In der Tat, verdammt lange ist seine Zeit her, die
Wolfgang Niedecken nach Rheinbach katapultiert hatte. „Verdamp lang her“, sein
wohl bekanntestes Stück, erzählt weniger von Rheinbach und mehr von seinem
nicht ganz krisenfreien Verhältnis zu seinem Vater, da die Gegensätze von Vater
und Sohn kaum größer sein konnten. So merkwürdig wie in der Passage „merkwürdig
wo so mancher haas lang lööft“ mochte es dem damals 11-jährigen erschienen
sein, als ihn seine Eltern an ein katholisches Internat in Rheinbach übergaben.
Er ging auf ein Gymnasium in der Kölner Südstadt, seine Schulnoten hatten sich
verschlechtert, es fehlte an Zeit, dass ihm seine Eltern bei den Hausaufgaben
halfen, so dass sie alles verfügbare Geld zusammenkratzten, damit seine schulischen
Leistungen in der Abgeschiedenheit eines Internates wieder aufwärts gehen
sollten.
So ging es nach den Osterferien 1962 in dem Opel Caravan
seiner Eltern nach Rheinbach. Schon in dem Moment, als die Pallottiner-Patres
in ihren schwarzen Kutten und ihren seidenen Schärpen ihn in Empfang nahmen,
wurde ihm klar, dass es kein Aufenthalt werden sollte wie in den Büchern von
den Fünf Freunden. Sie ging ebenso in einem Internat zur Schule, die Umgangsformen waren locker und die
Sommer waren voller Abenteuer.
Ein Speisesaal, ein Studiersaal, ein Waschsaal, ein
Schranksaal, sogar ein Tischtennissaal, alles war starr reglementiert. Die
Patres waren wie besessen von einem Kontrollwahn. Frühmorgens wurden die
sechzig Internatsschüler von einer ohrenbetäubenden Schelle geweckt, sofort
mussten sie aus dem Bett springen und in den Waschsaal im Keller rennen. Die
Patres kontrollierten, ob genug Zahnpasta auf der Bürste war, sie
kontrollierten, ob die Ohren gewaschen waren und die Fingernägel sauber waren.
Morgens ging es über einen kurzen Fußweg am
Stadtpark vorbei zum Gymnasium. Nach Schulschluss folgten zwei Stunden
Mittagspause und mehrere Stunden Silentien, in denen die Hausaufgaben erledigt
werden mussten. Wer vorher mit den Hausaufgaben fertig wurde, der durfte ein
Buch lesen. Die Zimmer mussten wie geleckt aussehen. Die Ordnung in Spind und
Schreibtisch wurden jeden Abend kontrolliert. Die Bettlaken mussten so stramm
gezogen sein, dass keine Falte mehr zu sehen war. Vor dem Schlafengehen ging es
in die Kapelle, wo gebetet wurde. Dass die menschliche Existenz lediglich ein
Übergangszustand zum Tode ist, wurde den Schülern eingetrichtert, in dem sie
allabendlich das Lied sangen „Wir sind nur Gast auf Erden“.
Die Kontrollen hatten ein System. Es wurde solange
kontrolliert, bis etwas gefunden wurde, das nicht so war, wie es sein wollte.
Als Strafe durften die Schüler dann Koks in den Keller schaufeln, sie wurden
zur Gartenarbeit verdonnert oder mussten im Keller Kartoffeln von Keimen
befreien.
Die Situation eskalierte in dem katholischen
Internat, als 1964 zwei Fälle sexuellen Missbrauchs bekannt wurden, davon war
einer Wolfgang Niedecken, wobei Wolfgang Niedecken den Begriff „sexueller
Missbrauch“ lieber vermeidet. Als es mit den Lateinvokabeln nicht so richtig
klappen wollte, gab es mit dem Rohrstock eine Tracht Prügel. Um die
Prügelstrafe zu ersparen, wurde ein Pater zudringlich und in dessen Folge kam es
zu sexuellen Handlungen.
