Mittwoch, 28. Mai 2014

Agnostizismus

Im Gerichtssaal kam es zum Eklat.

Regungslos sackte Murat K. in seinem Stuhl zusammen und krallte sich in seiner gefütterten Winterjacke fest. Seine Finger zupften an dem buschigen Bart, der in seinem Gesicht wie Unkraut wucherte, als der Richter das Urteil verlas. Die Revision wurde abgelehnt. Murat K., rechtskräftig verurteilt, das war im Oktober 2012, einem Polizisten hatte er mit einem Küchenmesser in den Oberschenkel gestochen, als dieser sich dem prügelnden Mob aus ProNRW und Salafisten entgegen stellte. Dann stieg der Zorn in ihm auf, sein Gesicht wurde feuerrot, er schmetterte den Richtern seinen Hass entgegen, so wie bei seiner Verurteilung vor anderthalb Jahren. ProNRW habe Mohammed-Karikaturen gezeigt, dies beleidige alle Moslems, Recht und Gesetz würden dieses Unrecht decken, die Polizei hätte bestraft werden müssen. Hass und Feindschaft würden gesät, wenn die Verantwortlichen nicht die Regeln des Islams annehmen würden. Schließlich packte er ein Grundgesetz, schleuderte es auf den Boden und trat mit den Füßen darauf herum.

So wie andere abends durch die Fernsehprogramme zappen, von Soap-Opera zu Dokumentation, von Krimi zu Quiz-Shows, von politischen Sendungen zu Reisereportagen, so zappe ich gerne auf meinem Internet-Radio herum. "Das philosophische Radio", freitags von 20.05 Uhr bis 21.00 Uhr auf WDR5, hat es mir angetan. Jürgen Wiebicke moderiert, da höre ich gerne zu, er lädt einen Experten ein und die Zuhörer können fleißig ihren Senf dazu geben. Es geht da um das radikal Böse im Menschen, vom Recht auf Nichtwissen in unserer Informationsgesellschaft oder welche Strategien man gegen die Knappheit der Zeit entwickeln kann.

Bei diesem Thema hatte ich zunächst weggehört, weil ich falsch zugehört hatte: Agnostizismus. Ich hatte gehört: Atheismus. Beides hängt wiederum zusammen, und die einzelnen Begriffe sind doch etwas komplett anderes. Das Wort „Agnostizismus“ kommt aus dem Griechischen, wobei die Vorsilbe „a“ für die Verneinung steht und „gnoein“ wissen bedeutet. 400 vor Christus erwähnt Protagoras erstmals den Agnostizismus, weil er keine Möglichkeit sieht zu wissen, ob Götter existieren oder nicht.

Erst im 19. Jahrhundert greift ein Biologe, das ist Thomas Henry Huxley, die Idee des Agnostizismus wieder auf und verbindet ihn mit dem Gottesbeweis. Die Menschen glauben an Gott – dann gehören sie einer Weltreligion an – oder sie glauben nicht an ihn – dann sind es Atheisten. Der Biologe verknüpft die naturwissenschaftliche Sichtweise mit dem Gottesbeweis: die Naturwissenschaft wird nicht beweisen können, ob es Gott gibt oder nicht, daher ist der Atheismus die falsche Gegenposition zum Glauben an Gott. Diese Gegenposition ist vielmehr das Nicht-Wissen oder die fehlende Urteilskraft des Menschen, den Dingen richtig auf den Grund zu gehen, um aus dem Status des Halb-Wissens heraus zu finden, nämlich der Agnostizismus.

Ich selbst staune, dass die Dinge, an die wir glauben, zahlreicher sind, als ich vermutet hatte. Glaube wird jeder mit Kirche und Religion verbinden, aber die spirituelle Dimension, Wahrheitsfragen, Nicht-Erklärbarkeit, Visionen eines Propheten, das Zusammenfinden in einer Gemeinschaft, Richtlinien wie die zehn Gebote: unabhängig davon, ob der Glaube auf einen Gott gerichtet ist, haben sich solche Konstrukte im Alltag durchaus verbreitet. Der Agnostizist fällt dann dadurch auf, dass er keine Position bezieht. Es ist sein freier Wille zu entscheiden, mit welchen Dingen er sich befasst. Er sucht sein eigenes Glück, indem er die einen Dinge ignoriert und die anderen Dinge, die es ihm Wert sind, teilt und sich in eine Gemeinschaft des Glaubens einbringt. „Leben und leben lassen“, in diesem Grundsatz könnte man diese Lebenseinstellung zusammen fassen.

