Ihre Liebe begann unter einem
Glockenturm.
Emma hatte Léon schon vor vielen
Jahren kennen gelernt, als sie und ihr Mann Charles ihr Haus in Yonville in der
Picardie gekauft hatten. Er war Notariatsgehilfe. Als der Notar sie zu einem Abendessen
eingeladen hatte, erzählten sie sich dieses und jenes. Sie waren sich
sympathisch, und Emma spürte, dass Leidenschaft und Gefühle entflammt worden
waren.
Sie, Emma, sie war die
„Madame Bovary“ in Gustave Flaubert’s Meisterwerk. Tanz und Vergnügen, Bälle
und rauschende Feste, gesellschaftliche Anerkennung und aufregende Ereignisse –
das vermisste sie in der Provinz Nordfrankreichs. Sie war extrovertiert und
wollte unter Menschen. Sie wollte neue Horizonte entdecken und gab sich nicht
mit dem zufrieden, was sie hatte. Der Dorfalltag war so langweilig wie ihr
Ehemann Charles: als Landarzt verkörperte er ein Mittelmass, er brauchte seinen
strukturierten Alltag, er fand sich in den vertrauten dörflichen Strukturen
zurecht. Er suchte die Ruhe und zog sich gerne zurück. Kurzum: ihre
Lebensentwürfe passten nicht zueinander.
Mit ihren Abenteuern der
Liebe suchte Emma diesem tristen Alltag zu entkommen. Nach ihrer ersten
Begegnung hatten sie sich aus de Augen verloren, denn Léon war nach Paris
gezogen. Dort studierte er Jura. Zufälligerweise, als sie mit ihrem Ehemann
eine Theatervorstellung in Rouen besuchte, traf sie Léon. Er hatte
mittlerweile sein Jura-Studium beendet und lernte bei einem Richter die
Rechtspflege in der Départements-Hauptstadt der Normandie.
Charles war ein fürsorgender
und besorgter Ehemann, der die Liebschaften seiner Ehefrau nicht im Auge hatte.
Als Emma Interesse auf Klavierspielen zeigte, schickte er sie regelmäßig nach
Rouen, um Klavierunterricht zu nehmen. Doch sie lernte kein Klavier, sondern
traf sich mit ihrem Liebhaber.
Um 11 Uhr an der Kathedrale.
Als Treffpunkt für das Rendez-vous hatten sie die gotische Kathedrale
ausgewählt, eine der Glanzpunkte des Kathedralbaus in Nordfrankreich. Léon war
aufgeregt und schon zwei Stunden früher stand er vor dem Hauptportal. Endlich
kam sie. Sie lagen sich in den Armen, sie küssten sich ohne Ende und ihre
Leidenschaft füreinander wollte nicht aufhören. Ein Schweizer drängte sich auf,
sie durch die Kathedrale zu führen. Emma und Léon schafften es nicht, ihn
abzuwimmeln.
Er erzählte über die Glocke
der Kathedrale von Rouen:
„Das hier ist der Umfang der
berühmten Glocke des Amboise. Sie wiegt vierzigtausend Pfund und hat
ihresgleichen nicht in Europa. Der Meister, der sie gegossen hat, ist vor
Freude gestorben …“
Der Schweizer bot ihnen an,
den Glockenturm zu besteigen. Doch sie lehnten ab, Léon gab dem Schweizer ein
großes Silberstück, sie verließen die Kathedrale durch das Hauptportal. In einer Pferdekutsche wollten sie für sich alleine sein. Ziellos fuhr die Pferdekutsche durch Rouen. In höchsten Sphären schwebend, ließen sie die Stadt mit ganz vielen Fachwerkhäuser vorbei gleiten.
Diese Rendez-vous’ konnten
sich wiederholen, denn einmal wöchentlich hatte Emma Klavierunterricht in Rouen,
und einmal wöchentlich konnten Emma und Léon ihre heiße Leidenschaft und Lust
ausleben. Charles schöpfte nicht den geringsten Verdacht. Die Begegnungen
häuften sich, denn Léon kam auch nach Yonville. Außerdem schrieben sie sich
leidenschaftliche Briefe. Und Charles ? Mit einer fingierten Quittung bezahlter
Klavierstunden belog sie ihn. Charles ließ sie sogar in Rouen übernachten. Ihre
Betrugsmanöver, sich heimlich zu treffen, wurden immer ausgefeilter. Schließlich
war es ein einziges Lügengebäude, in das Emma schlüpfte. Sie verstand es, sich
zu verstellen und ihrem Mann etwas vorzuspielen, so dass Charles nichts
mitbekam.
Flaubert (geboren 1821, gestorben 1881) habe ich genossen. Madame
Bovary gehört sicherlich zu den Klassikern der Weltliteratur, auf Augenhöhe mit
Goethe oder Schiller. Mit seinem Stil, Charaktere und Verhaltensweisen in den
Vordergrund zu stellen, ähnelt er Balzac, der ungefähr zu derselben Zeit gelebt
hat. Ähnlich wie bei Balzac, sind es böswillige, verschwendungssüchtige,
dreiste, kühne oder machtbesessene Charaktere, aus denen sich tragische
Einzelschicksale entwickeln. Flauberts Stil lebt zudem mit der
Bodenständigkeit, die Menschen auf der Straße in dem Dorf in der Picardie in
vielerlei Einzelheiten und Facettierungen zu beschreiben. Scheinbar belanglose
Alltagsszenen bindet er in die Dramatik des Geschehens ein.
