Sonntag, 18. Januar 2015

UK Wesseling - Sprit für Hitlers letztes Aufgebot

Blick von Wesseling aus auf Bahnanlagen mit Ölraffinerie
Ganz schwer tue ich mich, mir die Industrie in Wesseling wegzudenken. Entlang des Rheinufers Wiesen in sattem und üppigen Grün, vollkommen unberührt ohne die stählernen Kolosse von Destillationsanlagen, ohne die feuerroten Schweife von abgefackelten Gasen aus der Rohöldestillation. Auf den Wiesen Farbtupfer von Löwenzahn, Sumpfdotter oder Klee, Tupfer von Wollknäueln, die sich zu einer Schafherde zusammen fügen, in der Ferne der ungetrübte Blick auf das Vorgebirge, gegen die sich nun die industrielle Kälte von Kühltürmen und Rohranlagen sperrt, die jegliche Dimensionen sprengt.

So sehr mein Vorstellungsvermögen lahm gelegt ist: ich muss nicht tiefe Vergangenheiten der Industriegeschichte aufbohren, in denen in Manufakturen Webstühle standen oder die Dampfmaschine erfunden wurde. Es ist nicht einmal achtzig Jahre her, dass der Rhein zwischen Köln und Bonn ähnlich romantisch daher floss, wie er es zwischen all den Burgen von Bonn ab rheinabwärts tat, wenngleich in seichtem und flachem Flussgebiet, durchsetzt von urwaldähnlichen Flussarmen.

Von langer Hand war der industrielle Großangriff auf Wesseling geplant. Das Schicksal von Wesseling war ein Werk der Nationalsozialisten und wurde am 21.1.1937 besiegelt. Wesseling geriet in die Begehrlichkeiten eines Hermann Göring, der in Vierjahresplänen dachte, die heutigen Planungszyklen und dem Projektmanagement nicht unähnlich waren. Göring entwickelte Szenarien der Aufrüstung und der Rohstoffautarkie, und dabei spielte Wesseling eine nicht unwichtige Rolle. Schon 1936, diese Vorhersehung verblüfft, dachte er in Kriegsszenarien, dass eine Seeblockade Rohölimporte aus dem Rest der Welt verhindern könnte, so wie es die Erfahrungen im Ersten Weltkrieg gezeigt hatten. Das Deutsche Reich müsste somit seinen Bedarf an Öl innerhalb des eigenen Gebietes selbst decken. So wurden Jahre später Ölfelder in der Gegend um Hannover ausgebeutet, weitere Ölquellen sprudelten bei Bruchsal und in Thüringen. Nach Kriegsausbruch wurde aus Ungarn und Rumänien Rohöl über Eisenbahntransporte importiert.

Hermann Göring, Quelle Wkipedia
Der fehlende Ölbedarf sollte über Verfahren der Kohlehydrierung im Gebiet des Deutschen Reiches erzeugt werden. Dabei kam dem Industriestandort Wesseling eine herausgehobene Bedeutung zu. Göring plante zwölf Standorte, verteilt über das gesamte Deutsche Reich, an denen Anlagen gebaut werden sollten, die aus der heimischen Kohle Öl herstellen sollten.

Göring pochte auf Wesseling, wegen des Transportes über den Rhein und wegen der Braunkohle. Das hatte technologische Gründe. Das Verfahren der Kohlehydrierung, aus heutiger Sicht eine technologische Eintagsfliege, vollkommen unwirtschaftlich und konträr zum freien Welthandel, breitete sich mit zunehmender Kriegswirtschaft aus. Wesseling hatte den Standortvorteil, dass der rheinische Braunkohletagebau in der Nähe lag – das war der Tagebau Berrenrath bei Hürth. Die Eisenbahn transportierte die Braunkohle vom Tagebau nach Wesseling. Beim Verfahren der Kohlehydrierung musste die Kohle zerkleinert werden, unter Wasserdampf wurde die grobkörnige Masse erhitzt, um die pampige Masse aus Teer und Kohle in einen flüssigen Zustand zu überführen. Braunkohle enthielt mehr Wasser – wodurch die Verflüssigung vereinfacht wurde. In einem weiteren Schritt wurde unter hohem Druck Wasserstoff zugeführt, damit Kohlenwasserstoffverbindungen entstehen konnten, die dem Hydriervorgang beim Rohöl entsprachen.

