Donnerstag, 14. März 2013

Glockentürme (10): Madame Bovary und die Kathedrale von Rouen / Frankreich


Ihre Liebe begann unter einem Glockenturm.

Emma hatte Léon schon vor vielen Jahren kennen gelernt, als sie und ihr Mann Charles ihr Haus in Yonville in der Picardie gekauft hatten. Er war Notariatsgehilfe. Als der Notar sie zu einem Abendessen eingeladen hatte, erzählten sie sich dieses und jenes. Sie waren sich sympathisch, und Emma spürte, dass Leidenschaft und Gefühle entflammt worden waren.

Sie, Emma, sie war die „Madame Bovary“ in Gustave Flaubert’s Meisterwerk. Tanz und Vergnügen, Bälle und rauschende Feste, gesellschaftliche Anerkennung und aufregende Ereignisse – das vermisste sie in der Provinz Nordfrankreichs. Sie war extrovertiert und wollte unter Menschen. Sie wollte neue Horizonte entdecken und gab sich nicht mit dem zufrieden, was sie hatte. Der Dorfalltag war so langweilig wie ihr Ehemann Charles: als Landarzt verkörperte er ein Mittelmass, er brauchte seinen strukturierten Alltag, er fand sich in den vertrauten dörflichen Strukturen zurecht. Er suchte die Ruhe und zog sich gerne zurück. Kurzum: ihre Lebensentwürfe passten nicht zueinander.

Mit ihren Abenteuern der Liebe suchte Emma diesem tristen Alltag zu entkommen. Nach ihrer ersten Begegnung hatten sie sich aus de Augen verloren, denn Léon war nach Paris gezogen. Dort studierte er Jura. Zufälligerweise, als sie mit ihrem Ehemann eine Theatervorstellung in Rouen besuchte, traf sie Léon. Er hatte mittlerweile sein Jura-Studium beendet und lernte bei einem Richter die Rechtspflege in der Départements-Hauptstadt der Normandie.

Charles war ein fürsorgender und besorgter Ehemann, der die Liebschaften seiner Ehefrau nicht im Auge hatte. Als Emma Interesse auf Klavierspielen zeigte, schickte er sie regelmäßig nach Rouen, um Klavierunterricht zu nehmen. Doch sie lernte kein Klavier, sondern traf sich mit ihrem Liebhaber.

Um 11 Uhr an der Kathedrale. Als Treffpunkt für das Rendez-vous hatten sie die gotische Kathedrale ausgewählt, eine der Glanzpunkte des Kathedralbaus in Nordfrankreich. Léon war aufgeregt und schon zwei Stunden früher stand er vor dem Hauptportal. Endlich kam sie. Sie lagen sich in den Armen, sie küssten sich ohne Ende und ihre Leidenschaft füreinander wollte nicht aufhören. Ein Schweizer drängte sich auf, sie durch die Kathedrale zu führen. Emma und Léon schafften es nicht, ihn abzuwimmeln.

Er erzählte über die Glocke der Kathedrale von Rouen:
„Das hier ist der Umfang der berühmten Glocke des Amboise. Sie wiegt vierzigtausend Pfund und hat ihresgleichen nicht in Europa. Der Meister, der sie gegossen hat, ist vor Freude gestorben …“
Der Schweizer bot ihnen an, den Glockenturm zu besteigen. Doch sie lehnten ab, Léon gab dem Schweizer ein großes Silberstück, sie verließen die Kathedrale durch das Hauptportal. In einer Pferdekutsche wollten sie für sich alleine sein. Ziellos fuhr die Pferdekutsche durch Rouen. In höchsten Sphären schwebend, ließen sie die Stadt mit ganz vielen Fachwerkhäuser vorbei gleiten.

Diese Rendez-vous’ konnten sich wiederholen, denn einmal wöchentlich hatte Emma Klavierunterricht in Rouen, und einmal wöchentlich konnten Emma und Léon ihre heiße Leidenschaft und Lust ausleben. Charles schöpfte nicht den geringsten Verdacht. Die Begegnungen häuften sich, denn Léon kam auch nach Yonville. Außerdem schrieben sie sich leidenschaftliche Briefe. Und Charles ? Mit einer fingierten Quittung bezahlter Klavierstunden belog sie ihn. Charles ließ sie sogar in Rouen übernachten. Ihre Betrugsmanöver, sich heimlich zu treffen, wurden immer ausgefeilter. Schließlich war es ein einziges Lügengebäude, in das Emma schlüpfte. Sie verstand es, sich zu verstellen und ihrem Mann etwas vorzuspielen, so dass Charles nichts mitbekam.

Flaubert (geboren 1821, gestorben 1881) habe ich genossen. Madame Bovary gehört sicherlich zu den Klassikern der Weltliteratur, auf Augenhöhe mit Goethe oder Schiller. Mit seinem Stil, Charaktere und Verhaltensweisen in den Vordergrund zu stellen, ähnelt er Balzac, der ungefähr zu derselben Zeit gelebt hat. Ähnlich wie bei Balzac, sind es böswillige, verschwendungssüchtige, dreiste, kühne oder machtbesessene Charaktere, aus denen sich tragische Einzelschicksale entwickeln. Flauberts Stil lebt zudem mit der Bodenständigkeit, die Menschen auf der Straße in dem Dorf in der Picardie in vielerlei Einzelheiten und Facettierungen zu beschreiben. Scheinbar belanglose Alltagsszenen bindet er in die Dramatik des Geschehens ein.

