Montag, 19. Dezember 2011

betreutes Wohnen

Mit meinem Schwager Udo kann man verzweifeln. Man stößt auf eine Black Box, die er vor uns abschirmt, eine Welt, in die er andere nicht eindringen lässt. Als ob wir seinen Nerv getroffen haben, zuckt er zusammen, fühlt sich eingeschüchtert, er sagt aber nichts.

„Hat man Dich gefragt ….“
Es geht um das brisante Thema des betreuten Wohnens in seinem Wohnheim für geistig Behinderte.
„Wir wollen nur wissen, ob Du gefragt worden bist“ fasst meine Frau nach.
Udo druckst herum. Nach der Bewegung seiner Lippen zu urteilen, scheinen einzelne Worte aus seinem Mund heraus zu plätschern, doch ein Schweigen blockiert das Gespräch.
„Ähm … „
Das ist der einzige Minimalkonsens, den Udo aus sich herausbringt.

Gespräche, wie man sie normalerweise miteinander führt, sind mit Udo ohnehin nur eingeschränkt möglich. Er bildet kaum noch ganze Sätze, sondern nur noch Fragmente. Er reißt einen Zusammenhang mit dem nächsten so auseinander, dass man die logische Abfolge nicht mehr rekonstruieren kann. Erst wenn er längere Zeit redet, kann er sein Gedächtnis so abrufen, dass er das Erlebte verstehbar wiedergeben kann.

Das betreute Wohnen wirbelt Udos Mitbewohner ordentlich durcheinander, nämlich welche Bewohner mit welchem Konzept betreut werden. Dahinter steckten im Endeffekt Kostenreduzierungen: Behinderte mit einem niedrigeren Grad der Behinderung können kostengünstiger außer Haus im betreuten Wohnen untergebracht werden, weil die Behinderten Tätigkeiten wie Einkaufen, Kochen, Waschen usw. selbst erledigen können und demzufolge weniger Betreuung benötigen. Hinter vorgehaltener Hand haben wir sogar gehört, dass der Landschaftsverband – der Gelder für den Betrieb der Wohnheime bereitstellt – Udos Wohnheim mit einer Einmalzahlung von 12.000 € je überführten Behinderten belohnt. Daher ziehen immer mehr Bewohner mit einer geringfügigeren Behinderung in ein WG aus – so auch zwei der besten Freunde Udos, die letztes Wochenende ihre Einweihungsfete gefeiert haben.

Udo hat erzählt, dass mit ihm fleißig geübt worden ist. Kochen, Waschen, Bügeln, mit Geld umgehen können. Die Sinnhaftigkeit halten wir für unstrittig, solche Fähigkeiten zu erlernen.

Doch wie sieht dies bei Udo aus ? Beim Kochen wird er so gerade in der Lage sein, eine tiefgekühlte Pizza in den Backofen zu schieben oder Nudeln aus dem kochenden Wasser abzuschütten. Gebügelte Hemden haben wir so zerknittert in seinem Kleiderschrank gefunden, dass man sie kaum noch anziehen konnte. Und meine Frau staunte nicht schlecht, als sie einmal in der Bäckerei war: Udo bestellte dort zwei Scheiben Brot. Die Verkäuferin kannte Udo offensichtlich, schlussfolgerte richtig und gab ihm zwei Brote. Und wenn sie ihn nicht gekannt hätte ?

Hilfeplan: Udo hatte davon erzählt, dass ein solcher Plan erstellt wird, der zur Unterstützung im Alltag sicherlich hilfreich ist. Gesehen haben wir einen solchen Hilfeplan nicht – wieder so eine Black Box, dessen Inhalte wir wahrscheinlich nicht kennen sollen.

Dass Udo mit dem Taschengeld im Alltag klar kommt, trauen wir ihm nicht zu. 90 € Taschengeld stehen ihm im Monat derzeit zu. Kinobesuch, mal eine Flasche Bier trinken, auf einem Weihnachtsmarkt eine Wurst essen, mit uns zum Legoland nach Günzburg fahren, für diese kleinen Dinge geht dieses Taschengeld auf jeden Fall drauf. Darüber hinaus kommt es immer wieder vor, dass, wenn in der Stadt etwas unternommen wird, anschließend in einem Restaurant gegessen wird. Darüber hinaus sind weitere Ausgaben zu begleichen – so werden Fußnägel nicht wie üblich mit der Nagelschere geschnitten, sondern man geht zur Fußpflege. Zuletzt klappte das Zähne putzen schlecht – da wurde eine elektrische Zahnbürste angeschafft. Wie bitte, soll das funktionieren  - wenn Udo selbst die 90 € verwalten muss ?

„Hat man Dich gefragt“ setzte meine Frau an, diesmal in leisem, besinnlichen Ton, um gar nichts zu zerbrechen.

Es war sinnlos. Wir gruppierten uns an unserem Tisch in der Essecke, schauten gebannt auf Udo, der unbeholfen ins Leere starrte. Beharrlich mied er unsere Blicke und das Gespräch.
„Ähm …“ setzte er in die beinahe gespenstische Atmosphäre hinein.

Mein Frau war von Udos Wohnheim angerufen worden, dass sie für Morgen um ein Gespräch gebeten hatten. Worum es ging, hatten sie nicht gesagt.

Von anderen wissen wir, dass das betreute Wohnen Methoden der Überrumpelung einsetzt. Man sitzt dann alleine in großer Runde – quasi mit dem ganzen Wohnheim zusammen. Alles ist abgestimmt und festgezurrt: der Hilfeplan, die Zustimmung des Behinderten, ein Veto-Recht wird verweigert, anstatt dessen wird ein sofortiges Einverständnis erwartet.

Uns ist ganz grummelig zumute. Sollte dies so kommen: Demokratie sieht anders aus.

2 Kommentare:

  1. Es ist nicht immer einfach Mneschen mit einer geistigen Behinderung zu fragen was sie wollen und ob sie so glücklich sind.Erschreckender ist es für uns zu wissen das ihre Unterbrungung vielleicht nicht das optimale ist.Wir haben ja ein Pflegekind mit einer geistigen Behinderung ,es ist ein ewiger Kampf.
    LG
    Nicole

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  2. Ich bin zufällig auf deinen Post gestossen.
    Wir haben ein geistig behindertes 16jähriges Pflegekind, das sich wohl vom Behindertenstatus mit eurem Udo vergleichen läßt(Blackbox ist gut ausgedrückt)
    In den nächsten Jahren steht auch bei uns das Thema "Wohin geht sein Weg" an. Dein Post bestätigt meine großen Befürchtungen...
    Erstmal gehe ich zu solchen Gesprächen in seiner Tagesbildungstätte nie(NIE) alleine hin, von wegen Überumplung. Jeder hat das Recht sich jemanden als Beistand mitzunehmen. Hoffentlich hat deine Frau jemanden, der ihr und Udo zur Seite steht.
    Unser Pflegkind sagt zu allem Ja und sein Taschengeld hätte er an einem Tag ausgegeben und nix wäre mehr übrig für Ausflüge. Fusspflege (!?)und Legoland würde er nie zu sehen bekommen.
    Da kann ich ihm auch nichts mehr beibringen, das würde er trotzdem nicht selbst verwalten können.

    Wo soll das bloß hinführen?
    Ich wünsch euch alles Gute!
    Stefanie

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