Donnerstag, 6. November 2014

Stadtführung durch Maastricht / Niederlande

"Maastrichter Geist"
Der Geist, so schien es, schwebte in einer höheren, spirituellen Sphäre. Doch dann wandte er sein Gesicht nach vorne, das einen seltsam zweideutigen Gesichtsausdruck verriet, fröhlich und gleichzeitig starr, bierselig und gleichzeitig verschmitzt, launisch und gleichzeitig bodenständig. Die Starrheit der Körperhaltung gipfelte im Gesäß, das der Geist leicht nach hinten schob. Gleichgültig lastete das Gewicht auf den Oberschenkeln, die der Geist auseinander spreizte.

Der Geist, in dieser Skulptur zum Menschen geworden, machte seine Wendungen und Verbiegungen in dem Straßendreieck, genau vor der Stokstraat, der Edel-Einkaufsmeile in der Maastrichter Altstadt, wo die höchsten Ladenmieten in den Niederlanden erzielt werden. Zu einer Führung hatte sich unsere Gruppe versammelt.Yvonne, unsere Führerin, wohnhaft zwanzig Kilometer weiter in Richtung Aachen, suchte Nebenpfade, um sich den Einkaufsscharen an diesem verkaufsoffenen Sonntag zu entziehen. In fast akzentfreiem Deutsch erzählte sie uns jede Menge über die Niederländische Grenzstadt, in der wir uns mit dem südländisch angehauchten Lebensgefühl mehr in Belgien als in den Niederlanden fühlten.

Ich hatte das bereits in Venlo in den Niederlanden gesehen, dass Skulpturen den Charakter der Einwohner beschrieben. Der Maastrichter Geist, so erzählte uns Yvonne, lebt aus seiner Zweideutigkeit. Nach vorne, mit dem zugewandten Gesicht, war er nett, freundlich, er lachte gerne und schilderte alles in den schönsten Tönen. An seinem Hinterteil ärgerte er sich, er redete schlecht, verwandelte sich in ein Gespenst und nahm dabei all seinen Mitmenschen ins Visier, deren Nase ihm nicht passte. Das kannte ich irgendwo her, dachte ich, und ich hätte so manchen Rheinländer aufzählen können, dessen Charakter ganz ähnlich gestrickt war.

Yvonne erzählte so manche Anekdote, und das war die Form einer Stadtführung, wie ich sie mochte. Kein Abriß von Zahlen, Daten, Fakten, mit denen wir zugeschmissen wurden. Die Entstehung des Namens „la poterie“, das war das Café an dem Straßendreieck, war eine solche Geschichte. Maastricht war keine Stadt des Adels, mit pompösen Palästen oder prunkvollen Residenzen, sondern eine Arbeiterstadt. Die Infrastruktur war zurück geblieben, so die Wasserversorgung, die an dieser Stelle bis in die 1960er Jahre über Bottiche geschah. Bottich heißt auf französisch „poterie“, daher das Café „la poterie“. Der Wandel von der Arbeiterstadt zu der kalksteingrauen, herausgeputzten Innenstadt war geradezu fulminant, was wir an der Stokstraat leibhaftig bestaunen konnten.

Regenguss an der Maaspromenade
Yvonne hatte es nicht leicht, Regengüsse, die mit trockenen Phasen abwechselten, in unseren Laufweg einzuplanen. Anfangs legte sie unsere Strecke unter die Bedachung des Mosae-Forums, wo sich die Karnevalsprinzen zwischen den Bodenplatten verewigt hatten. An der Maaspromenade, wo die Uferstraße durch einen Tunnel verlief, wurde es kritisch, als der Regen nieder prasselte, bis wir uns unter die Marktschirme eines Cafés retten konnten. Dort erzählte sie uns aus der Römerzeit.

In den Niederlanden hatten sich die Historiker gezankt. Sie stritten sich um die Brücke, die die Römer auf dem Weg von Niedergermanien nach Gallien gebaut hatten. Das war kurz vor Christi Geburt. „Maas“ hieß auf Lateinisch „mosae“, daher nannten die Römer ihre Brücke „mosae ad trajectum“,. Im 2. Jahrhundert entstand ein Römerlager, samt einer kompletten Römerstadt. In dessen Mauern befanden sich auch Thermen und Bäder, die wir im weiteren Verlauf in den Kellerräumen des Derlon-Hotels auf dem Onze-Lieve-Vrouwe-Plein bestaunen durften.