Als Wolfgang Niedecken am Wochenende bei seinen
Eltern in Köln war, bemerkte sein Vater Striemen und blaue Flecken auf seinem
Rücken, er fragte nach, und wie befreit, erzählte der Sohn seinem Vater alles
haarklein, was im Internat geschehen war. Sein Vater erstattete Anzeige bei der
Polizei, und der Pater verschwand von einem Tag auf den anderen von der Bildfläche und wurde nie mehr
gesehen. Um seinem Sohn eventuelle Schwierigkeiten zu ersparen, sorgte er
dafür, dass sein Name nirgendwo bei der Staatsanwaltschaft aktenkundig wurde.
So konnten Wolfgang Niedecken Jahre und Jahrzehnte später keine Verbindungen zu
den strafrechtlichen Ermittlungen nachgesagt werden. Genau das ist die eine
Kernaussage in seinem bekanntesten Stück „Verdamp lang her“. Die andere
Kernaussage geht in die Richtung des nicht immer harmonischen Verhältnisses
zwischen Vater und Sohn, der eine war ein Buchhaltertyp und besaß ein
Einzelhandelsgeschaft, der andere war mit Leib und Seele Künstler.
1968 wechselte der Betreiber des Internates, und gleichzeitig
hatte in kleinem Umfang die Lässigkeit und die Rebellion der 1968er-Generation
Einzug gehalten in den Schulbetrieb. In weiten Teilen verharrte die
Lehrerschaft in einer stock-konserativen Denkweise, mit Ausnahme des Deutschlehrers,
der als jüngerer Lehrer nachgerückt war. Als Hausaufgabe mussten die Schüler in
der Oberstufe eine Interpretation erarbeiten, welches Gedicht sie in ihrem
Leben am stärksten beeinflusst hätte. Viele Schüler schrieben über Goethe,
Schiller, Herder, Lessing. Die Rolling Stones hatten zu diesem Zeitpunkt das
Album „Beggars Banket“ heraus gegeben, und als Rebell schrieb Wolfgang
Niedecken über das Stück „Sympathy for the Devil“. Er sinnierte, dass der
Mensch gleichzeitig mit den Göttern den Teufel erfunden hat. Er betrügt, hasst,
lügt, verrät, mordet und begeht Verbrechen. Der Teufel verkörpert eine
Sehnsucht, für das Böse im Menschen eine Erklärung zu finden, und Mechanismen
zu finden, das Böse auszurotten. Den Teufel werden wir nie ganz klein kriegen.
Der Teufel vertrieb uns aus dem Paradies, er zündete Rom an, er ließ die
Soldaten auf den Schlachtfeldern von Verdun sterben, er war Lagerkommandant in
Auschwitz. Der Deutschlehrer weigerte sich, die Interpretation zu bewerten.
Sollte jemand anders aber eine Bewertung fordern, würde diese positiv sein.
Schon bevor der Betreiber des Internates gewechselt
hatte, war Wolfgang Niedecken in ein Privatquartier in Rheinbach ausgezogen, da
die Zustände in dem katholischen Internat unzumutbar waren. Je mehr es auf das
Abitur zuging, um so häufiger erhielt er Damenbesuch. Es war Hille, die aus
Ramershoven kam, zwei Kilometer entfernt von Rheinbach. Sie hatte ein Jahr
zuvor ihr Abitur gemacht. Sie ließen es sich gut gehen, träumten in den Tag
hinein, und manchmal holte sie ihn mit ihrem Simca ab und brachte ihn zur
Schule. Sie war launisch, begleitete ihn, und trotzdem wollte es mit seinem Abitur in
Rheinbach nicht so richtig werden. Die zwölfte Klasse musste er wiederholen,
und als er zwei Fünfen hatte, eine in Mathe und eine in Latein, musste er das
Rheinbacher Gymnasium ohne Abitur in der Tasche verlassen. Und auch Hille blieb
ihm zwar treu, eine richtige Beziehung wurde es aber nie, weil sie einfach nur
launisch und dauernd unterwegs war.
