Montag, 6. Mai 2013

Rübensirup


An den Geschmack erinnere ich mich düster. Fade und schal muss er gewesen sein. Ich erinnere mich an diese dunkelbraune Masse, die zäh dahin floss. Was neben das Brot floss, verklebte alles. Im Mund formierte sich eine Ansammlung von Zucker, die alles andere überlagerte. Meine Geschmacksnerven konnten sich drehen und wenden, wie sie wollten. Das Brot mit Rübensirup wiesen sie zurück. Die Bissen drohten mir im Halse stecken zu bleiben, bis ich sie hinunter würgte.

Rübensirup oder Siepnaat – wie wir es zu Hause nannten – gehört zu den Negativerlebnissen aus meiner Kindheit. Meine Eltern waren stets darauf bedacht, dass es an guter und nahrhafter Ernährung nicht mangeln sollte. Doch irgendwann geschah es in meiner Grundschulzeit, als sie vergessen hatten, beim Metzger oder im Tante-Emma-Laden in unserem Dorf einzukaufen. Marmelade und Rübensirup – das war alles, was auf unserem Frühstückstisch stand.

„Was soll ich essen ?“ verzweifelte ich.
„Bis in die Nachkriegszeit haben wir zum Frühstück und zum Abendessen nichts anderes zu essen bekommen.“
„Davon wird man doch nicht satt.“
„Das hat uns sogar geschmeckt.“

Ein Glas mit selbst gemachter Erdbeermarmelade und der gelbe Becher vom Grafschafter Goldsaft, das ist aus meiner Kindheit haften geblieben.

Beides verbanden meine Eltern mit der Kriegs- und Nachkriegszeit, mit Not und Elend, mit dem Kampf, an die tägliche Essensration heran zu kommen. In Zeiten der Not hatten die Bauern stets einige Zuckerrüben übrig. Sie wurden geputzt, gesäubert, in Scheiben geschnitten und in Wasser weich gekocht. Daraus wurde ein Saft ausgepresst. Dieser wurde gekocht, bis daraus eine zähe, dicke Masse wurde. Als sich die Zeiten gebessert hatten, änderten meine Eltern ihre Eßgewohnheiten wenig. Längst konnten sie sich Wurst und Käse leisten, doch auf ihren Rübensirup verzichteten sie nicht – genauso wenig wie auf ihre selbst gemachte Marmelade. Rübensirup und Marmelade waren zu einem Symbol geworden, dass sie damit selbst als Kind die kargen Zeiten überlebt hatten. Uns als Kinder wollten sie vermitteln, dass es solche Zeiten gegeben hat.

Es klingt erstaunlich, dass sich bis heute der Grafschafter Goldsaft mit seinem gelben Becher erhalten hat.

Ich sollte erst Jahrzehnte später kennen lernen, wo die Grafschaft liegt. Weite Teile des Rheinlands – vor allem die Jülicher Börde – sind vom Zuckerrübenanbau beherrscht, wenngleich EU-subventionsbedingt die Anbaufläche zurückgegangen ist. Als Beiprodukt wird neben der reinen Zuckerproduktion auch Rübensirup hergestellt.

Grafschafter Goldsaft ist im Rheinland praktisch die einzige Firma, die Rübensirup herstellt. Dabei irritiert die Ortsbezeichnung „Grafschaft“, denn bereits seit 1900 wird Rübensirup im zehn Kilometer entfernten Meckenheim hergestellt. Noch irreführender: auf dem Logo erscheint die Tomburg bei Rheinbach mit Obstplantagen (und ohne Zuckerrübenfelder). Zuckerrüben werden garantiert von irgendwo anders nach Meckenheim gekarrt, denn rund um Meckenheim wachsen nirgendwo Zuckerrüben.

Mit dem Grafschafter Goldsaft hat genauso der gelbe Becher überdauert. 1953 wurde er als neue Verpackungsidee auf den Markt gebracht. Davor wurde er in Fässern in die Geschäfte geliefert. Dort wurde er in Eimer, Gläser und andere Behältnisse gefüllt. Rübensirup im gelben Becher erlebt heutzutage eine regelrechte Wiederauferstehung. Rezepte mit Rübensirup erfreuen sich höchster Belebtheit, so beim Kochen und Backen (siehe beispielhaft in Nelja's Blog).

Ich gehe davon aus, dass Rübensirup immer noch  nicht mein Geschmack ist. Seit meiner Kindheit habe ich ihn nie mehr probiert.

„Ist mir zu zuckersüß“ würde heute meine Antwort lauten. Genauso unselig fühle ich mich, wenn ich eine ganze Tüte Gummibärchen in mich hinein gestopft habe. Oder irre ich mich mit meinem Geschmack ? Der gelbe Becher mit dem Grafschafter Goldsaft hat bislang keinen Eingang in unseren Haushalt gefunden. Im Gegensatz zu anderen Bloggern, die stolz ihre Koch- und Backrezepte mit Rübensirup zeigen.

12 Kommentare:

  1. Hi meine Lieber, Rübenkraut gehört zum Vollkornbrot backen dazu. Mein Mann und Giuliana essen das Zeugs sogar auf Reibekuchen. Ich mag die klebrige zähe Masse wohl auch nicht. Aber selbstgekochte Marmelade und Gelee gehören auf den Frühstückstisch.

