E, ein paar Jahre jünger als ich, agil, dynamisch,
voller Tatendrang, hatte mich zu einer Tandemtour eingeladen. E war blind. Als
wir auf Wirtschaftswegen die Felder durchquerten, nahm das Erlebnis auf dem
Tandem an Fahrt auf. Das Fahrgefühl blieb, dass ich mich vorneweg wie im LKW im
Führerstand befand. Ich musste lenken, schalten, signalisieren, schauen,
aufpassen, für zwei denken.
Ich lernte, dass Tandemfahren von Kommunikation
lebte. Mit Worten beschreiben, wo wir uns befanden. Stellen ankündigen, wo wir
die Richtung wechselten. Gefahrenpunkte signalisieren, so dass wir langsamer fuhren.
Das Tempo dämpfen, wenn ich den richtigen Weg finden musste.
Das funktionierte. Und es war eine komplett neue
Erfahrung, dass ich nicht mehr der einsame Kämpfer auf dem Rennrad gegen
Höhenmeter war, sondern dass wir einen gemeinsamen Durchschnitt unseres
Leistungsvermögens auf demselben Fahrrad im Gleichtakt bildeten. E’s Format der
Tandemtouren lag dabei nicht einmal soweit von meinem eigenen Format entfernt.
Er war nicht nur flußabwärts geradelt, sondern es waren auch Highlights wie
Eifel oder Ardennen dabei.
Köln, Alter Markt, unser Ziel. Nachdem wir im
Eis-Café Kaffee und Kuchen gegessen hatten, machte ein Passant ein
Erinnerungsfoto. „Klasse, dass wir ein solches Foto machen können“ bemerkte
E stolz – obschon er dieses Foto gar nicht sehen konnte.
Überhaupt stellte ich nach diesem Foto fest, dass
Bloggen und Tandemfahren sich nahtlos ergänzten. Wir hatten uns an dem
Reiterdenkmal von Jan von Werth fotografieren lassen. Ich erzählte die
Geschichte von Jan und Griet, die E
nicht kannte. Ich hatte mir längst angewöhnt, mit Worten zu beschreiben, was zu
sehen war. Auf der Rückfahrt ging es vorbei am Rheinau-Hafen, wo der Start- und
Ziel-Bereich des Radrennens „Rund um Köln“ gelegen hatte. Dort erzählte ich von
„Rund um Köln“. Ich erzählte von Kölner Brücken, von der Deutzer Brücke, der
Südbrücke und der Rodenkirchener Brücke. Schließlich Wesseling, wo ich die Öl-Pipeline
von Rotterdam beschrieb und wie eine Million Liter Rohöl in Wesseling im
Erdreich versickert waren und die Welt danach für alle in Ordnung war.
Am Ende der Tandemtour begriff ich nicht, wie
Menschen mit solch einer Behinderung im Alltag klar kommen konnten. E’s Ehefrau
S war ebenfalls blind. Sauber, aufgeräumt, ordentlich war in ihrer Wohnung
alles an Ort und Stelle. Putzen, waschen, einkaufen oder kochen, wie war das zu
schaffen, ohne sehen zu können ?
Ich sah mich um. Bilder von ihnen, von Freunden und
von Landschaften hingen an den Wänden, die sie nicht sehen konnten. Der
Holzfußboden verlieh Wärme und Behaglichkeit. Der Balkon, wo große und kleine
und bemalte Blumentöpfe auf einem Holzregal standen, kam mir wie eine Insel der
Glückseligkeit vor.
„Schöner Balkon“ merkte ich an. „Ich genieße diese Weitsicht“ kommentierte S. Das
stimmte, denn man konnte bis zum Siebengebirge schauen. Obschon S die Weitsicht
gar nicht sehen konnte.
Die Tandemtour hatte meinen Blick in eine Welt
voller Geheimnisse geöffnet. In eine Welt, in der E und S übersinnliche
Fähigkeiten entwickelt hatten, sich in Dinge hinein zu fühlen.
Dies ist tatsächlich eine Erfahrung, um die ich dich beneide.