Ihr
wechselhaftes Temperament lieferte ihm die Inspiration für das Stück „Anna“,
das 1980 auf der LP „Affjetaut“ erschien:
„Moondachs besste ne Friedhoff
diensdaachs besste ne Puff
mittwochs dräumste dich früh
donnersdaach stirvste em Suff
friedaachs isste kei Fleisch
Sabbat arbeitste nie
spaars ding Kräfte für sonndaachs
Annamarie.“
diensdaachs besste ne Puff
mittwochs dräumste dich früh
donnersdaach stirvste em Suff
friedaachs isste kei Fleisch
Sabbat arbeitste nie
spaars ding Kräfte für sonndaachs
Annamarie.“
Auch
in etwas betagteren Jahren ist Wolfgang Niedecken Rheinbach treu geblieben. Es
ist wie so oft mit der Vergangenheit, dass die dunkle Zeit im katholischen
Internat ausgeblendet wird, während die positiven Eindrücke überwiegen. Sein
Freundeskreis in Rheinbach wird nicht klein sein. Unter anderem ist es Hille in
ihrer Rechtsanwaltskanzlei und die Musiker aus seiner ersten Band „The Troop“,
mit denen er des öfteren in der Rheinbacher Stadthalle gespielt hatte.
Und
wenn Wolfgang Niedecken auf Tour geht, dann ist auch Rheinbach dabei.
Quelle: Wolfgang Niedecken mit Oliver Kobold - Für 'ne Moment (Autobiografie)
Sehr interessant und das wusste ich auch noch nicht. So einige Platten, ja noch Schallplatten *gg*, hier im Schrank stehen mochte ich BAP schon als Kind und auch heute höre ich mir die Platten hin und wieder an.
AntwortenLöschenViele Grüsse
N☼va
Interessant, denn diese Rheinbach - Episode kannte ich nicht so genau. Wir waren nämlich Kommilitonen an der Kölner Werkschule. Noch gestern habe ich an ihn gedacht, als ich beim Rosenmontagszug auf sein Elternhaus mit dem Laden zuging.
AntwortenLöschenVerdamp lang her, verdamp lang...
LG
Astrid
Lieber Dieter,
AntwortenLöschenich bin begeistert von deinen Ausführungen. Ich mag Niedecken und BAP sehr gern.
Ich glaube, dass ich wohl alle Tonträger habe. Leider war es mir nicht möglich, einmal
Live bei einem Konzert dabeizusein.
Einen schönen Abend wünscht Dir
Irmi
Ich mag die Musik auch sehr gern.
AntwortenLöschenDanke für die Infos. Da war auch für mich viel Neues dabei.
Herzliche Grüße von Heidi-Trollspecht
Diese Zeit in dem Internat muss schrecklich gewesen sein. Wenn ich denke, was man den Kindern da angetan hat - und auch vielleicht heute noch antut, dann kann ich mich nur schütteln. Danke für diesen Post! Martina
AntwortenLöschenIch kann ich noch genau an eines der ersten Konzerte in Rheinbach erinnern. Damals waren sie noch gar nicht so bekannt. Meine Leibk´lings LP ist immer noch "Für Uszeschnigge". Seine Biografie habe ich auch irgendwann mal gelesen.
AntwortenLöschenDanke fürs Erinnern.
Gruß vonner Grete.
W. N. war mir nie bekannt. Da hast du mir etwas interessantes erzaehlt.
AntwortenLöschenIch habe Verdamp lang her kaum verstehen koennen, obwohl Koelsch mir ja eigentlich nicht fremd ist. So weit entfernt von Krefelder Platt isset ja nich, und dat kann ich oemmer noch.
Ich hoffe, du hattest Spass anne Freud inne Karneval.