Sonntag, 11. Mai 2014

Servatius-Kapelle

Kapelle auf der Waldlichtung
Ich musste genau hinsehen, denn schon zweimal hatte ich die kritische Stelle übersehen. Bewußt bin ich auf der Suche nach unbekannten Flecken im Rheinland, deren hohe Anzahl mir dauerhaft beweist, wie wenig ich meine eigene Heimat kenne. Aus dem Rheintal habe ich mich von Bad Honnef  aus hoch gearbeitet. Langgestreckt ist der Schwung, mit dem die Kurve ausholt. Diesmal folgt mein Rennrad nicht dem Knick der Kurve, sondern an dem Wanderparkplatz mache ich eine Kehrtwendung, eine Stichstraße steigt durch dichten Wald mächtig an, die Vision einer Lichtung umreißt ihr Ende. Unberührtheit und Abgeschiedenheit breiten sich auf einer Wiese jenseits von Bad Honnef aus. Die Servatius-Kapelle beeindruckt mit ihrem zartgelben Anstrich.

Die Frage bohrt sich in mir fest, wieso dieser Heilige, der einhundertfünfzig Kilometer westlich in den Niederlanden in Maastricht begraben ist, ins Rheinland gekommen ist. Auf der Lichtung strahlt die Servatius-Kapelle eine ausgewogene Harmonie aus. Tannen und Ahorn rahmen den schmalen Baukörper ein. Das Tageslicht fließt durch die kleinen, zusammen gepressten Rundbogenfenster hindurch.

Grabkammer in Maastricht
Ein unendlich große Lücke klafft. Die Jahreszahl 1755 über dem schmalen, vergitterten Fenster liegt um Größenordnungen von derjenigen Jahreszahl entfernt, die sich vor seinem Grab befindet. Virtuell reise ich von Bad Honnef nach Maastricht in den Niederlanden. In Kellergewölben, hinter einer verschlossenen Eisentüre, ruht der Heilige Servatius in der Krypta der gleichnamigen Kirche. Sein Grab ziert die Aufschrift „Sepulture de St. Servais 384“. Dabei leuchtet die Jahreszahl 384 magisch in mir auf, denn diese Jahreszahl fällt in die römische Antike. Zu dieser Zeit bröselte das römische Reich weg, durchdrungen von wilden Germanen, aber satte eintausendfünfhundert Jahre liegen zwischen diesen beschaulichen Stätten in Maastricht und Bad Honnef. Bad Honnef ist kein Einzelfall: weitere Kirchen in unserer Nähe in Siegburg, Bonn-Friesdorf, Bornheim, Hennef-Winterscheid und Köln-Ostheim tragen den Namen dieses Heiligen aus den Niederlanden.

Die Wege, wie Heilige importiert und exportiert wurden, sind undurchdringlich bis verworren, zumal ein offzielles Verfahren zur Heiligsprechung durch den Papst erstmals 990 belegt ist. Heilige sind Leitbilder, haben Vorbildfunktion und verkörpern eine Richtschnur menschlichen Handelns. Damals wurden sie so verehrt wie heutzutage Helden, Stars und Idole. Heilige mussten ein Leben voller heroischer Tugend gelebt haben oder Wunder gewirkt haben. Märtyrer, Bischöfe, Mönche, Gelehrte, allgemein: Menschen, die jede Menge Gutes getan hatten, konnten heilig gesprochen werden. Jede Stadt, jede Region, jedes Land bekam ihre Heiligen. Um ihre Vielzahl zu überschauen, muss man sortieren. Wichtig oder unwichtig, lokal, regional oder im gesamten Christentum kursierend; dabei wäre der Heilige Servatius in die mittlere Kategorie einzusortieren, denn seine Existenz beschränkt sich auf  die Niederlande, Belgien und Deutschland. Heilige als Exportgut. Das gilt vor allem für die Apostel, die Evangelisten oder Märtyrer aus der Zeit der Christenverfolgung im römischen Reich.