Später wurde aus „mosae ad trajectum“ die mittelalterliche Stadt „Maastricht“. In Nijmegen hingegen siedelten die Römer früher, genau gesagt, im Jahr 5 nach Christus. Entscheidet die Brücke oder das Römerlager, wer sich als die älteste Stadt in den Niederlanden bezeichnen darf ? Uneinig, schmücken sich sowohl Maastricht wie Nijmegen mit dem Titel der ältesten Stadt der Niederlande. Wenn man freilich noch weiter in Urzeiten zurückblickt, sollte die Entscheidung eindeutig sein. In Steinbrüchen südlich von Maastricht wurde man im 18. Jahrhundert fündig. Das Skelett eines Dinosaurus wurde freigelegt. In Maasnähe entdeckt, nannte man diese Gattung „mosasaurus“.

Beim Gang entlang der mittelalterlichen Stadtbefestigung mussten wir die Regenschirme aufspannen, auf einem kurzen Stück, bis uns Yvonne elegant in eine alte Wassermühle lotste, das war die „Bisschopsmolen“. Das war ungefähr der einzige Ort, wo ihre Deutschkenntnisse versagten. „Spelt“, Brot wurde mit „spelt“ gebacken, aber sie wusste nicht, was „spelt“ auf Deutsch hieß. Roggen, Weizen, Gerste, in Ko-Produktion nannten wir deutsche Wörter für Getreidearten, sie übersetzte ins Niederländische, bis jemand „Dinkel“ nannte, das war „spelt“ auf Niederländisch.

Stokstraat
Draußen drehte sich das Wasserrad der Mühle, es tröpfelte wieder von oben, und dann bezog Yvonne ein Stadttor ein, damit wir trocken blieben, die „helpoort“. Unwillkürlich ging mir das Lied „Highway to Hell“ von AC/DC durch den Kopf, was auch passte, weil der drohende Feind oder eine Belagerung eines Stadttores schnell zu einer Hölle machen konnte. „Hel“ heißt auch auf Niederländisch Hölle, kommentierte Yvonne, so dass die Bedeutung eines „Höllentors“ nicht abwegig sei. „Hel“ sei aber Dialekt, erklärte Yvonne, der hier in Maastricht ungefähr so ausgeprägt sei wie in Deutschland der Bayrische Dialekt im Bayrischen Wald. “Hel“ bedeute in diesem Zusammenhang „leicht abschüssig“, und tatsächlich deutete der Verlauf des knüppelharten Kopfsteinpflasters ein seichtes Gefälle an.

Dieser Verlauf mündete im Jeker-Viertel. Das war ein ruhiges, geschlossenes, gemütliches Wohngebiet innerhalb der Stadtmauern, in dem früher Gerber und Handwerker tätig waren. In einigen Gebäuden war die Universität Maastricht untergebracht, so die Universitätsbibliothek. Nicht weit weg war das Naturhistorische Museum, in dem der „mosasaurus“ zu bestaunen war.

Es passte zwischen all den sorgfältig erhaltenen, liebevoll restaurierten, steingrauen oder weißgestrichenen Ziegelsteinfassaden, dass der Begründer der ersten niederländischen Denkmalstiftung, das war die „stichting erfgoed“, aus dem Jeker-Viertel in Maastricht kam. Im Vergleich zu deutschen Städten war die Ausgangssituation hervorragend. Als die Alliierten Truppen im Zweiten Weltkrieg auf Deutschland zurollten, konzentrierten sich die deutschen Truppenbewegungen auf Aachen, das mit Mann und Maus und bis zur letzten Patrone verteidigt werden sollte. Maastricht lag außerhalb dieser Truppenbewegungen, so dass die Alliierten am 16. September 1944 kampflos und ohne nennenswerte Kriegsschäden in Maastricht einmarschieren konnten. So findet sich in Maastricht eine solche geschlossene Altstadt, wie man sie sonst selten vorfindet.

Bisschopsmolen
Schon in den 1950er Jahren verankerte die „stichting erfgoed“ den Begriff des nationalen Kulturerbes tief im Bewußtsein der Niederländer, wozu auch historische Gebäude, Orts- und Stadtkerne zählten. Dieser Begriff wurde streng ausgelegt, wenn es um den Abriss von Gebäuden ging. In festgelegten Orts- und Stadtbereichen musste der Erhaltung von Gebäuden dem Abriss Vorrang eingeräumt werden. Wir Deutschen zeigen da offensichtlich mehr Ignoranz, denn an manchen Stellen wird bisweilen alte, schöne, reich verzierte Bausubstanz mit bürgerlichen Fassaden, Stuckarbeiten oder vorspringenden Erkern abgerissen, was das Zeug hält.