Am 21. Januar 1937 war es soweit. Bereits 1934 hatte die chemische Industrie unter Führung der IG Farben die „Braunkohle-Benzin-Aktiengesellschaft“ gegründet, kurz Brebag genannt. Heute würde man es „joint-venture“ nennen: genau an diesem 21. Januar 1937 kooperierte die Brebag mit der neuen Firma „Union rheinische Braunkohle-Kraftstoffaktiengesellschaft“, kurz UK genannt.

Hermann Göring steuerte für Hitler die Rüstung, und so musste er alles rund um die Produktion von Panzern, Flugzeugen, Waffen, Munition, LKWs oder auch die Versorgung mit Treibstoff koordinieren. Die Stahlproduktion im Ruhrgebiet lief auf Hochtouren. Vor dieser Herkulesaufgabe scheiterte er, den Bedarf der Kriegswirtschaft gleichzeitig zu decken. Noch 1937 dürften die Bewohner von Wesseling dieses rückwärtsgewandte Idyll vorgefunden haben mit satten Rheinwiesen, Kühen, Schafen, Kräutern und Blumen jeglicher Art. 1938 änderte sich das: Bagger und Planierraupen fuhren vor und schufen die Grundlage einer ausufernden Industrielandschaft, die heute bisweilen apokalyptische Züge trägt.

Wesseling, petrochemische Industrie
1938 kamen die Bagger aber nicht allzu weit, denn es fehlte an Stahl für die Hydrieranlagen. Stahl wurde für Panzer und sonst wo gebraucht. Erst im Januar 1940 hatte Hermann Göring das Vorhaben in eine hohe Dringlichkeitsstufe übernommen, so dass der Aufbau der Kohlehydrieranlage wirklich vorangetrieben wurde und im August 1941 am Standort Wesseling fertiggestellt wurde. Mit Ausnahme der Zerkleinerungsanlagen und der Verflüssigungsbecken wird die Hydrieranlage nicht so viel anders ausgesehen haben wie heute: Systeme von Kesseln und Rohrleitungen stiegen in die Höhe, die flüssige Masse aus Kohle und Teer wurde erhitzt, und je nach Erhitzungsgraden wurden die einzelnen Ölprodukte sauber voneinander getrennt – von Kerosin bis Diesel und all den restlichen Spritsorten.

Betrachtet man die Kohlehydrierung unter dem heutigen Blickwinkel eines Projektmanagements, war diese durchaus ein Erfolg – wobei es mir widerstrebt, das Wort „Erfolg“ in demselben Zungenschlag mit dem Nationalsozialismus zu erwähnen. Jedenfalls gab es eine Zielsetzung von Hermann Göring, eine festgelegte Eigenversorgung von Mineralölprodukten zu erreichen. Das schafften die zwölf Hydrierwerke auch, um unabhängig vom Rohöl auf dem Weltmarkt zu werden.

Verzögert durch das Fertigstellungsdatum der Hydrieranlage, lief in Wesseling erst 1944 die Produktion auf Hochtouren, als im Mai 21.000 Tonnen Benzin, Kerosin, Diesel und Heizöl hergestellt wurden. Einen Monat später landeten die Alliierten in der Normandie. Sie beherrschten den Luftraum, und - wie bereits 1940, 1941 und 1942 geschehen - wurde die Hydrieranlage bombardiert. Dies geschah am 19. Juli 1944. Die blinkenden stählernen Rohre ragten hoch in die Luft und waren eine leichte Zielscheibe für Luftangriffe. Der 19. Juli 1944 war kritisch, da Hauptleitungen getroffen wurden, wodurch die Produktion nahezu vollständig ausfiel. Erst Anfang Oktober 1944 waren die Schäden notdürftig geflickt worden, so dass die Anlage wieder hoch gefahren werden konnte – aber dies nur mit einem Ausstoß von 40%. Dazu kam es aber nicht, denn am 3. und am 11. Oktober 1944 fielen die nächsten Bomben. Was geflickt worden war, wurde erneut zerstört. Zwischen den beiden Luftangriffen wurde das Werk am 6. Oktober 1944 geschlossen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Alliierten bis ins Deutsche Reich vorgedrungen und die Schlacht um Aachen tobte. Wenn in Wesseling noch Sprit geflossen wäre, dann höchstens für Hitlers letztes Aufgebot.
Dulle Griet, Pieter Brueghel der ältere, 1562
Quelle Wikipedia

