Der Zug stand abfahrbereit, mein
Blick tatstete sich träge zwischen stehenden Menschen, bis ich direkt vor mir
die freie Lücke an einem Vierer-Sitzplatz erspähte. Eine Mama, zwei herum
tollende Jungs, ich dachte mir nichts dabei. Abfahrt. Ich packte ein Taschenbuch
aus, um mir die Bahnfahrt mit Lesen zu v ertreiben. Der himmelschreiende
Schornstein der Müllverbrennungsanlage rückte nahe an mir heran. Dann wurden
die Gleise schmaler und passierten grüne Oasen von Kleingärten.
Die Mama, knapp über dreißig,
eine langärmelige Karobluse über einer Jeanshose, eine Halskette aus ovalen
Steinen, die Hände gefaltet, sie schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Wir
saßen uns schräg gegenüber, genauso wie ihre beiden Jungens. Der Bewegungsdrang
des Jüngeren, der neben mir saß, war nicht zu bändigen. Sein grasgrünes Sweatshirt
mit einem Neuneck von Dinosauriern trug die Aufschrift „DINOSAURRR !“ So wie
hinter den drei „R“ hörte er nicht auf, Ausrufezeichen zu setzen, dass er da
war. Er kletterte auf, über und unter die Sitzpolster. Seine Schuhe traten
dorthin, wo sie zufälligerweise landeten – dabei wurde ich nicht verschont.
Zwischen den Sitzen grinste er die hinter uns sitzenden Fahrgäste an, die nicht
so richtig wussten, was sie von diesem kindischen Gehabe halten sollten. Die
Kletteraktion war bisweilen so atemberaubend, dass er drohte, nach hinten weg
zu kippen.
Die Unruhe seines größeren
Bruders war nicht ganz so unkontrolliert. Er hatte sich in einer Schlafstellung
zusammen gerollt, wobei sein Kopf über die Sitzlehne herausragte. Die eine Hand
hatte er in seine Stoffhose gesteckt, die andere Hand schwenkte ein Bilderbuch
mit lauter Baggern vor seiner Nase herum, die symmetrisch über seinen
rundlichen Kopf verlief.
Dass ich in dem Kriminalroman
„Tödlicher Klüngel“ lesen könnte, daran war nicht zu denken. Ständig haschten
die Blicke des Jungen nach mir, die Fußbewegungen gingen um Haaresbreite an
meinem Körper vorbei, ein Sturz konnte bei der Herum-Turnerei nicht
ausgeschlossen werden. Anderen Fahrgästen war das übermotivierte Verhalten
ebenso nicht entgangen.
Sollte ich mich in die
Erziehung einmischen ? Sollte ich der Mama sagen, dass sie ihren Jungens sagen
sollte, was sie dürfen und was sie nicht dürfen ? Als ob sie meine Gedanken
erraten hätte, drehte sie sich weg vom Fenster. Da die Bahnlinie sich unterhalb
der Böschung verkroch, blieb der Ausblick an eintönigem Gestrüpp hängen. Mein
Blick wies eindeutig auf ihren Sohn, dessen Gebaren aktionsgeladen war wie das
Kriegsgeschehen in einem Star-Wars-Film.
Entschuldigend meinte sie: „Im
Zug sind die beiden so anstrengend. Wenn ich sie daran hindere herum zu toben,
schreien sie den halben Zug zusammen. Zu Hause können sie so lieb sein.“
Zu Hause ? Wären die beiden
dort wirklich anders ? Ich dachte mir, dass die beiden so anstrengend
waren, weil Erziehung fehlte. Wahrscheinlich hatte die Mama mit den
kastanienbraunen langen Haaren gar keine Lust darauf, ihre Kinder zu erziehen.
Oder sie war überfordert damit. Oder sie war alleinerziehend. Aber umgekehrt
hatte ich in meinem Leben so viele alleinerziehende Mütter kennen gelernt,
deren Kinder sehr wohl erzogen waren.
Desinteressiert, senkte sich ihr
Blick zurück auf diesen passiven Himmel, der sich von mächtigen Wolkengebilden
zerfurchen ließ. Pralle Salatköpfe zogen auf Feldern vorbei. Ungebremst, tobte
der Kleine fleißig herum. Es war ihr egal, was ihre Kinder trieben.