    Liebe Grüße
    Angelika

    AntwortenLöschen
  2. "...eine ganze Tüte Gummibärchen in mich hinein gestopft...? *staun* Verkraftet dein Körper so viel Zucker???
    Immer wieder neue Marketingstrategien, um alte Dinge zu verkaufen. Ich bin aber nicht für Zuckersirup zu haben. Was soll das bringen??? Es ist ungesund und schmeckt nicht viel anders als Zuckerkrümel, die auch ganz gut auf Streichfett haften bleiben. Dann lieber brauner Kandiszucker zum lutschen.
    Guck mal bei Irmi. Da habe ich deinen cmt kommentiert.
    Danke für deinen cmt.: In Ghettos leben WOLLen? Sie werden auch heute noch ausgegrenzt. :b
    In anderen Städten sind die Türken übrigens besser integriert als in Berlin, z.B. Frankf aM. Bei uns ist aber auch viel geschehen, wenn wir uns z.B. mal Bilder von früher und heute ansehen.
    Mitternachtsgruss, Wieczora (◔‿◔) | Mein Fotoblog

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. :b sollte jetzt ein :( sein. Da bin ich mit der Smiley-Eingabe bei mir durcheinandergekommen.

      Löschen
  3. Fortunately, the bad times have past and now all people enjoy favorite dishes. (I also like the jelly beans!)
    Have a beautiful week and I hope have understood the post, the translator isn't very good : D
    LieBe GrüBe

    AntwortenLöschen
  4. Och, hin und wieder, wie z.B. auf Reibekuchen oder auch mal auf eine Brötchenhälfte mag ich das auch. Vor allem auch zum Kochen, verfeinern.... da gibt es einen besonderen Geschmack. Bei den Obstplantagen musste ich sofort an die anderen Produkte von denen denken, denn da bin ich mal in den Genuss gekommen:

    http://casa-nova-tenerife.blogspot.com.es/2008/11/post-von-grafschafter.html


    Haben mir Alle sehr gut geschmeckt, und kann immer noch sagen dass mich deren Antwort und Verhalten heute noch begeistert.

    Liebe Nachtgrüssle
    Nova

    AntwortenLöschen
  5. So unterschiedlich sind die Geschmäcker. Schon als Kind (damals in Düsseldorf) habe ich das "Rübenkraut" genau so geliebt wie das Grafschafter "Apfelkraut". Höchster Genuss für mich, mit Butter auf Bauernstuten, auf Reibekuchen oder auch ganz normalem Grau- oder Schwarzbrot. Und ehrlich, auch heute steht es sehr häufig auf dem Frühstückstisch. Eine Brötchenhälfte mit Butter, Rübenkraut und Quark, lecker.

    Und meinen Kindern habe ich diese Vorliebe anscheinend mitgegeben, auch sie mögen es heute noch.

    AntwortenLöschen
  6. Hallo Dieter,

    bei uns heißt das Zeug Fenner Harz, ist aber im Prinzip Grafschafter Goldsaft, nur dass die Saarländer es unter diesem Namen nicht kaufen wollten, so blieb es dann beim Fenner Harz. Vor über hundert Jahren wurde es im etwas ausgelagerten Industriegebiet meines Wohnortes hergestellt. Persönlich kann ich mich da auch nicht für erwärmen, ist mir auch zu süß und dabei von der Konsistenz her auch merkwürdig.

    Lieben Gruß,
    N.

    AntwortenLöschen
  7. *lach* So sind die Geschmäcker verschieden. Als kleines Kind, draußen, habe ich immer zu meiner Mutter hochgerufen, sie solle mir ein Butterbrot mit Rübenkraut schmieren. Das war meiner Mutter peinlich, weil das als Arme-Leute-Essen galt (wie du ja auch schreibst).
    Und dann oute ich mich mal: ich esse morgens gerne Süßes und weil ich Schokocreme ungesund finde (weißer Zucker), habe ich neulich Rübenkraut ausprobiert und mir schmeckt es. Zumindest sind da noch alle Mineralstoffe drin, die dem Zucker eigentlich natürlicherweise zu Eigen sind.
    Grüße aus Köln,
    Franka

    AntwortenLöschen
  8. Dieter - wie auch Franka - so sage ich: Ich liebe Rübenkraut.
    Gerade heute gab es bei mir Kartoffelpuffer mit Rübenkraut.
    So kenne ich das aus meiner Jugendzeit im Sauerland. Seit einiger
    Zeit gibt es bei uns in einem Supermarkt diese Köstlichkeit auch.
    Ende 1945 bekamen wir einen Eimer Rübenkraut (Schwarzmarkt). Das war
    ein wirklicher Glücksfall.Es war wirklich ein Armeleute-Essen. Aber
    was tut man nicht alles, damit man überlebt.
    Einen schönen Dienstag wünscht
    Irmi

    AntwortenLöschen
  9. Haha! Ich mag Rübensirup überhaupt nicht, aber mein Mann (der kommt ja aus dem Rheinland) steht total auf das Zeug :-).

    AntwortenLöschen
  10. Das solltet Ihr mal Probieren!!
    Eine Scheibe frisches Graubrot mit Butter bestreichen dann Rübenkraut darüber und dann
    dick mit Quark abdecken. In meiner Jugend war das angemachter Schichtkäse) Herrlich die Kombination des süßen Rübenkraut mit der leichten säure des Quarks. Da erlebe ich meine Jugend wieder.
    Gruß Wolfgang aus Bonn

    AntwortenLöschen