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Hydrieranlage wieder aufgebaut. Da die Alliierten die Herstellung von Treibstoffen verboten, wurde Ammoniak hergestellt – später Methanol. 1956 waren die Anlagen allen Wettbewerbern weit voraus, als eine Ölpipeline vom Rotterdammer Hafen nach Wesseling gebaut wurde. Seitdem ist die apokalyptische Industrielandschaft petrochemischer Industrie ungehemmt gewachsen. Sie weitete sich in globalen Dimensionen aus, als die UK Wesseling 1989 in die DEA integriert wurde und 2002 von Shell aufgekauft wurde.

Wenn ich die Industrielandschaft durchfahre, komme ich mir bisweilen vor wie „Dulle Griet“. Sicher durchschreitet sie Endzeitstimmungen, überall lodert es, der Himmel scheint feuerrot, es herrscht ein Zustand der Vorhölle, die deformierten Menschen gehen im Chaos unter. Und wenn ich in Köln-Rodenkirchen oder in Wesseling-Urfeld diese apokylptische und deformierte Landschaft verlassen habe, bin ich glücklich, dort angekommen zu sein, wo man der Natur noch zugesteht, sich ausbreiten zu dürfen.

Quelle: Bogislaw Graf von Schwerin, Die Treibstoffversorgung durch Kohlehydrierung in Deutschland von 1933 bis 1945

5 Kommentare:

  1. Das ist ja ein spannender Post, denn die Geschichte dieser Industrielandschaft kannte ich bisher nicht. Dabei bin ich an 1970 täglich zwei Mal daran vorbeigefahren und die Anlagen kamen auch immer wieder mal in Bildern vor, die ich während meines Kunststudiums an der Kölner Werkschule gezeichnet oder gemalt habe. Damals waren die Anlagen auch noch nicht so beleuchtet wie jetzt, wodurch sie nachts ja eine ganz eigenartige Schönheit bekommen.
    Hat der Autobahnbau auch damit zu tun?
    LG
    Astrid

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  2. Danke für den sehr interessanten Post Dieter. Ich wäre nie im Leben auf die Idee gekommen, dass die Nazis Ursprung von Wesselings Industrie sind.

    LG Frauke

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  3. Jetzt habe ich schon wieder soooo viel bei dir gelernt und wirklich für mich Neues erfahren! Danke!
    Einen schönen Abend! Martina

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  4. Auch ich habe noch nie etwas davon gehört, scheint aber wirklich eher ein unbekanntes Kapitel zu sein.
    Und was für eine Assoziation mit Brueghel :-D!!! Super.

    LG

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  5. Ich habe 1977 die Lehre als Chemiefacharbeiter und war ab 17.06.1980 auf Wechselschicht bei
    UK/DEA/Shell. Krankheitsbedingt durfte ich zum 01.10.2015 in Pension gehen.
    Mein Glück war es dass ich noch viele alte Kollegen kennenlernen durfte welche mir die Geschichte des Herrmann Göring Werkes erzählten.
    Dies überschneidet sich komplett mit dem Post.
    Danke dass jemand Diesen eingestellt hat, ich hätte ihn nicht so schön Schreiben können, da ich über die Jahre sehr viel von den Erzählungen vergessen hatte, nun ist Alles wieder Präsent.
    Ich hoffe dass Dies von Vielen gelesen wird, besonders von denen Die jetzt, und hoffentlich später noch dort Arbeiten dürfen und können.
    Historie darf nicht Verloren gehen.
    Danke und Gruß

    Werner (ein alter Ukazius:-))

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