Der hemmungslose und in aller
Offenheit beschriebene Ehebruch der Madame Bovary brachte Flaubert zunächst vor
Gericht. Wegen des Verstoßes gegen die guten Sitten sollte er verurteilt
werden, doch mit seiner eigenen Redegewandtheit wusste er sich zu verteidigen,
so dass das Verfahren eingestellt wurde.
Es war erneut ein
Glockenturm, der Emma einsichtig werden ließ.
„Wenn es irgendwo auf Erden
ein Wesen gab, stark und schön und tapfer, begeisterungsfähig und liebeserfahren
zugleich, mit einem Dichterherzen und einem Engelskörper, ein Schwärmer und ein
Sänger, warum war sie ihm nicht zufällig begegnet ? Ach, weil das eine
Unmöglichkeit ist ! Weil es vergeblich ist, ihn zu suchen ! Weil alles Lug und
Trug ist. Jedes Lächeln verbirgt immer nur das Gähnen der Langeweile, jede
Freude einen Fluch, jeder Genuss den Ekel, der unvermeidlich folgt !“
Sie saß auf der Bank an einem
Kloster. Als Emma zu sich kam, schlug die Klosterglocke viermal.
Emma hatte sich längst
übernommen. Vierundzwanzig Stunden rund um die Uhr war sie damit beschäftigt,
die Architektur ihres Lügengebäudes so zurecht zu rücken, dass ihr Ehemann nichts
von ihrer heimlichen Liebe bemerkte.
Sie lebte über ihre
Verhältnisse, über ihre Finanzen hatte sie längst den Überblick verloren, der
Schuldenberg häufte sich an. Unter dem massiven Druck ihrer Schulden – das Haus
der Eheleute drohte zwangsversteigert zu werden – beendete sie die Beziehung zu
Léon.
Das Ende war tragisch:
Gläubiger und Schuldscheine und die Zwangsversteigerung des Hauses im Nacken, beging
sie Selbstmord, indem sie sich vergiftete.
Herzlich bedanken möchte ich mich bei Anna, die mir erlaubt hat, ihre Fotos von der Kathedrale von Rouen auf meinem Blog zu zeigen.
Gegen Gefühle anzukämpfen ist schwer und Leidenschaft lässt das Hirn aussetzen. Leider kommt die Einsicht dann zu spät und der Ausweg scheint aussichtslos.
AntwortenLöschenliebe Grüssle
Nova
Danke mein Lieber für die interessante Geschichte und die herlichen Fotos dazu.
AntwortenLöschenNur mit dem Herzen zu denken und zu fühlen ist oft ein Problem.
Liebe Grüße
Angelika
Wat een aangrijpend verhaal! Dank je wel.
AntwortenLöschenGefühle sind meistens ausser Kontrolle.Schade,aber unsere Natur ist so.Bin sehr von dieser Geschichte begeistert,auch von den Bildern.Klasse Dieter!!!!!!!!!!!!
AntwortenLöschenlieben gruss
Christa
Lieber Dieter,
AntwortenLöschenwunderbar hast du deine Kathedralenführung verpackt - ich bin zwar eine begeisterte Leserin, hab's aber nicht so sehr mit Klassikern (vermutlich, weil sie oft so tragisch enden, das mag ich nicht... ich bin für ein GELEBTES Leben) - deshalb freut es mich umso mehr, von dir diese knackige Zusammenfassung im schönen Rahmen geboten zu bekommen: Die Kathedrale von Rouen sieht wirklich sehr beeindruckend aus!
Danke auch für deine lieben Worte zu meinem Buch "The reason with geografy" - das war ein Fund in einer kleinen Antiquariatsbuchhandlung in Cornwall, mich sprach der schöne Umschlag auch sofort an, und innen hat es ebenfalls ein paar hübsche Illustrationen und alte Fotografien.
Ganz, ganz herzliche Rostrosengrüße,
Traude
Lieber dieter,
AntwortenLöschendas war eine Kathedralenführung die mir sehr gut gefallen hat.
Ich habe viel gelernt, was ich noch nicht wußte.
Abendgrüße schickt dir
Irmi
Emma musste sterben, tragische Heldinnen muessen es eben. Nicht nur, weil sie tragisch sind, sondern weil man schliesslich eine Ehebrecherin irgendwie bestrafen musste; es gehoerte sich nicht, dass man sie gluecklich werden lassen konnte.
AntwortenLöschenTja, so war das damals, heute ist es wohl anders. Vielleicht gibt es daher die ganz grosse Literatur nicht mehr.
Oh, als ich grad Dein Blog nach der Klosterruine durchgesucht hab, ist mir der Post aufgefallen... wundervoll. Jetzt krieg ich total Lust, Madame Bovary noch einmal zu lesen. Es ist schon laaaaange her, seit ich das Buch gelesen hab.
AntwortenLöschenSchau mal, ich hab ein Lesetipp für Dich, gerade ausgelesen:
http://blattfuerblatt.blogspot.de/2013/05/flauberts-papagei-von-julian-barnes.html
Das Buch macht auch total Lust auf eine Reise nach Rouen, wie Dein Post!
Liebe Grüße!!!