Hauptbahnhof vom Cassius-Garten aus |
Er dürfte sich in seinem Grabe umdrehen. Das Geschehen in
Heinrich Bölls Roman „Ansichten eines Clowns“ spielt in dem engen Umfeld
zwischen Hauptbahnhof und Innenstadt. „Ich musste mich zurückhalten, um vor dem
Bahnhof in Bonn nicht ein Taxi heran zu winken: diese Geste war so gut einstudiert,
dass sie mich fast in Verlegenheit gebracht hätte … „, so beginnt der Roman, in
dem Hans Schnier, von Beruf Clown, als freischaffender Künstler durch die
Republik tingelt und zu seiner Wohnung zurückkehrt, die ihm sein Großvater
geschenkt hat. 1963, in der Aufbruchstimmung der Nachkriegszeit geschrieben,
dürfte sich Heinrich Böll im Grabe umdrehen, da er das seiner Zeit harmonische
Umfeld des Hauptbahnhofs mit
Hausfassaden aus der Gründerzeit nicht mehr wiedererkennen würde. Seitdem hat eine
Abrißwelle, dessen Ausmaß unvorstellbar ist, den Bahnhofsvorplatz zu einem der häßlichsten
Flecken in der Stadt entstellt, heutzutage ein Treffpunkt von Junkies, Dealern,
Drogenabhängigen und Ordnungsbehörden, die die verwahrlosten Zustände nicht in
den Griff bekommen.
Aus einem Aufenthalt
von zwei Stunden in Bonn einen kompletten Roman zu schreiben, der aus zahllosen
Rückblenden zusammen gestrickt ist, das gehört zu den Geniestreichen des
Heinrich Böll. Mit dem Literaturnobelpreis, den er 1972 erhielt, ist er
vielleicht der bedeutendste Nachkriegsautor im Rheinland. In all seinen Werken
kritisiert er die Gesellschaft, allen voran Egoismus, Scheinheiligkeit,
Heuchelei, Oberflächlichkeit, Mitläufertum und das verkehrte Verhältnis der
Gesellschaft zu Geld und Kapitalismus.
Die Handlung ist
denkbar einfach konstruiert: Hans Schnier, die Hauptperson, ist von seiner
längjährigen Freundin Marie verlassen worden, die mit ihm außerehelich
zusammengelebt hatte. Nun ist sie zu einem ihm bekannten Katholiken namens
Zupfner gezogen. Weil er bei einem Auftritt, bei dem er betrunken war, von der
Bühne gestürzt ist, haben die Veranstaltungsagenten, die ihm die Tourneetermine
besorgen, ihn fallen gelassen und ihm zu einer längeren Pause geraten. Ohne
Geld, muss er Freunde, Bekannte, Verwandte und jede Menge weitere Personen, die
er in seinem Leben kennen gelernt hat, um Geld anpumpen. In insgesamt fünfundzwanzig
Kapiteln nimmt er das christliche Weltbild unserer Gesellschaft auseinander,
die Stellung der Moral in der Kirche, er prangert die Denkweisen des
Nationalsozialismus an, die bis in die Nachkriegszeit überlebt haben.
Die Schilderung seines
Schauplatzes Bonn ist ambivalent. Einerseits lobt er die Stadt: „Die
Stadt ist wirklich hübsch: das Münster, die Dächer des ehemaligen
kurfürstlichen Schlosses, das Beethovendenkmal, der kleine Markt und der
Hofgarten. Ich atmete in vollen Zügen oben auf meinem Balkon die Bonner Luft,
die mir überraschenderweise wohltat: als Luftveränderung kann Bonn für Stunden
Wunder wirken.“
Andererseits benutzt er die Kulisse der Stadt, um in
seinen fünfundzwanzig Kapiteln insbesondere die Kirche, den Glauben und die
dahinterstehenden Menschen an den Pranger zu stellen. Somit verliert sich Böll
mitunter in diffusen Umschreibungen: „Bonn hat immer gewisse Reize gehabt,
schläfrige Reize, so wie es Frauen gibt, von denen ich mir vorstellen kann,
dass ihre Schläfrigkeit einen Reiz hat. Bonn verträgt keine Übertreibung, aber
man hat diese Stadt übertrieben. … Es weiß ja auch ein jedes Kind, dass das
Bonner Klima ein Rentnerklima ist, es bestehen Beziehungen zwischen Luft- und
Blutdruck.“
Einsam, deprimiert
und Marie vermissend, trifft Hans Schnier im katholischen Bonn unweigerlich auf
die eigene Vergangenheit. Er stößt auf die alltägliche Unmenschlichkeit und das
permanente Versagen von denjenigen, die Gottes Wort predigen, aber nicht danach
handeln. Beispielhaft begegnet er einem hochangesehenen Prälaten, in dessen Haus gleich mehrere gestohlene
Madonnen stehen. Sein Bruder studiert Theologie, er will Priester werden und
ist Teil eines Systems, das aus Materialismus, doppelbödiger Moral, Anpassung
und Gehorsam besteht.
