"Maastrichter Geist" |
Der Geist, so schien es, schwebte in einer höheren,
spirituellen Sphäre. Doch dann wandte er sein Gesicht nach vorne, das einen
seltsam zweideutigen Gesichtsausdruck verriet, fröhlich und gleichzeitig starr,
bierselig und gleichzeitig verschmitzt, launisch und gleichzeitig bodenständig.
Die Starrheit der Körperhaltung gipfelte im Gesäß, das der Geist leicht nach
hinten schob. Gleichgültig lastete das Gewicht auf den Oberschenkeln, die der
Geist auseinander spreizte.
Der Geist, in dieser Skulptur zum Menschen geworden,
machte seine Wendungen und Verbiegungen in dem Straßendreieck, genau vor der
Stokstraat, der Edel-Einkaufsmeile in der Maastrichter Altstadt, wo die
höchsten Ladenmieten in den Niederlanden erzielt werden. Zu einer Führung hatte
sich unsere Gruppe versammelt.Yvonne, unsere Führerin, wohnhaft zwanzig
Kilometer weiter in Richtung Aachen, suchte Nebenpfade, um sich den
Einkaufsscharen an diesem verkaufsoffenen Sonntag zu entziehen. In
fast akzentfreiem Deutsch erzählte sie uns jede Menge über die Niederländische Grenzstadt, in
der wir uns mit dem südländisch angehauchten Lebensgefühl mehr in Belgien als
in den Niederlanden fühlten.
Ich hatte das bereits in Venlo in den Niederlanden
gesehen, dass Skulpturen den Charakter der Einwohner beschrieben. Der
Maastrichter Geist, so erzählte uns Yvonne, lebt aus seiner Zweideutigkeit.
Nach vorne, mit dem zugewandten Gesicht, war er nett, freundlich, er lachte
gerne und schilderte alles in den schönsten Tönen. An seinem Hinterteil ärgerte
er sich, er redete schlecht, verwandelte sich in ein Gespenst und nahm dabei
all seinen Mitmenschen ins Visier, deren Nase ihm nicht passte. Das kannte ich
irgendwo her, dachte ich, und ich hätte so manchen Rheinländer aufzählen
können, dessen Charakter ganz ähnlich gestrickt war.
Yvonne erzählte so manche Anekdote, und das war die
Form einer Stadtführung, wie ich sie mochte. Kein Abriß von Zahlen, Daten,
Fakten, mit denen wir zugeschmissen wurden. Die Entstehung des Namens „la
poterie“, das war das Café an dem Straßendreieck, war eine solche Geschichte.
Maastricht war keine Stadt des Adels, mit pompösen Palästen oder prunkvollen
Residenzen, sondern eine Arbeiterstadt. Die Infrastruktur war zurück geblieben,
so die Wasserversorgung, die an dieser Stelle bis in die 1960er Jahre über
Bottiche geschah. Bottich heißt auf französisch „poterie“, daher das Café „la
poterie“. Der Wandel von der Arbeiterstadt zu der kalksteingrauen,
herausgeputzten Innenstadt war geradezu fulminant, was wir an der Stokstraat
leibhaftig bestaunen konnten.
Regenguss an der Maaspromenade |
Yvonne hatte es nicht leicht, Regengüsse, die mit
trockenen Phasen abwechselten, in unseren Laufweg einzuplanen. Anfangs legte
sie unsere Strecke unter die Bedachung des Mosae-Forums, wo sich die
Karnevalsprinzen zwischen den Bodenplatten verewigt hatten. An der
Maaspromenade, wo die Uferstraße durch einen Tunnel verlief, wurde es kritisch,
als der Regen nieder prasselte, bis wir uns unter die Marktschirme eines Cafés
retten konnten. Dort erzählte sie uns aus der Römerzeit.
In den Niederlanden hatten sich die Historiker
gezankt. Sie stritten sich um die Brücke, die die Römer auf dem Weg von
Niedergermanien nach Gallien gebaut hatten. Das war kurz vor Christi Geburt.
„Maas“ hieß auf Lateinisch „mosae“, daher nannten die Römer ihre Brücke „mosae
ad trajectum“,. Im 2. Jahrhundert entstand ein Römerlager, samt einer
kompletten Römerstadt. In dessen Mauern befanden sich auch Thermen und Bäder,
die wir im weiteren Verlauf in den Kellerräumen des Derlon-Hotels auf dem
Onze-Lieve-Vrouwe-Plein bestaunen durften.
Später wurde aus „mosae ad trajectum“ die mittelalterliche
Stadt „Maastricht“. In Nijmegen hingegen siedelten die Römer früher, genau
gesagt, im Jahr 5 nach Christus. Entscheidet die Brücke oder das Römerlager,
wer sich als die älteste Stadt in den Niederlanden bezeichnen darf ? Uneinig, schmücken
sich sowohl Maastricht wie Nijmegen mit dem Titel der ältesten Stadt der
Niederlande. Wenn man freilich noch weiter in Urzeiten zurückblickt, sollte die
Entscheidung eindeutig sein. In Steinbrüchen südlich von Maastricht wurde man
im 18. Jahrhundert fündig. Das Skelett eines Dinosaurus wurde freigelegt. In
Maasnähe entdeckt, nannte man diese Gattung „mosasaurus“.