Die Geschichte des Heiligen Servatius ist schnell erzählt. Als sich das Christentum im römischen Reich gefestigt hatte, wurden die größeren römischen Städte zu Bischofssitzen, darunter auch Tongeren im heutigen Belgien. Als Bischof von Tongeren reiste Servatius nach Rom, wo ihm in einer Vision vorhergesagt wurde, dass die Stadt Tongeren durch plündernde Hunnen zerstört wurde. Servatius reiste zurück, warnte die Einwohner von Tongeren, verlegte den Bischofssitz nach Maastricht, das dann von den plündernden Hunnen verschont wurde.

Eingang mit der Jahreszahl 1755
Die Erbauer der Servatius-Kapelle in Bad Honnef haben sich wohl gedacht, dass doppelt besser hält, denn ich finde den Heiligen gleich zweimal, das erste Mal als Skulptur in einer Mauernische, das zweite Mal im neugotischen Altar. Das Innere der Kapelle ist ausgewogen, nicht überladen, schlicht und einfach hübsch. Ich spüre, wie ich zur Ruhe komme. Ein Ort der inneren Einkehr. Ebenso ein Ort der Inspiration, wo ich stillstehe und gleichzeitig Ideen und Gedanken in einer solchen Fülle entstehen, dass ich sie nicht festhalten kann.

Die Jahreszahl 1755 über dem Eingang markiert einen Wendepunkt, denn sie war nach ihrer Zerstörung neu aufgebaut worden.

„In schwerer Zeit um 1755
Wurde ich durch emsigen Fleiß erbaut
Manch Pilger hier auf St. Servatius Hilf vertraut
Nun schlug der Krieg mir tiefe Wunden
Doch treue Helfer haben sich gefunden
Die in der Not zu helfen sind bereit
Hast Du ein Scherflein für zu spenden
Soll Dank und Segen Dir der Himmel senden.“

So formuliert eine hölzerne Tafel im Inneren die höfliche Bitte. Doch welcher Krieg ist gemeint ? Manches bleibt Spekulation. Kriege, die das Rheinland verwüstet haben, liegen weit weg. 1714 war der spanische Erbfolgekrieg zu Ende gegangen, Napoleonische Truppen fielen erst 1795 im Rheinland ein.

Auf der Waldlichtung verhüllt sich die Servatius-Kapelle in Schweigen, denn sie verbirgt ihr tatsächliches Alter. Zurück blickend, wurde die Servatius-Kapelle 1670 erstmals in den Chroniken eines Franz Xaver Trips erwähnt. Die Pest hatte im Rheinland gewütet, und die Menschen wollten der Seuche begegnen, indem sie beteten und Gott herauf beschworen. Christen aus Bad Honnef und Aegidienberg, die eine Christengemeinde im Rheintal und die andere auf den Höhen des Siebengebirges, taten sich zusammen und riefen eine Prozession zur Servatius-Kapelle ins Leben. Wie alt die Servatius-Kapelle wirklich ist, weiß indes niemand, da Quellen vor 1670 fehlen. Darüber darf nun spekuliert werden. Eine Spekulation nennt ein Datum um 1550, da erstmals in den Quellen eine Grenzmarkierung zwischen den Löwenburger Herren und Hunferode (heute Bad Honnef) genannt werden. Die Stelle der Grenzmarkierung könnte mit der Servatius-Kapelle übereinstimmen.

Skulptur des Heiligen Servatius
Wenn ich zurück rechne, ist die Zeitdifferenz von eintausendeinhundert Jahren riesig, dass Servatius in Maastricht begraben worden ist und im Siebengebirge diese Kapelle gebaut worden ist. Heilige werden kopiert, exportiert, importiert, globalisiert. Dazwischen hängt der mittelniederländische Dichter Heinrich von Veldeke, der um 1150 geboren wurde. Dichtkunst gab es seit der Antike, und in der frühhöfischen Epik haben Dichter im Mittelalter das Leben ihrer Helden dargestellt. Heinrich von Veldeke war fasziniert vom Heiligen Servatius, er schrieb, dichtete, erzählte seine Lebensgeschichte rauf und runter, stilisierte ihn als Helden.