Yvonne war stringent dahin gehend, uns über Skulpturen das Wesen der Maastrichter Einwohner nahe zu bringen. Auf dem Marktplatz war es das „mooswief“ gewesen, die die Marktfrau auf dem Wochenmarkt verkörperte. Sie wurde zur Legende und sogar 1953 zum Denkmal. Die Marktfrauen kamen aus dem Umland von Maastricht, karrten Obst und Gemüse heran, darunter Kohlgemüse. Das heißt im Maastrichter Dialekt „moos“, woraus das „mooswief“ wurde. Wenn der Markt vorbei war, deckten sich die Marktfrauen mit Kolonialwaren ein, also Kaffee, Tee, Kakao oder Tabak. Und so kamen die Marktfrauen schwer bepackt zum Markt und sie verließen ihn nicht weniger schwer bepackt. Daraus entstand dann die Form der etwas schwergewichtigen Marktfrau auf dem Sockel des Denkmals. Lustig und wie im Rheinland geht es um die Karnevalszeit in Maastricht zu. Wenn bei uns Weiberfastnacht die Frauen die Herrschaft übernehmen, dann regiert in Maastricht das „mooswief“. Und es beschließt auch den Karneval. Wenn bei uns im Rheinland der „Gnubbel“ in der Nacht zum Aschermittwoch verbrannt wird, dann ist es in Maastricht das „mooswief“.

Ezelmarkt
Mittlerweile hatte die Sonne den Regen vertrieben. Schatten fielen auf moosbewachsene Gemäuer im Jeker-Viertel. Auf dem Ezelmarkt schillerte die Bronzeskulptur des Esels wie Gold im Sonnenlicht. Der Esel posierte dort, obschon er eigentlich eine Lüge war. Auf dem Ezelmarkt wurden nie Esel verkauft, sondern die Wortherkunft „eselen“ hatte mit der Tuchherstellung zu tun. Damit aus Fasern von Flachs und Leinen ein Textilgewebe wurde, musste darauf unter fließendem Wasser eingedroschen werden. Diesen Arbeitsgang bezeichnete man in Maastricht als „eselen“. Gerade wegen des Widerspruchs und weil der Esel treffend den Charakter der Maastrichter Bürger beschreibt, wurde 1975 die Bronzeskulptur des Esels aufgestellt. Die Maastrichter sind für ihre mediterrane Lebensart bekannt, die sich den Maßstäben der Produktivität entzieht. Hier ist man träger als in den übrigen Niederlanden, und die Entschleunigung in den Cafés überzieht die Stadt wie ein unsichtbarer Film.

Zum Schluß führte uns Yvonne zum Mittelpunkt Maastrichts, das war der Vrijthof. In der St. Servatius-Kirche befand sich das Grab des Heiligen Servatius, das aus dem Jahr 386 datierte. Das Grab des Heiligen Servatius zog Schare von Pilgern an, und Anfang August versammelten sich auf dem Vrijthof ganz andere Pilgerscharen: Open Air trat André Rieu auf – er war ein Massenphänomen.

Ganz zum Schluß führte uns Yvonne durchs Fegefeuer. In der Reformation wurde weder geplündert, noch Gläubige anderer Konfession hingerichtet, noch tobten sich Bilderstürmer in Kirchen aus. Auf dem Vrijthof stehen bis heute zwei Kirchen, die eine wurde in der Reformation katholisch, die andere wurde protestantisch. Und zwischen den beiden Kirchen gingen die Menschen durch das Fegefeuer, wobei der Religionsfrieden gewährt blieb.

St. Servatius-Kirche
Begeistert, verabschiedeten wir uns ganz zum Schluß von Yvonne. Ich mache sonst keine Werbung in meinem Blog. Aber wer Interesse hat: eine deutsch-sprachige Führung bei www.maastrichtexcursies.nl lohnt sich. Ich hatte Kontakt per E-Mail unter info@maastrichtexcursies.nl aufgenommen (Hinweis: Kontaktaufnahme auf Englisch ist hilfreicher als auf Deutsch).

4 Kommentare:

  1. Das war bestimmt eine ganz tolle Stadtführung und du hast sie echt klasse weitergegeben. So machen Führungen wirklich Spaß und da kann dann selbst schlechteres Wetter die Laune nicht verderben.

    Danke dir ganz herzlich dafür und sende liebe Grüssle

    N☼va

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  2. Vielen Dank für den tollen Post - ich mag die Niederlande. Wir sind aber meistens in Enschede. Maastricht kenne ich nicht. Danke für deine Stadtführung und die Mühe! LG Martina

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  3. Da freue ich mich richtig mit euch, dass duiihr e sehr kundige Führerin hattet, die euch die Stadt richtig näher bringen konnte und wir dürfen hier live mit dabei sein.
    Du hast Maastrich super beschrieben. Man glaubt, jetzt einfach mit von der Partie zu sein. :-)

    Liebe Grüße und dir ein schönes Wochenende, lieber Dieter
    Christa

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  4. Dieter, ich hatte hier einen langen ausführlichen Kommentar hinterlassen, weil wir am vorletzten Septemberwochenende im Rahmen unserer Kirchenchorfahrt in Maastricht waren... nun ist er weg...
    Jedenfalls hatten wir auch eine tolle deutschsprachige Führung.
    LG Marita

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