Donnerstag, 9. Januar 2014

Frank Schirrmacher - Payback


Mit seinen Büchern trifft Frank Schirrmacher, Herausgeber der FAZ, stets den Nerv der Zeit. Bisher hat er Kritik an unserer Gesellschaft geübt, in welchem Umfang sie altert (das Methusalem-Komplott) oder wie zerbrechlich die zwischenmenschlichen Beziehungen sind (Minimum). Schirrmacher packt in dem Buch „Payback“, das 2009 erschien, ein weiteres heißes Thema an, nämlich die Informationsüberlastung unserer Gesellschaft und die Dominanz der Informationstechnologien.

Mehrfach umreißt er die Zukunftsvisionen in den Romanen „1984“ von George Orwell und „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley. Bei Aldous Huxley sind diese Visionen Wirklichkeit geworden. Die Technik beherrscht unseren Alltag. Sie kontrolliert den Menschen, wobei der Mensch Lust und Freude empfindet. Der Mensch ist Gefangener der von ihm geschaffenen Technologie und er sieht sich außerstande, seine Umwelt mit den Hilfsmitteln der Technik selbst zu gestalten. Anstatt dessen wird er dauerhaft manipuliert.

Schirrmacher inszeniert. Aus gigantischen Datenmengen, die täglich gespeichert werden, entwickelt er eine Dramaturgie, wie diese uns – einer Sintflut ähnlich – überschwemmen, Eingang in unsere Köpfe finden, bis wir von einer unsichtbaren Hand gelenkt werden.

Wie Server-Kapazitäten aufgebaut werden, wie unsere Blogs wachsen und wachsen, welche Mengen an Bildern im Internet verfügbar ist, welche Masse von Youtube-Videos im Netz steht, welche Vielfalt an Kommunikation in Facebook abläuft, das ist in der Tat eine technische Revolution. Die Kehrseite dieser Revolution bedeutet aber, dass aus Klicks im Internet, soziale Netzwerken oder Mobilfunknachrichten große Konzerne gigantische Datenwürfel bilden, die Nutzer-bezogen ausgewertet werden.

Schirrmacher sieht das so, dass die Denkleistung, die gewohnterweise unser Gehirn erbringt, zunehmend synthetischer wird. Das muss nicht beunruhigen, denn einen technischen Fortschritt hat es seit und je gegeben. So haben im Handwerk technische Hilfsmittel wie Bohrmaschine, Säge, Fräse oder Flex die händische Arbeit durchweg vereinfacht.

In der Sichtweise eines Aldous Huxley, bringen die Informationstechnologien einen Lustgewinn. Ausgehend vom Menschentypen des Jägers und Sammlers, den Schirrmacher aus den Darwinistischen Theorien ableitet, wird der Mensch zum Jäger auf Informationen. Ein schier unendliches Reservoir steht ihm zur Verfügung. Informationen und Neuigkeiten rennt der Mensch ständig hinterher. In den sozialen Netzwerken hat er Angst, wichtige Nachrichten zu verpassen. Er muss auf dem Laufenden bleiben, um dabei sein zu können. Informationstechnologien können einen ständigen Nervenkitzel befriedigen.

Informationstechnologien belagern die Aufmerksamkeit. Die Menschen werden abgelenkt, es kommt zu Konzentrationsstörungen. Die Informationstechnologien dringen in Bereiche ein, die eigentlich das Denken besetzt. Wir haben verlernt, ohne Google Informationen zu filtern. Wir können nicht mehr „aus dem Bauch“ Entscheidungen treffen, wenn die Probleme komplexer werden. Wir können unsere Denkwelt nicht mehr auf einfache Modelle zurückführen, indem wir Irrelevantes ausblenden. Wir haben verlernt, Wissen miteinander zu verknüpfen. Jenseits der Suchfunktionalitäten in Google kennen wir weder Bücher noch Bibliotheken.

Anstatt dessen sind wir gezwungen, selbst nach den Vorgaben der Informationstechnologie zu funktionieren. Unsere Aufmerksamkeit wird von dem Bedürfnis überlagert, zu neuen Informationen verlinkt zu werden. Dazu kommt, dass Google, Facebook und Youtube ihr eigenes Geschäftsmodell haben, welches über Werbung funktioniert, um Inhalte kostenlos anzubieten. Mithin werden wir sogar über den Verkauf gesteuert, so dass uns der Informationsmüll von Produktangeboten im Internet ständig begleitet.

Schirrmacher bezeichnet es als die zentrale Herausforderung des 21. Jahrhunderts, Herr der Informationstechnologien zu werden. Treffend wählt er für den Umkehrmechanismus das Bild des Käfers. Wenn die Informationstechnologien den Menschen beherrschen, entwickelt der Mensch sich wie in der Erzählung „Die Verwandlung“ von Franz Kafka. Der Mensch degeneriert zu einem Käfer, er ist willenlos, er ist nicht mehr Herr seiner Person, er ist von Selbstzweifeln geplagt.