Ich schaudere selbst, zu welchen Schrecken ein falsch verstandener oder fanatischer Glaube fähig ist. Erst waren es die Kreuzzüge, in denen der christliche Glaube Angst, Schrecken und Kriege verbreitet hat. In der Renaissance waren es Protestanten und Katholiken, die Kriege gegeneinander geführt haben. Nun ist es läppische dreißig Jahre her, seitdem sich in Ulster und Nord-Irland die letzten Protestanten und Katholiken die Köpfe eingeschlagen haben.

Der 11. September 2001 löste eine Initialzündung aus. Betrachtet man die Zahl der Kirchenaustritte, so geht die Gemeinschaft der gläubigen Christen kontinuierlich zurück. Dieses Defizit an religiösem Glauben füllt nun der Islam aus. Mehr noch: in der Perspektivlosigkeit von heruntergewirtschafteten Staaten lassen sich islamische Gotteskrieger rekrutieren, die in ein straff organisiertes System eingebunden werden, weltweit vernetzt sind und die vereint werden durch den Hass gegen das Christentum und die westliche Welt.

Der Glaube hat die Flugzeuge in das World Trade Center gesteuert, der Glaube hat die Feuerwehrmänner, die in Schutt und Asche nach Überlebenden gesucht haben, zu Helden gemacht. Der Glaube hat den Krieg gegen Afghanistan angefacht, um den Lenker islamischen Terrors, Osama bin  Laden, zu finden. Und der Glaube hat Geduld und Ausdauer bewiesen, um so lange nach dem Versteck zu suchen, um den Inbegriff des bösen Glaubens, Osama bin Laden, schließlich in Pakistan zu finden.

Das Gedankengut eines Murat K. ist in die Köpfe so mancher Islamisten, Salafisten und wie sie alle heißen, gewandert. So wie er, rücken die Gotteskrieger aus den Elendsvierteln in Islamabad, Kairo oder Algier aus, um die böse westliche Welt zum besseren Glauben des Islams zu überführen. Murat K. bereut nichts. Er würde wieder so handeln. Sollte sich die Polizei in den Weg stellen, würde er wieder zustechen.

Glücklicherweise sind Murat K. und seine Gesinnungsgenossen eine Randerscheinung. Die Islamisierung unserer Gesellschaft schreitet zwar voran, doch 99% der Moslems haben mit dem Gedankengut eines Murat K. nichts gemein. Christen und Moslems leben spannungsfrei miteinander, das beweist der Alltag, weil sie die Religion des anderen nicht verstehen müssen - was auch eine Form des Agnostizismus ist.

All die Ismen des 20. und 21. Jahrhunderts setzen auf Glauben und Weltanschauung auf, sie haben Massen mobilisiert, die durch Führer willenlos gelenkt wurden. Der Nationalsozialismus hat kein tausendjähriges Reich gebracht, sondern den Völkermord an den Juden. Kapitalismus und Kommunismus haben die Welt in Gut und Böse aufgeteilt. Auch der Kommunismus hat seinen Teil am Völkermord beigetragen, als 1975 bis 1979 auf den „killing fields“ in Kambodscha nicht kommunistisch gesonnene Menschen systematisch ermordet wurden. Mit dem Mauerfall 1989 ist die Ära des Kommunismus zu Ende gegangen, aber glaubt die Weltbevölkerung seitdem nur noch an den Kapitalismus ?

James Bond, Geheimagent 007, hat es gewagt. In den Zeiten des Kalten Krieges hat er dem Kommunismus getrotzt, mutig, kühn, gewagt, hat er es mit den Feinden in Rußland und Afghanistan aufgenommen.  Ausgefeilte Technik hat ihn aus brenzligen Situationen herausgebracht. Er ist zum Retter der Welt geworden, der verhindert hat, dass im entscheidenden Moment die Welt durch eine Atombombe ausgelöscht worden wäre. Zwölf Romane hat Ian Flemming geschrieben, in seiner Rolle als Agent des britischen Geheimdienstes, hat er James Bond zur Glaubensfigur gegen den Kommunismus verewigt.

Der Glaube polarisiert, er läßt nur noch die Wahl zwischen Gut und Böse. Das ist so wie beim Fußball. Fans tun sich zusammen, pflegen ihr Gemeinschaftsgefühl, marschieren ins Stadion, schwenken Fahnen und feuern ihre Fußball-Mannschaft an. Sie glauben daran, dass ihre Mannschaft das Spiel gewinnen wird. Es gibt einen klar umrissenen Feind, der als gegnerische Mannschaft auf dem Platz steht. Wenn alles gut läuft, dann gewinnt eine Mannschaft (oder das Spiel geht unentschieden aus), und anschließend sind die einen Fans todtraurig und betrübt und die anderen Fans im siebten Fußballhimmel oder auch beide Fanblöcke zufrieden. Wenn es schlecht läuft, dann gibt es Randale, so wie zuletzt in der 2. Fußball-Bundesliga beim Abstiegsduell Dynamo Dresden gegen Arminia Bielefeld. Als Dresden 2:0 zurücklag, explodierten Böller auf dem Spielfeld, Leuchtraketen wurden auf den Rasen geschossen. Als das Spiel aus war und Dresden nach einer 2:3-Niederlage in die 3. Liga abgestiegen war, drohten Fans von Dynamo Dresden auf einem Plakat: „Ihr habt eine Stunde Zeit, um unsere Stadt zu verlassen.“ Nachdem sie sich geduscht und angezogen hatten und aus ihren Umkleidekabinen das Stadion verließen, musste die Polizei herhalten, um die Spieler beider Mannschaften vor dem Mob randalierender Fußballfans zu schützen. 

