Liebe Leserin, lieber Leser, bitte denke nicht, es sähe im
Rheinland überall so aus ! Es gibt sehr viele schöne gemütliche Ecken im
Rheinland. Aber dies ist die Realität rund um Köln. Ein Industriegürtel, dessen
Dichte in Deutschland wahrscheinlich einmalig ist, hat die Randgebiete von Köln
fest im Griff. Bayer-Werke in Leverkusen, chemische Industrie in
Köln-Merkenich, Bayer-Werke in Dormagen, Braunkohlekraftwerke bei Bergheim,
Braunkohleveredelung in Hürth, chemische Industrie in Hürth, Ölraffinierien in
Köln-Godorf. Die eine oder andere Dreckschleuder ist dabei, wenn die Abgase sich
wie ein schmieriger Film vor den Himmel schieben und wenn der Wind schwere
Rauchwolken aus Schornsteinen durch die Gegend pustet.
Wesseling war eine dicke Pille, die ich schlucken musste,
als wir 1991 in unseren Ort zogen. Wesseling liegt zwar nicht direkt vor unserer Nase, aber auf der anderen Rheinseite fällt der Blick zwangsläufig auf diese apokalyptische Industriekulisse. Noch heute, mehr als zwanzig Jahre später,
tue ich mich schwer damit. Aufgewachsen im Grünen – wo genau, das zeigt
übrigens sehr schön Angelika auf ihrem Blog – ist mir dieser
Perspektivenwechsel auch heute noch zu krass.
In der Schule war Chemie eines meiner Lieblingsfächer. Aber
eine solche Industrie in Reichweite ? Die Produktionsanlagen haben etwas
Flüchtiges, Unnahbares, Mysteriöses, Dubioses, Undurchsichtiges. Im Gegensatz
zu der in NRW ebenso beheimateten Kohle- und Stahlindustrie. Hochöfen, Kokereien oder
Zechen habe ich eine verdeckte Schönheit abgewinnen können, die Struktur hat. Es
ist festgelegt, welche Produkte dabei rauskommen. Man kann sie greifen und
anfassen.
Chemische Produktionsanlagen ? Seveso ist überall. Giftgaskatastrophen
wie in Seveso oder Bhopal können nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Wenn ein
Kessel explodiert und einem um die Ohren fliegt, dann verbergen sich die
Gesundheitsschäden hinter einer unsichtbaren Materie und hinter schablonenhaften
Formeln, die kein Mensch versteht. Ruhe bewahren, alles im Griff. Überwachung,
Kontrollen und die Werksfeuerwehr sorgen dafür, dass nichts aus den Fugen
gerät. Die einzige Schwachstelle ist der Mensch. Fehler können der letzte
Anstoß für eine technische Katastrophe sein. So haben sich im Februar diesen
Jahres auf der Shell-Raffinerie Lecks in den Rohren gebildet. Sage und Schreibe
EINE MILLION LITER KEROSIN sind ausgelaufen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.
Ich muss die Blickwinkel variieren, drehen, wenden, mich auf
den Kopf stellen, von unten betrachten, um mich Wesseling und der Chemie zu
nähern. Einmal hatten wir einen positiven Berührungspunkt. Bei seiner
Lehrstellensuche war unser Sohnemann zu einem Eignungstest eingeladen: bei der
Lyondell Basell Polyolefine GmbH. Am Tag davor hatten wir im Internet gesurft,
was in dieser Firma alles abläuft und gemacht wird. Also: von Wilhelmshaven und
Rotterdam wird über eine Pipeline Rohöl nach Wesseling gepumpt. In Raffinierien
wird dieses in die einzelnen Öl-Produkte getrennt. Was nicht im Autotank oder
Heizöltank oder als Kerosin im Flugzeugtank landet, wird im weiteren Sinne als
Kunststoffe verarbeitet. In der Firma, in der unser Sohnemann den Eignungstest
machte, waren es Granulate aus Kunststoffe. Diese können wiederum in sehr
vielen Endprodukten aus Kunststoffe landen. Zum Beispiel LEGO-Steine. Das war
endlich greifbar, zum Anfassen. Diese kryptische Welt aus Rohren, Türmen, Destillationsanlagen
oder Kesseln wurde dadurch anschaulicher. Versponnen in einem Netz von
Lichtkegeln, versprüht dieses Gefüge bei Nacht sogar einen Hauch von Romantik. Übrigens: den Eignungstest hatte unser Sohnemann nicht bestanden. Eine Lehrstelle hatte er anderweitig gefunden. Tiefere Einblicke in die chemische Industrie sind uns somit verwehrt geblieben.