Wozu Erziehung ? Vielleicht
schwebte der Mama die Illusion vor, dass sie störte, wenn ihre Kinder nicht das
tun konnten, was sie wollten. Welchen Mehrwert hatte Erziehung ? Schule,
Lehrer, Mitschüler, Vereine, Freizeitaktivitäten, es gab so viele, die bei der
Erziehung mitredeten. Alle wollten es besser machen. Konnte sie sich da nicht
zurücklehnen und die anderen machen lassen ?
Ich war zwar in die Jahre
gekommen, aber in solch einer Situation hätte ich mich mit meinen eigenen
Kinder beschäftigt. Bilderbücher, etwas essen oder trinken oder ich hätte ihnen
von der Landschaft oder von der spannenden Fahrt mit der Eisenbahn erzählt.
Als ich aus dem Zug ausstieg,
war ich bedient. Die Mama brauchte sich nicht zu wundern, wenn aus ihren
Kleinen in einigen Jahren Monster würden. Die nicht mehr beherrschbar
waren. Die sie nicht mehr bändigen konnte. Die bekamen, was sie wollten. Die
machten, was sie wollten.
Ach ja, die Mentalität einiger Menschen unter der heutigen Elterngeneration ist für mich oft auch nicht nachvollziehbar. Die kriegen die Kinder für die Gesellschaft und sehen nicht als IHRE Aufgabe an, die Kinder zu erziehen. Wird ihnen vielleicht auch zu oft suggeriert durch dieses ganze Betreungsgerede.
AntwortenLöschenGute Nacht!
Astrid
Hallo Dieter,
AntwortenLöschenDanke für diesen sehr interessanten Post. Leider wird scheinbar generell immer weniger Wert auf Erziehung gelegt - nicht nur bei bestimmten Herkunftswurzeln oder sozialen Schichten. Das betrifft auch das Lernen im Elternhaus - vom Essen angefangen über die Hausarbeit bis hin zu kleineren Raffinessen, wie z.B. ein Abfluss zu entstopfen ist.
Ein gemütliches WEwünscht dir, Wieczora (◔‿◔) | Mein Fotoblog
Einen wunderschönen guten Morgen, lieber Dieter!
AntwortenLöschenIch liebe Zugfahrten, so wie Du sie beschreibst - ACHTUNG: Sakasmus!!!
Genauso wie Du, kann auch ich nicht verstehen, wenn Menschen so rücksichtslos sind - als wäre es eine nicht zu überwindende Hürde, den Kinder zu erklären, was sie dürfen und was nicht - als wäre es unmöglich, sich um die eigenen Kinder zu kümmern - es gibt so viele schöne Dinge, die man tun kann, um Kinder von ihrem Vorhaben abzulenken. Klar, es kann immer mal vorkommen, dass Kinder nicht kooperativ sind und all die Bemühungen der Eltern über den Haufen rennen, aber dass sie sich nach hintenlehnen, aus dem Fenster starren und "was geht mich das an" an den Tag legen, das geht überhaupt nicht. Ich denke da genauso wie Du, Kinder brauchen ihre Grenzen!
Aber ganz ehrlich, die beiden Kleinen können nichts für ihr Verhalten, es sind die Eltern, die zu diesem Fehlverhalten beigetragen haben.
Ich wünsche Dir einen wundervollen, sonnigen Sonnabend!
Liebe Grüße,
Claudia
Kann mich nur anschliessen, denn dieses rücksichtslose Verhalten ist alleine der Mutter zuzuschreiben. Sie will doch nicht wirklich die anderen Menschen für dumm verkaufen und behaupten dass die Kinder zu Hause so lieb sein können.
AntwortenLöschenIch finde es auch schlimm wenn es an Erziehung mangelt. So sollen Kinder auch Kinder sein dürfen, aber sie müssen sich auch in der Gesellschaft zurechtfinden können, Benehmen ist ein A und O der Erziehung, und was aus diesen Kindern mal wird kann man sich denken.
Kinder wollen auch erzogen werden und brauchen Grenzen, mit Liebe vermitteln ist dies möglich und dann macht es doch auch als Eltern viel mehr Spaß wenn man überall herzlich Willkommen geheißen wird.