Beim Fußball versteht sich Agnostizismus von selbst, weil es dort nichts zu verstehen gibt. Klar, der Trainer gibt den Spielern eine Taktik an die Hand, seine Mannschaft hat einen guten oder schlechten Tag erwischt, der Rest ist Kampf, Einsatz, Übung, Training, Schnelligkeit, Technik, Teamfähigkeit, Herz, Leidenschaft. Rational zu verstehen, Urteile zu bilden, im Sinne einer Erkenntnistheorie, gibt es nicht beim Fußball. Kurz gesagt: 22 Spieler rennen dem Ball hinterher und in wessen Tor der Ball am häufigsten landet, diese Mannschaft hat verloren.

Agnostizismus ist eine natürliche Einstellung, die andere Fußball-Fans ihren Leiden oder Freuden überläßt. Neutralität, Mäßigung, nicht wissen, den anderen nicht bekehren wollen, ihn so lassen, wie er ist, sich selbst nicht als Heilsbringer verstehen: von solchen Einstellungen könnte unsere Gesellschaft profitieren, um einen falsch verstandenen oder fanatischen Glauben zu entschärfen.

5 Kommentare:

  1. Da hast du aber viele Aspekte zusammengetragen um den Begriff "Agnostizismus" zu erklären & zu illustrieren. Ich habe ihn bisher immer nur eingeschränkt auf die Frage "ich weiß nicht, ob es Gott gibt, ich kann weder das eine noch das andere beweisen" verwendet und verstehe mich in diesem Sinne als Agnostikerin. Es fällt mir schwer, ihn im Zusammenhang mit anderen Leidenschaften wie Fußball zu sehen. Da muss ich noch drüber nachdenken...
    Was Fanatiker im Namen des Islam anbelangt: Ein neues Buch von Marc Engelhard (Heiliger Krieg, heiliger Profit) hat darauf hingewiesen, dass - vor allem im afrikanischen Raum - der Glaube benutzt wird, um terroristisches- kriminelles Verhalten zu verbrämen. Den Eindruck werde ich auch bei vielen "Glaubensrittern" hierzulande nicht los. Machtanspruch, Inhumanität, sonst nichts.
    Liebe Grüße
    Astrid

    AntwortenLöschen
  2. Dein heutiger Post ist durchaus 'schwere Kost'! Der Glaube hat schon viel Leid über die Menschheit gebracht und die Religionsgemeinschaften können sich nicht damit rühmen, dem Einhalt geboten zu haben - ganz im Gegenteil.
    Wenn die Menschen toleranter miteinander umgehen und statt Hass Liebe für den anderen empfinden würden, dann - ja dann, sähe die Welt anders aus, denn dann gäbe es keine Glaubenskriege mehr. Doch davon sind wir wohl noch weit entfernt. LG Martina

    AntwortenLöschen
  3. Heel interessante gedachte Dieter.

    AntwortenLöschen
  4. Dein heutiger Post ist interessant. Allerdings kann ich alle Fakten nicht
    unterschreiben. Gerade die Agnostiker waren es, über die im referieren musste.
    Und da nußte ich noch tiefer gehen. Und habe eine etwas andere Sicht der Dinge.
    Einen schönen Feiertag wünscht Dir
    Irmi

    AntwortenLöschen
  5. Lieber Dieter,
    im Sinne von "Er sucht sein eigenes Glück, indem er die einen Dinge ignoriert und die anderen Dinge, die es ihm Wert sind, teilt" und „Leben und leben lassen“ bin ich gewiss eine Agnostikerin. Von Fanatismus jedenfalls halte ich nirgendwo etwas - weder im Bereich von Religion noch Politik noch Fußball... das führt immer nur zu Schmerz und Leid - und hat selten oder nie etwas mit wirklichem Glauben oder wirklicher Überzeugung zu tun, sondern zumeist nur mit Aggression, die sich IRGENDEIN Ventil sucht.
    Alles Liebe, Traude

    AntwortenLöschen