Kopf sinken lassen und alles ist vorbei. Wenn es sich schaffen lässt, mache ich ihm das nach, aber erst mit 93. Und auch die Trauerfeier fand ich gut, zunächst ein Rückblick auf sein mit viel Humor, Lebensfreude und Familiensinn gelebtes Leben, dann ein Sänger, der Frank Sinatras "I did it my way" sang, natürlich Tränen, die dazugehören und geweint werden müssen (immer wieder, bis der Verlustschmerz oder die Melancholie nachlassen), und nach der offiziellen Trauerfeier mit Familie und Freunden in ein nettes Lokal gehen und nochmal alles Revue passieren lassen, diesmal mit viel Spaß bei der Erinnerung an diesen Mann, der mein Vater war... Seine Urne ist jetzt übrigens in meinem Gemüsegarten begraben, wie er es sich gewünscht hat (er sagte in unserem Garten immer: "Da hinten werde ich einmal liegen. Ich gehöre neben den Komposthaufen, ich bin ja kein Grufti, sondern ein Komposti." ;o))
    Der Tod gehört zum Leben. Auch wenn es manchmal schwer zu akzeptieren ist und verdammt weh tut.
    Ganz liebe rostrosige Traudegrüße!
    ✿ܓܓ✿ܓ✿ܓ✿ ♥♥♥♥ ܓܓ✿ܓ✿ܓ
    PS: Danke für deine immer so lieben Zeilen zu menen Collagen. Ja, ich mache viele Einzelfotos, aber das fällt mir unheimlich leicht. Fotografieren macht mir einfach so viel Spaß! Es fiele mir ungleich schwerer, nur WENIGE Fotos zu machen ;o)) Wenn du genau schaust, fällt dir bei meinen Katzencollagen aber vermutlich auf, dass ich zwei oder drei Fotos doppelt verwendet habe... Ich hoffe immer noch darauf, dass du deine Collagen mal in deinen Blog stellst :o)

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  8. für mich ist jedes Sterben - jeder Tod eines lieben Menschen auch eine Auseinandersetzung mit meiner eigenen Endlichkeit.

    Mit Begräbnissen habe ich so meine Probleme. Weniger wegen dem Begräbnis an sich, sondern dem Umstand, dass man sich an Formen anpassen muss (sollte) die nicht unbedingt den eigenen Gefühlen entsprechen.

    Mir gefällt der Spruch von Khalil Gibran

    "Möglicherweise ist ein Begräbnis unter Menschen ein
    Hochzeitsfest unter Engeln"

    lieber Gruß von Heidi-Trollspecht


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  9. Mein aufrichtiges Beileid, Dieter, dir und der ganzen Familie.
    An einer Beerdigung teilzunehmen, ist immer ein sehr schwerer Gang, zumindest empfinde ich es so, aber wir werden geboren, um auch wieder von dieser Bühne zu gehen.
    Dein Onkel war sehr krank, ein Pflegefall, vielleicht war der Gang in ein anderes Leben für ihn jetzt wirklich eine Erlösung, für die Hinterbliebenen ist dies immer mit großem Schmerz verbunden. Die Zeit wird Wunden heilen und in euren Herzen wird Onkel Heiner immer weiterleben.

    Liebe Grüße
    Christa

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  10. das ende, auch wenn es in vielen fällen eine erlösung ist, schafft die grösste traurigkeit in einem menschen. wie gut wenn liebe menschen an der seite hat,um die trauerarbeit zu bewältigen.
    ich grüsse dich

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  11. Mein aufrichtiges Beileid an alle Angehörigen Dieter.
    Du hast es zuletzt auf den Punkt gebracht. Ein ewiger Kreislauf, dem sich niemand entziehen kann. Man verdrängt eigentlich den Gedanken an den Tod täglich und wenn man bei einer Beerdigung sich damit dann plötzlich auseinandersetzen muss, ist es plötzlich wie das beschriebene Unwetter was plötzlich über einen hereinbricht und man fühlt sich hilflos. Man sollte sich eigentlich viel öfter bewusst mit dem Thema auseinandersetzen ... vielleicht im Glauben oder auf eine ganz andere Art und Weise. Jeder wie er es möchte.

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