Das es ihr überhaupt nicht peinlich ist lässt für mich darauf schließen dass sie es schon aufgegeben hat und überfordert ist.
Bei solchen Situationen hätte ich auch nicht lesen können, allerdings bin ich auch nicht sicher dass ich meinen Mund hätte halten können.
Von daher, hab ein entspanntes Wochenende.
liebe Grüssle
Nova
Hallo Dieter
AntwortenLöschenHabe das Gefühl das die Erziehung im allgemeinen auf der Strecke bleibt und nicht mehr so viel Wert darauf gelegt wird. Traurig aber wahr. Es ist echt schwierig in solchen Situationen, ich hätte nicht den Mund gehalten...
Liebe Wochenendgrüße
Angelika
Guten Morgen Dieter, das war ja eine "heitere" Bahnfahrt... mannomann.
AntwortenLöschenIch gebe Dir recht, frei nach dem Motto: "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr", werden aus den Jungs rüpelhaft Pubertierende und später dann nichtkommunikativfähige Erwachsene. Armes Deutschland...
LG Marita
Als die ersten Eltern mit der Erziehung ihrer eigenen Kinder überfordert waren, nannten sie es flugs antiautoritäre Erziehung und Laissez-faire... und heute sind eben die damals so "erzogenen" Kinder mit der Erziehung des eigenen Nachwuchses dran. Woher soll es denn kommen?
AntwortenLöschenIch habe in vergleichbaren Situationen auch schon den Mund aufgemacht und Mutter (bzw. Vater) und Kind(er) zur Ordnung gerufen.
Leider war es im Anschluß aber so, daß man von anderer Seite zu hören bekommt, man sei gegen Frauen, gegen Kinder im allgemeinen, gegen den aktuell über die Stränge schlagenden Nachwuchs im besonderen, gegen die Gesellschaft sowieso, und sooo schlimm sei der laut tobende Ausbund an Wildheit nun auch wieder nicht. Selbst wenn dieser gerade laut brüllend sein Plastikspielzeug an jemandes fremder Kniescheibe zerschreddert. ;-)
Mich stört aber ein kleines bißchen ein Vorurteil in Deinem Beitrag: Du setzt "schlechterzogene Kinder" mit "alleinerziehende Mutter" gleich. Das kann man so pauschal nicht behaupten. Vielmehr geht die Unfähigkeit zur Erziehung quer durch alle Gesellschaftsschichten und hat mit den familiären Verhältnissen m.E. weniger zu tun. Ich selbst bin zum Beispiel alleinerziehende Mutter und meine Kinder sind Eins A erzogen. :-))
Noch eine Überlegung zum Abschluß: für alles und jedes braucht es in Deutschland eine anerkannte Ausbildung. Nur für das Wichtigste, was ein Mensch persönlich zur Gesellschaft beitragen kann, nicht. Jede/r kann Kinder in die Welt setzen, wie er/sie lustig ist, ohne auch nur minimale Befähigungen, Kenntnisse, Fertigkeiten nachweisen zu müssen... weil die Erziehung ja praktischerweise ohnehin das Fernsehen, Kinderkanal und toggo (und wie sie alle heißen) bzw. der Staat, Schulpflicht sei Dank, übernehmen. Zumindest könnte man, angesichts der Massen an fehlerzogenen KIndern, auf diesen Gedanken kommen. !!!
Viele Grüße, Sathiya
Dieses Phänomen, dass Kinder völlig unerzogen sind,
AntwortenLöschentrifft man mehr und mehr an. Ob in der Eisenbahn oder
im Bus. Ich habe mehr als einmal einen blauen Fleck
davongetragen.
Noch schlimmer finde ich es allerdings, wenn die lieben
Kleinen ungebremmst und völlig enthemmt in den Warte-
zimmern herumtoben. Auch da kommt nie ein Machtwort.
Aber es ist nicht unsere Aufgabe, hier erziehend ein-
greifen zu müssen. Irgendwann fällt es auf die alles
duldenden Eltern zurück.
Ein schönes Wochenende wünscht dir
Irmi
Oh je...mich hätte das auch sehr gestört.