Ich tröste mich, dass andere Einwohner noch näher dran
wohnen. Wenn ich nach Wesseling komme, ist die Chemie für mich jedes Mal die
Reise auf einen fremden Industrieplaneten. Eine Zeit lang tauche ich in eine
Endzeitstimmung ein. Eine Faszination für diese technischen Größenordnungen
kommt nicht auf. Wenn meine Berührungsängste verschwunden sind und sich meine
Augen an dieses Gewirr von Anlagen gewöhnt haben, habe ich Wesseling meist
wieder verlassen. Die Einwohner Wesselings werden sich mit der chemischen
Industrie arrangiert haben. Die Anlagen werden das Befremdende verloren haben,
wahrscheinlich arbeiten viele Wesselinger auch dort.
Da Wesseling auf der „Schäl Sick“ (=andere Rheinseite für
Nicht-Rheinländer) liegt, bleiben die Besuche Wesselings eine kurze Episode. Die
Auenwälder des Rheins dämpfen den Blick auf die Industriekulisse. Wesseling ist
und bleibt eine bittere Pille. Vielleicht komme ich tatsächlich zu selten nach
Wesseling, um die verborgenen Reize zu entdecken.
Lieber Rainer
AntwortenLöschenIch gehöre zu den Menschen die diese Art von Industrie nicht mag, der Anblick alleine erschrickt mich schon.
Da denke ich hier an das Kraftwerk Weisweiler, mein mann mußte das beruflich hin und ich habe ihn begleitet. Erschreckend rund herum Wohnhäuser, Kindergarten und Schulen. Ich habe da nicht nur Berührungsängste, ich finde es erschreckend. Das von Shell habe ich in den Nachrichten gehört und auch das sie sich gegen Auflagen wehren. Bei diesem Konzern sollte man nicht mehr tanken. Tun anschaeinend auch viele, denn es gibt nun Tankgutscheine beim Einkaufen.
Die Menschen wissen schon wie sie Mutter Natur Schaden zu fügen könne und sie kaputt machen, aber das ist ihnen egal, hauptsache die Gewinnspanne stimmt.
Hab einen schönen Samstag und sei ♥ lich gegrüßt
Angelika
Ich habe mal rund zwei Jahre in Urfeld gewohnt mit Blick auf die chemische Industrie. Nach der Gartenarbeit musste man sofort duschen, sonst bekam man Ausschlag. Offenbar kannte das die von mir aufgesuchte Hautärztin in Wesseling aber schon. Sie riet mir, z. B. Kaffee nicht zu lange stehen zu lassen, sondern zügig auszutrinken. Wir sind dann lieber nach Bonn umgezogen. Die in Urfeld ausgelöste Allergie aber begleitet mich noch heute.
AntwortenLöschenIch wünsche Dir ein schönes Wochenende! (Und Angelika auch!)
Ja, Wesseling und seine Industrie. Wir sind ja etwas näher dran als du und wenn ich aus unserem Bürofenster zu Hause blicke, dann sehe ich einen kleinen Teil dieser Anlagen in der Ferne. Da wir am Hang wohnen ist das ja möglich.
AntwortenLöschenSchön ist anders, aber ich wohne ja schon immer hier und so gehört auch das zu meiner Heimat dazu, auch wenn ich es lieber anders hätte *augenroll*