Tristesse des Bahnhofsvorplatzes |
1963 geschrieben, hat
die Allgegenwart der Kirche bis heute sicher eingebüßt. Die Nachwehen des
Nationalsozialismus sind hingegen bis heute aktuell, aber anders. Das
Verhältnis von Hans Schnier zu seinen Eltern ist vergiftet, seitdem seine
Eltern seine Schwester als Flakhelferin in den letzten Kriegstagen zu Hitlers
letztem Aufgebot geschickt hatten. Prompt wurde sie von den Alliierten überrollt
und starb. Dabei gehört es zur Perversion des Weltbildes seiner Eltern, dass sie die US-Amerikaner als "jüdische Yankees" bezeichnen.
Sein Elternhaus, das in
Rheinnähe liegt, beschreibt er so: „Die Stämme der Buchen
in unserem Park waren schwarz, noch feucht, der Tennisplatz frisch gewalzt,
rot, vom Rhein her hörte ich das Hupen der Schleppkähne.“
Hans Schnier verzweifelt an der Unbelehrbarkeit
seiner Eltern. Sie stehen zu ihrem Verhalten, ihre Tochter für das Vaterland
geopfert zu haben, und sie würden sich in derselben Situation nochmals so
verhalten. Seine Eltern sind durch den Krieg sogar reich geworden, weil sie
Braunkohleaktien gehortet haben, deren Wert in Kriegs- und Nachkriegszeiten
gestiegen ist. Sein Vater, ein Unternehmer, hält sich eine Geliebte und ist
Mitglied der CDU, wobei er seine christliche Weltanschauung nach vorne kehrt.
Seine Mutter verkehrt zu regelmäßigen „jour fixen“ in einem dubiosen „Zentralkomitee zur Versöhnung rassischer
Gegensätze“, dessen Name versöhnlich klingt, aber von dem niemand so richtig
weiß, welche Art von Versöhnlichkeiten dort ausgeklüngelt werden.
Die einzige
glaubwürdige Person inmitten all der Scheinheiligkeit ist Hans Schnier, der
Clown. In aufrechter Haltung schwimmt er gegen den Strom, konsequent. Er läßt
sich nicht verbiegen, trotzt allen Widrigkeiten, als Künstler behauptet er sich
wie ein Fels in der Brandung. Seine Kunst, die Dinge in seinen Formen als Clown
auszudrücken, treibt ihn an, mit einem Spaßfaktor als Motivationsschub.
So rund wie der Roman
ist, endet er auch, wo er begonnen hat, nämlich am Bonner Hauptbahnhof.
Weggeflutscht ist die letzte Mark des Hans Schnier aus dem Fenster auf eine
daher fahrende Straßenbahn. Er findet niemandem, der ihm als brotlosen Künstler
zu Geld verhilft. Also setzt er sich auf die Treppenstufen vor dem Bonner
Hauptbahnhof, legt seinen Hut auf eine Stufe, er spielt auf seiner Gitarre,
singt über den Papst und wartet, bis die erste Münze in den Hut fällt.
Eine schöne Reminiszenz an meine Jugend in dieser Stadt, an diesen Roman, an meinen eigenen Kampf mit der Bigotterie ( katholisches privates Mädchengymnasium. In der auf den Bahnhof führenden Poststraße habe ich zum Umsteigen in die Straßenbahn gewartet und mircden Clown auf den Stufen sitzend vorgestellt...Später, bevor die Gründerzeithäuser abgerissen wurden, habe ich in den dort ansässigen, damals neuartigen WGs verkehrt. Mein altes Bonn..
AntwortenLöschenLG
Astrud
Ja, immer schlimm wenn man sowas sieht, und Böll würde sich wahrscheinlich auch im Grab umdrehen wenn er sehen würde dass das angeblich doch so "gewürdigte" Erbe (Wohnung samt Einrichtung und Bücher) von seinem Enkel doch nicht so gewürdigt wurde, und der "Platz" den er auf Teneriffa so geliebt hat so "heruntergekommen" ist. Keine schöne, ansprechende Gegend mehr.
AntwortenLöschenViele Grüssle
N☼va
Ein für mich wegweisendes Buch - es gehört zu den einhundert ersten, die ich las, denn bis zum 17. Lebensjahr las ich nur Comics: und dann auf einmal kam in er Schule die Sprache auf Lenz, Borchert, Langgässer, Kaschnitz...und Heinrich Böll, den ich zu verehren lernte! Hier wurde die von mir zu erfahrende Welt so gezeigt, wie ich es noch nicht ausdrücken konnte. Das ganze Zeug der Literaturgeschichte war einfach viel zu früh - und das ist mein Vorwurf an die Schule - die Geschichte der Literatur gehört von heute zurückerzählt, und nicht umgekehrt - ein Unfug sondergleichen. Aber egal, Hauptsache, die Bücher sterben nicht.
AntwortenLöschenWar ein nettes Wiedersehen, Dieter, danke dafür. (Das Buch muß ich unbedingt noch mal zücken...die herrlichsten Probleme, die es gibt: wo lasse ich alles, wie konsumiere ich alles!)
Zu erwähnen noch die großartige Verfilmung mit dem unvergessenen Theatermann Helmut Griem.
interesant geschrieben. Macht Lust auf Böll :-)
AntwortenLöschenHerzliche Grüße von Heidi-Trollspecht