Beim Gang entlang der mittelalterlichen
Stadtbefestigung mussten wir die Regenschirme aufspannen, auf einem kurzen
Stück, bis uns Yvonne elegant in eine alte Wassermühle lotste, das war die
„Bisschopsmolen“. Das war ungefähr der einzige Ort, wo ihre Deutschkenntnisse
versagten. „Spelt“, Brot wurde mit „spelt“ gebacken, aber sie wusste nicht, was
„spelt“ auf Deutsch hieß. Roggen, Weizen, Gerste, in Ko-Produktion nannten wir
deutsche Wörter für Getreidearten, sie übersetzte ins Niederländische, bis jemand
„Dinkel“ nannte, das war „spelt“ auf Niederländisch.
Stokstraat |
Draußen drehte sich das Wasserrad der Mühle, es
tröpfelte wieder von oben, und dann bezog Yvonne ein Stadttor ein, damit wir
trocken blieben, die „helpoort“. Unwillkürlich ging mir das Lied „Highway to
Hell“ von AC/DC durch den Kopf, was auch passte, weil der drohende Feind oder
eine Belagerung eines Stadttores schnell zu einer Hölle machen konnte. „Hel“
heißt auch auf Niederländisch Hölle, kommentierte Yvonne, so dass die Bedeutung
eines „Höllentors“ nicht abwegig sei. „Hel“ sei aber Dialekt, erklärte Yvonne,
der hier in Maastricht ungefähr so ausgeprägt sei wie in Deutschland der
Bayrische Dialekt im Bayrischen Wald. “Hel“ bedeute in diesem Zusammenhang
„leicht abschüssig“, und tatsächlich deutete der Verlauf des knüppelharten
Kopfsteinpflasters ein seichtes Gefälle an.
Dieser Verlauf mündete im Jeker-Viertel. Das war ein
ruhiges, geschlossenes, gemütliches Wohngebiet innerhalb der Stadtmauern, in
dem früher Gerber und Handwerker tätig waren. In einigen Gebäuden war die
Universität Maastricht untergebracht, so die Universitätsbibliothek. Nicht weit
weg war das Naturhistorische Museum, in dem der „mosasaurus“ zu bestaunen war.
Es passte zwischen all den sorgfältig erhaltenen,
liebevoll restaurierten, steingrauen oder weißgestrichenen Ziegelsteinfassaden,
dass der Begründer der ersten niederländischen Denkmalstiftung, das war die „stichting
erfgoed“, aus dem Jeker-Viertel in Maastricht kam. Im Vergleich zu deutschen
Städten war die Ausgangssituation hervorragend. Als die Alliierten Truppen im
Zweiten Weltkrieg auf Deutschland zurollten, konzentrierten sich die deutschen
Truppenbewegungen auf Aachen, das mit Mann und Maus und bis zur letzten Patrone
verteidigt werden sollte. Maastricht lag außerhalb dieser Truppenbewegungen, so
dass die Alliierten am 16. September 1944 kampflos und ohne nennenswerte
Kriegsschäden in Maastricht einmarschieren konnten. So findet sich in Maastricht eine solche geschlossene Altstadt, wie man sie sonst selten vorfindet.
Bisschopsmolen |
Schon in den 1950er Jahren verankerte die „stichting
erfgoed“ den Begriff des nationalen Kulturerbes tief im Bewußtsein der
Niederländer, wozu auch historische Gebäude, Orts- und Stadtkerne zählten.
Dieser Begriff wurde streng ausgelegt, wenn es um den Abriss von Gebäuden ging.
In festgelegten Orts- und Stadtbereichen musste der Erhaltung von Gebäuden dem
Abriss Vorrang eingeräumt werden. Wir Deutschen zeigen da offensichtlich mehr
Ignoranz, denn an manchen Stellen wird bisweilen alte, schöne, reich verzierte
Bausubstanz mit bürgerlichen Fassaden, Stuckarbeiten oder vorspringenden Erkern
abgerissen, was das Zeug hält.