Der hemmungslose und in aller Offenheit beschriebene Ehebruch der Madame Bovary brachte Flaubert zunächst vor Gericht. Wegen des Verstoßes gegen die guten Sitten sollte er verurteilt werden, doch mit seiner eigenen Redegewandtheit wusste er sich zu verteidigen, so dass das Verfahren eingestellt wurde.

Es war erneut ein Glockenturm, der Emma einsichtig werden ließ.
„Wenn es irgendwo auf Erden ein Wesen gab, stark und schön und tapfer, begeisterungsfähig und liebeserfahren zugleich, mit einem Dichterherzen und einem Engelskörper, ein Schwärmer und ein Sänger, warum war sie ihm nicht zufällig begegnet ? Ach, weil das eine Unmöglichkeit ist ! Weil es vergeblich ist, ihn zu suchen ! Weil alles Lug und Trug ist. Jedes Lächeln verbirgt immer nur das Gähnen der Langeweile, jede Freude einen Fluch, jeder Genuss den Ekel, der unvermeidlich folgt !“
Sie saß auf der Bank an einem Kloster. Als Emma zu sich kam, schlug die Klosterglocke viermal.

Emma hatte sich längst übernommen. Vierundzwanzig Stunden rund um die Uhr war sie damit beschäftigt, die Architektur ihres Lügengebäudes so zurecht zu rücken, dass ihr Ehemann nichts von ihrer heimlichen Liebe bemerkte.

Sie lebte über ihre Verhältnisse, über ihre Finanzen hatte sie längst den Überblick verloren, der Schuldenberg häufte sich an. Unter dem massiven Druck ihrer Schulden – das Haus der Eheleute drohte zwangsversteigert zu werden – beendete sie die Beziehung zu Léon.

Das Ende war tragisch: Gläubiger und Schuldscheine und die Zwangsversteigerung des Hauses im Nacken, beging sie Selbstmord, indem sie sich vergiftete.

Herzlich bedanken möchte ich mich bei Anna, die mir erlaubt hat, ihre Fotos von der Kathedrale von Rouen auf meinem Blog zu zeigen.

8 Kommentare:

  1. Gegen Gefühle anzukämpfen ist schwer und Leidenschaft lässt das Hirn aussetzen. Leider kommt die Einsicht dann zu spät und der Ausweg scheint aussichtslos.


    liebe Grüssle
    Nova

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  2. Danke mein Lieber für die interessante Geschichte und die herlichen Fotos dazu.
    Nur mit dem Herzen zu denken und zu fühlen ist oft ein Problem.

    Liebe Grüße
    Angelika

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  3. Wat een aangrijpend verhaal! Dank je wel.

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  4. Gefühle sind meistens ausser Kontrolle.Schade,aber unsere Natur ist so.Bin sehr von dieser Geschichte begeistert,auch von den Bildern.Klasse Dieter!!!!!!!!!!!!
    lieben gruss
    Christa

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  5. Lieber Dieter,
    wunderbar hast du deine Kathedralenführung verpackt - ich bin zwar eine begeisterte Leserin, hab's aber nicht so sehr mit Klassikern (vermutlich, weil sie oft so tragisch enden, das mag ich nicht... ich bin für ein GELEBTES Leben) - deshalb freut es mich umso mehr, von dir diese knackige Zusammenfassung im schönen Rahmen geboten zu bekommen: Die Kathedrale von Rouen sieht wirklich sehr beeindruckend aus!
    Danke auch für deine lieben Worte zu meinem Buch "The reason with geografy" - das war ein Fund in einer kleinen Antiquariatsbuchhandlung in Cornwall, mich sprach der schöne Umschlag auch sofort an, und innen hat es ebenfalls ein paar hübsche Illustrationen und alte Fotografien.
    Ganz, ganz herzliche Rostrosengrüße,
    Traude

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  6. Lieber dieter,
    das war eine Kathedralenführung die mir sehr gut gefallen hat.
    Ich habe viel gelernt, was ich noch nicht wußte.
    Abendgrüße schickt dir
    Irmi

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  7. Emma musste sterben, tragische Heldinnen muessen es eben. Nicht nur, weil sie tragisch sind, sondern weil man schliesslich eine Ehebrecherin irgendwie bestrafen musste; es gehoerte sich nicht, dass man sie gluecklich werden lassen konnte.

    Tja, so war das damals, heute ist es wohl anders. Vielleicht gibt es daher die ganz grosse Literatur nicht mehr.

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  8. Oh, als ich grad Dein Blog nach der Klosterruine durchgesucht hab, ist mir der Post aufgefallen... wundervoll. Jetzt krieg ich total Lust, Madame Bovary noch einmal zu lesen. Es ist schon laaaaange her, seit ich das Buch gelesen hab.

    Schau mal, ich hab ein Lesetipp für Dich, gerade ausgelesen:
    http://blattfuerblatt.blogspot.de/2013/05/flauberts-papagei-von-julian-barnes.html

    Das Buch macht auch total Lust auf eine Reise nach Rouen, wie Dein Post!

    Liebe Grüße!!!

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