Nun  geschah erstaunliches innerhalb der engen Grenzen des mittelalterlichen Europas, denn es muss Verbindungen von der mittelniederländischen Dichtkunst nach Bayern gegeben haben, denn 1169 erschien die Legende des Heiligen Servatius in den Schriften des Otto von Wittelsbach – der gehörte dem bayrischen Adel an. Fortan wurden Kirchen in Bayern dem Heiligen Servatius geweiht. Wechselwirkungen zwischen Fürstentümern und Staaten entstanden im Mittelalter mit einem Zeitversatz von Jahrhunderten. Der Heligen Servatius wanderte von den Niederlanden nach Bayern und dann ins Rheinland, was auf die merkwürdige Konstellation zurückzuführen ist, dass die Bayern im Rheinland zweihundert Jahre lang das Sagen hatten.

Das hing wiederum mit der Reformation zusammen. Als der Kölner Erzbischof Truchseß von Waldberg drohte zum Protestanten zu konvertieren, riefen die Kölner Kurfürsten 1583 bayrische Truppen zu Hilfe, die den Kölner Erzbischof vertrieben und einen Bischof aus dem Hause Wittelsbach einzusetzen. Das erklärt zum Teil eine gewisse Häufung von Kirchen im Rheinland, die dem Heiligen Servatius geweiht sind, wenngleich es auch Kirchen gibt, deren Erbauungsdatum – wie die Servatiuskirche in Siegburg – nicht in die Epoche der Wittelsbacher im Rheinland fällt.

Innenraum der Kapelle
Die Geißel der Pest ist längst ausgerottet, aber dennoch haben sich die Prozessionen bis ins 21. Jahrhundert gehalten. So ziehen, nicht anders als vor vierhundert Jahren, Gläubige aus Bad Honnef und Aegidienberg am 13. Mai gemeinsam zur Servatiuskapelle. Alljährlich. Heilige sind flexibel und passen sich den Bedürfnissen der Gläubigen an. Der 13. Mai ist gleichzeitig sein Todesdatum, der Heilige Servatius ist einer der Eisheiligen. Was damals die Pest, sind heute Frostschäden, Hagelschlag, Rheumatismus oder Fieber. Heilige sind dehnbar geworden, damit sie den Zeitgeist nicht verpassen.  So vertreibt der Heilige Servatius Mäuse und Ratten, er ist Patron der Schlosser und Tischler, er hilft Fußkranken, er wirkt Depressionen entgegen.

Vor der Ausgangstüre der Servatius-Kapelle kann ich nachlesen, dass Servatius zum Allzweck-Heiligen geworden ist. Auch heute sehnen die Menschen die Wunderkräfte von Heiligen herbei. Die Besucher der Kapelle können ihre Gedanken in einem Buch niederschreiben.

Eine Frau K. aus Haan bei Düsseldorf hat ins Siebengebirge gefunden. Sie hat mehrere Kerzen angezündet, damit der Heilige Servatius Wünsche und Träume erfüllen möge. Servatius soll helfen, dass N. ihre Krankheit überwindet. J. und K. soll er auf ihren schweren Weg ins Berufsleben begleiten. M. soll er Konzentration, Wissen und Gelassenheit auf den Weg geben, damit er seine ADR-Schein-Prüfung besteht. K. selbst steckt schlimm in der Klemme, denn sie hat Schulden, sucht einen Arbeitsplatz, aber nicht irgendeinen, sondern einen, der ihr Freude bereitet. Was ich lese, stimmt mich seltsam optimistisch. Mit K. stimme ich überein, dass die Servatius-Kapelle ein einzigartiger Fleck ist. K. bedankt sich bei L., „dass sie sie zu diesem wundervollen Ort begleitet hat“.

Ruhe und Abgeschiedenheit haben mich voll gepumpt mit Eindrücken. Sie tragen mich nach vorne. Ich verlasse mit meinem Rennrad die Waldlichtung, münde auf der langgestreckten Kurve ein und strebe weiter auf die Höhen des Siebengebirges, nach Aegidienberg.

2 Kommentare:

  1. Lieber Dieter,
    du hast dir wieder viel Arbeit gemacht, um uns die
    Kapelle nahezubringen. Danke dafür.
    Einen guten Start in die neue Woche wünscht Dir
    Irmi

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  2. Ich kann mich Irmi nur anschließen.
    Beeindruckend, was du schreibst.
    Danke dafür! LG Martina

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