Schirrmachers Dramaturgie ist an manchen Stellen sicherlich überzeichnet. Die Dramaturgie schärft aber die Sichtweise auf Internet, soziale Netzwerke, Mobilfunknetze – wobei immer die Summe aller Informations- und Kommunikationstechnologien zu betrachten ist. Entziehen können wir uns dem nur, wenn wir vollständig vom Netz abgekoppelt sind und in einem Gebirgstal am Ende der Welt wohnen, in das keine Mobilfunkkommunikation hinein findet.

Wir müssen nach vorne denken. Schirrmacher nennt Gefühle und Intuitionen, um die Herrschaft über die Informationstechnologien zurückzugewinnen. Dass künstliche Intelligenz menschliche Gefühle nachbilden kann, hält Schirrmacher trotz technischen Fortschritts bis auf weiteres für undenkbar. Irgendwo müssen die Grenzen unserer mit Rechenalgorithmen durchdrungenen Welt liegen. Ganz so einfach wird die Weisheit eines Sokrates „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ nicht zu den Akten gelegt werden können.

Daran wird auch eine NSA nichts ändern können. Wir können die Instrumente perfektionieren, wie aus den nutzer-individuellen Datenwürfeln ein gläserner, vollständig durchschaubarer Mensch modelliert wird. Doch ein Rest von trüber, undurchsichtiger Substanz wird bleiben, wenn wir es schaffen, mit unseren Gefühlen für Informationstechnologien unberechenbar zu bleiben.

6 Kommentare:

  1. Ein ungemein interessanter Bericht. Mit einem wunderbaren Schlusssatz von dir. Den müsste man sich glatt hinter die Ohren tackern. Kompliment.
    Gruß vonner Grete

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  2. Hallo Dieter,
    darauf habe ich gewartet.... was Du von Schirrmachers Thesen hälst.
    Mir hat das Buch einige Denkanstöße gegeben. Ist schon erschreckend wie gläsern wir sind. Allerdings sehe ich das so, dass bereits vor dem digitalen Zeitalter Missbrauch mit unseren sensiblen Daten betrieben wurde. Doch zurück in die Steinzeit wollen wir alle nicht... Die Menschheit wird sich rasant verändern. In einigen Jahren tragen wir einen implantierten Chip gekoppelt mit unseren Wünschen und Befehlen... dann ist endgültig "Zahltag". Das mag man gut oder schlecht empfinden, aufhalten können wir das Informationszeitalter nicht.

    Grüße!
    Marita

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  3. Hallo Dieter,
    das ist wieder ein sehr interessanter Post von dir. Willenlos, oder zumindest entscheidungsunfreudig und von Selbstzweifeln geplagt waren die Menschen aber auch bereits vor dem Zeitalter der Computer und dem daraus entstehenden Medienwahnsinn. Bei dem Titel hätte ich eher an das System Kundenkarten und die damit verbundene Datenspeicherung und -weitergabe gedacht. Aber das was du hier beschreibst ist auch sehr interessant. Payback möchte ich auch noch lesen. Finde ich gut, dass du solche kritischen Bücher liest. Ich empfehle dir Markus Breitscheidel: Abgezockt und totgepflegt: Alltag in deutschen Pflegeheimen. Das ist zwar ein ganz anderes Thema, aber auch eines was uns alle angeht, denn wir werden alle älter und die Krankheiten ... Pflegebedürftigkeit kommt.
    Hab einen schönen Start ins Wochenende und sei gegrüßt, Wieczora (◔‿◔) | Mein Fotoblog

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  4. Eine tolle Buchpräsentation, die Lust macht, das Buch zu lesen, zumindest für diejenigen, die es nicht kennen oder den Autor nicht kennen.
    Die Informationsflut, die auf uns täglich einströmt, ist schon enorm und geschickt werden wir von allen Seiten quasi manipuliert.

    Ganz liebe Grüße schickt dir
    Christa

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  5. Hallo Dieter, mit großem Interesse habe ich deine Zeilen gelesen...herzlichen Dank!
    Ja, dein letzter Satz hat es in sich...aber, wie können wir dagegen steuern, dass wir nicht ganz so berechenbar sind, denn bei vielen Erfassungen wissen wir nicht einmal wo und was von uns festgehalten wird.
    Viele Menschen denken von sich, dass man sie nicht manipulieren kann....aber im Strom der Zeit und des Fortschrittes wird so gut wie jeder mitgerissen.
    Über das Thema wie man einigermaßen gegen steuern kann, gibt es wohl kaum ein Buch, oder?
    Schönes Wochenende wünsch ich dir!
    Herzlichst MinaLina

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  6. Danke fürs Zeigen... fürs Vorstellen und Danke für Gedankenanregung.

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