Yvonne war stringent dahin gehend, uns über
Skulpturen das Wesen der Maastrichter Einwohner nahe zu bringen. Auf dem
Marktplatz war es das „mooswief“ gewesen, die die Marktfrau auf dem Wochenmarkt
verkörperte. Sie wurde zur Legende und sogar 1953 zum Denkmal. Die Marktfrauen
kamen aus dem Umland von Maastricht, karrten Obst und Gemüse heran, darunter
Kohlgemüse. Das heißt im Maastrichter Dialekt „moos“, woraus das „mooswief“
wurde. Wenn der Markt vorbei war, deckten sich die Marktfrauen mit Kolonialwaren
ein, also Kaffee, Tee, Kakao oder Tabak. Und so kamen die Marktfrauen schwer
bepackt zum Markt und sie verließen ihn nicht weniger schwer bepackt. Daraus
entstand dann die Form der etwas schwergewichtigen Marktfrau auf dem Sockel des
Denkmals. Lustig und wie im Rheinland geht es um die Karnevalszeit in
Maastricht zu. Wenn bei uns Weiberfastnacht die Frauen die Herrschaft
übernehmen, dann regiert in Maastricht das „mooswief“. Und es beschließt auch
den Karneval. Wenn bei uns im Rheinland der „Gnubbel“ in der Nacht zum
Aschermittwoch verbrannt wird, dann ist es in Maastricht das „mooswief“.
Ezelmarkt |
Mittlerweile hatte die Sonne den Regen vertrieben.
Schatten fielen auf moosbewachsene Gemäuer im Jeker-Viertel. Auf dem Ezelmarkt
schillerte die Bronzeskulptur des Esels wie Gold im Sonnenlicht. Der Esel
posierte dort, obschon er eigentlich eine Lüge war. Auf dem Ezelmarkt wurden
nie Esel verkauft, sondern die Wortherkunft „eselen“ hatte mit der
Tuchherstellung zu tun. Damit aus Fasern von Flachs und Leinen ein Textilgewebe
wurde, musste darauf unter fließendem Wasser eingedroschen werden. Diesen
Arbeitsgang bezeichnete man in Maastricht als „eselen“. Gerade wegen des
Widerspruchs und weil der Esel treffend den Charakter der Maastrichter Bürger
beschreibt, wurde 1975 die Bronzeskulptur des Esels aufgestellt. Die
Maastrichter sind für ihre mediterrane Lebensart bekannt, die sich den
Maßstäben der Produktivität entzieht. Hier ist man träger als in den übrigen
Niederlanden, und die Entschleunigung in den Cafés überzieht die Stadt wie ein
unsichtbarer Film.
Zum Schluß führte uns Yvonne zum Mittelpunkt
Maastrichts, das war der Vrijthof. In der St. Servatius-Kirche befand sich das
Grab des Heiligen Servatius, das aus dem Jahr 386 datierte. Das Grab des Heiligen
Servatius zog Schare von Pilgern an, und Anfang August versammelten sich auf
dem Vrijthof ganz andere Pilgerscharen: Open Air trat André Rieu auf – er war
ein Massenphänomen.
Ganz zum Schluß führte uns Yvonne durchs Fegefeuer. In
der Reformation wurde weder geplündert, noch Gläubige anderer Konfession
hingerichtet, noch tobten sich Bilderstürmer in Kirchen aus. Auf dem Vrijthof
stehen bis heute zwei Kirchen, die eine wurde in der Reformation katholisch,
die andere wurde protestantisch. Und zwischen den beiden Kirchen gingen die
Menschen durch das Fegefeuer, wobei der Religionsfrieden gewährt blieb.
St. Servatius-Kirche |
Begeistert, verabschiedeten wir uns ganz zum Schluß
von Yvonne. Ich mache sonst keine Werbung in meinem Blog. Aber wer Interesse
hat: eine deutsch-sprachige Führung bei www.maastrichtexcursies.nl lohnt
sich. Ich hatte Kontakt per E-Mail unter info@maastrichtexcursies.nl
aufgenommen (Hinweis: Kontaktaufnahme auf Englisch ist hilfreicher als auf
Deutsch).
Das war bestimmt eine ganz tolle Stadtführung und du hast sie echt klasse weitergegeben. So machen Führungen wirklich Spaß und da kann dann selbst schlechteres Wetter die Laune nicht verderben.
AntwortenLöschenDanke dir ganz herzlich dafür und sende liebe Grüssle
N☼va
Vielen Dank für den tollen Post - ich mag die Niederlande. Wir sind aber meistens in Enschede. Maastricht kenne ich nicht. Danke für deine Stadtführung und die Mühe! LG Martina
AntwortenLöschenDa freue ich mich richtig mit euch, dass duiihr e sehr kundige Führerin hattet, die euch die Stadt richtig näher bringen konnte und wir dürfen hier live mit dabei sein.
AntwortenLöschenDu hast Maastrich super beschrieben. Man glaubt, jetzt einfach mit von der Partie zu sein. :-)
Liebe Grüße und dir ein schönes Wochenende, lieber Dieter
Christa
Dieter, ich hatte hier einen langen ausführlichen Kommentar hinterlassen, weil wir am vorletzten Septemberwochenende im Rahmen unserer Kirchenchorfahrt in Maastricht waren... nun ist er weg...
AntwortenLöschenJedenfalls hatten wir auch eine tolle deutschsprachige Führung.
LG Marita