AntwortenLöschenMeinen Töchtern hätte ich das z.B. nicht durchgehen lassen.
Und warum sich die Frau nicht mit ihren Kindern beschäftigt hat ist mir ein Rätsel...
Tja,in Zukunft schaust du bestimmt genauer hin wo du dich im Zug hinsetzt... ;-)
Line
Schrecklich, das Verhalten der Mutter. Mir fiel auch gleich ein, dass ich etwas gesagt hätte, aber dann wahrscheinlich gleich das mit der 'Kinderfeindlichkeit' gekommen wäre. Ähnliches kann man ja auch manchmal im Restaurant beobachten. Die lieben Kleinen dürfen alles, weil die Eltern keine Lust haben, sich einzuschränken oder sich mit ihnen zu befassen. Meine 'Kinder' sind inzwischen Erwachsene mit guten Manieren und da bin ich stolz drauf. Es macht das Leben für alle besser, wenn man rücksichtsvoll miteinander umgeht. Meine Kinder wussten immer: hier darf ich toben, z.B. auf dem Spielplatz zusammen mit anderen Kindern oder im Garten und dort muss ich Rücksicht nehmen, weil andere Menschen um einen herum sind.
AntwortenLöschenDein Artikel hat mich etwas nachdenklich gemacht, sozusagen Erinnerungen wachgerufen...
AntwortenLöschenMeine Kinder (Mädchen und Junge) heute 24 und 19 Jahre alt habe ich alleine gross gezogen nach meiner Scheidung da waren sie im Grundschulalter.
Ich glaube das Problem unserer Zeit ist es eben das Eltern sich zuwenig Zeit für ihre Kinder nehmen.
Egal ob Zuhause oder in der Bahn,wir haben stundenlang gespielt, Geschichten erzählt, gebastelt usw.
Ich glaube die Kinder waren so beschäftigt die hatten gar keine Möglichkeit "nervig" zu sein -lach- Das wichtigste ist das man diesen "Job" Mama oder Papa zu sein echt mag und ernst nimmt.
Und mit unendlich viel Liebe und Humor sieht.
Inzwischen sind beide erwachsen, haben beide Schulabschluß sowie Berufsausbildung mit Topnoten hingelegt, ich habe zu beiden ein wunderbares Verhältniss und wir haben täglich Kontakt.
Alleinerziehend ist nicht leicht - nein - und es gab Momente da bin ich innerlich verzweifelt vor Angst das alles hinzubekommen. Aber auch als Elternteil alleine kann man Kinder "erziehen"
LG, Michaela :-)
Ja, nun verstehe ich, warum Du Dich lieber aufs rad schwingst ;) Aber immer u. überall geht das nun mal nicht ...
AntwortenLöschenIch finde, erziehung geht mit dem ersten lebenstag los, kinder brauchen einfach grenzen, sie sollen ja auch eine orientierungshilfe für ihr leben sein.
Dein erlebter "fall" ist leider kein einzelfall, aber an wem sollen sich diese kinder orientieren, wenn ihre "erziehungsberechtigten" schon versagen. Erziehung sollte erste pflicht der eltern sein u. nicht anderen einrichtungen zugeschoben werden. Aber was rede ich mir den mund fusselig .... die es betrifft, die lesen eh nicht hier im blog.
Nachdenkliche grüße - ein trost, ich kenne sehr viele gut erzogene kinder, mit verantwortungsbewußten, liebevollen eltern.
Bine
Ohja, solche Situationen kenne ich auch noch zu Genüge von meinen täglichen Bahnfahrten Dieter. Das Schlimme daran ist, dass das heute fast schon Alltag ist und immer mehr Väter und Mütter ihre Kinder machen lassen, was sie möchten. Mütter sind oft einfach nur überfordert. Manchmal kommt es mir auch so vor, dass sie ihre Kinder machen lassen, damit sie selbst sich eben nicht mit ihnen beschäftigen müssen, denn das ist schließlich anstrengend *augenroll*
AntwortenLöschenEntweder sollte man sich bewusst für Kinder mit allen Konsequenzen entscheiden oder aus Bequemlichkeit dagegen ... da hätte so manches Kind mehr von !