AntwortenLöschenNoch nie Tandem gefahren muss dein Erlebnis bestimmt ein ganz besonderes Erlebnis gewesen sein. Ich bin überzeugt das man dadurch noch einmal ein ganz anderen Blickwinkel und Bewusstsein bekommt. Man geht unter Garantie ganz tief in sich und die Worte werden mit viel Empfindungen ausgesprochen.
AntwortenLöschenIch kann blinde Menschen ebenfalls bewundern wie sie ihr Leben meistern. Für einen sehenden Menschen schon unvorstellbar wie sie im Alltag so zurechtkommen.
Danke dir dass du uns davon erzählt hast und hab einen wundervollen Sonntag.
Herzliche Grüsse
Nova
Hallo Dieter, Tandem fahren eine Herausforderung, kann mir vorstellen das das schwierig ist und viel Übung braucht.
AntwortenLöschenBlinde Menschen im Alltag zu erleben ist schon etwas großartiges, wie sie den Alltag meistern und zurecht kommen.
Danke für den tollen Beitrag.
Schönen Sonntag und liebe Grüße
Angelika
Ich bin ganz still geworden, als ich deinen Beitrag gelesen habe, ich, die immer fürchtet, blind zu werden...
AntwortenLöschenSo ein richtiger November - Post. Muss wohl deinen Musik- Tipp anhören ( der ist wohl aus einer Zeit, bei der ich nicht mehr auf dem Laufenden blieb ).
Einen schönen Sonntag!
Astrid
Guten Morgen Dieter
AntwortenLöschenTandemfahren stelle ich mir ja schon grundsätzlich schwierig vor, aber als allein Verantwortlicher würde ich es mir sicher nicht zutrauen. Toll, dass Du es gemacht hast! Auch wenn ich aus Hessen schreibe, bin und bleibe ich doch Rheinländerin im Herzen :-) und fahre noch oft in die Nähe von Monschau. Da ist Radfahren auch eine Herausforderung *lach*
Viele Grüße, Petra
Tandem würde ich auch gerne mal fahren (und hinten sitzen und die Pedalen nicht bewegen ;-))
AntwortenLöschenDanke für die wunderschöne Geschichte und deine Eindrücke!
LG
Ein toller Bericht über eine Tandemtour die nicht ganz so einfach war aber etwas ganz normales sein
AntwortenLöschenkönnte oder sollte. Da ich mich mit Bilder und Fotografie befasse kann ich mir nicht vorstellen diese nicht
zu sehen.
Gruß
Noke
Ein kleiner Einblick in die Welt der Blinden. Darüber wüsste ich gerne mehr. Sehr einfühlsam geschrieben.
AntwortenLöschenLG, 'Franka'
Hallo Dieter,
AntwortenLöschendas klingt nach einer interessanten Tour und ich ziehe meinen Hut, was du dir da zugetraut hast.
Hab noch einen schönen Sonntag. Ninja
Wie schön. Ja es ist für einen Sehenden nicht nachzuvollziehen, was ein Blinder sieht. Ich habe hier bewusst das Wort sehen verwendet, da es durchaus passt. Jeder blinde Mensch, den ich bisher getroffen habe, verwendet das Wort, als sei es das Selbstverständlichste der Welt.
AntwortenLöschenGruß vonner Grete
Guten Abend, Dieter!
AntwortenLöschenAls erstes mal finde ich es ganz große Klasse, dass du die Einladung angenommen hast, und nicht vor den Komplikationen, die sich im Umgang mit einem Blinden ergeben (könnten) zurück geschreckt bist. Dein Text ist wieder sehr schön geschrieben - einfühlsam und ansprechend. Eine blinde Kommilitonin hatte ich mal, aber nicht so fiel mit ihr zu tun und Tandem bin ich auch noch nie gefahren.
wieczoramatische Grüße zum Sonntag, (◔‿◔) | Mein Fotoblog
ich habe von der Tandemfahrt - über euch beide - auch sehr gerne gelesen. Vielleicht gibt es eine Fortsetzung?
AntwortenLöschenich würde mich freuen.
herzliche Grüße von Heidi-Trollspecht
Wow, wunderbar beschrieben Dieter und du hast "E" sicherlich einen wunderbaren Tag beschert. Wahnsinn, dass man mit einer solchen Behinderung nicht den Mut verliert und auch noch so humorvoll dabei sein kann. Ich weiß nicht, ob ich das könnte.
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