Dem Fluch der 5% konnte ich in dieser Woche nicht
entrinnen. Nach der Landtagswahl in Bayern war das Geschachere und Geschiebe um
Zweitstimmen losgegangen. Die 5% steigern sich zur mystischen,
geheimnisumwitterten Größe, denn die 5% können
sämtliche Parteikonstellationen auf den Kopf stellen. SPD, Grüne, die
Linke, alle ziehen sich hoch, wenn eine CDU und FDP es gemeinsam nicht mehr können und durchdacht werden muss, was die übrige Parteienlandschaft gemeinsam kann. Politische Themen habe ich ursprünglich in meinem Blog aussortiert.
Politik nervt mich, ist mir zu kompliziert und vor allem: ich habe keine Ahnung
davon. Mit der Treffsicherheit anderer Polit-Blogs kann ich nicht mithalten.
Doch die Bundestagswahl beherrscht alles, wohin man auch schaut.
Ich tue mich schwer mit der Informationsflut zur
Bundestagswahl. Das Fernsehduell zwischen Merkel und Steinbrück habe ich nicht
mit verfolgt. Um mich zu informieren, war die Reportage zum Deutschland-TÜV im SWR-Radio (SWR1 Leute
Baden-Württemberg) richtig gut gemacht. Die Reporter Jana Lange und Andreas
Hain waren quer durch die Republik gereist, um Ängste, Nöte und brennende
Themen der potenziellen Wähler einzusammeln. Mit dem Deutschland-TÜV wollten
die Reporter unserer Republik ein Zertifikat ausstellen, wie sie im Umfeld von
Ängsten, Nöten und brennenden Themen bewertet wird.
Ich war überrascht, dass die Grundtendenz durchaus
positiv war. Verglichen mit dem TÜV: ja, unsere Republik hat Mängel; diese
müssen nachgebessert werden, aber unsere Republik ist fahrtüchtig; wo es drückt
und klemmt, können Ausreißer gerade gerückt werden. Nicht die erforderliche
Nachbesserung, sondern der positive Grundton widersprach meiner persönlichen
Wahrnehmung.
Mitten im Volk, haben Lange & Hain die
Stimmungen eingefangen. 1. In Stralsund haben sie mit streikenden
Bäckerei-Angestellten geredet, die teilweise für 4,50 € Stundenlohn
arbeiten 2. Ähnlich war der Fall bei
einem Friseur aus Gera mit einem Stundenlohn von 6,50 € gelagert; er hatte kein
Geld, eine Heirat mit Freundin und Kind zu bezahlen 3. In Hoyerswerda war die Einwohnerzahl wegen
hoher Arbeitslosigkeit in 15 Jahren von 70.000 auf 45.000 geschrumpft;
Plattenbauten wurden abgerissen; in der Innenstadt sah man nur noch Rentner und
alte Menschen 4. In einer 200 Seelen-Gemeinde im Hunsrück
hatte eine Ärztin, die Anfang 40 war, gegen den Trend eine Hausarztpraxis
übernommen; sie schätzte den engen Kontakt auf dem Dorf sowie das zur Verfügung
stehende Zeitkontingent, auf die Belange der Patienten individuell eingehen zu
können 5. Bei einer Wohnungsbesichtigung
in der Münchener Innenstadt mussten sich die Interessenten in eine
Warteschlange von über 50 Menschen einreihen; die Kommunikation mit dem Makler
verlief einsilbig; der Makler hatte einen einfachen Job, denn er konnte bei
einer miserablen Wohnqualität eine ordentliche Provision abkassieren 6. Bildung
wird zum exquisiten Gut weil sich nur noch besser verdienende Bildung leisten
können; so begann ein Abiturient aus Cuxhaven eine Ausbildung, weil er aus
einer kinderreichen Familie stammte (5 Kinder), da er sich kein Studium leisten
konnte 7. Vor lauter Lebensmittelskandalen
wissen die Menschen nicht mehr, was sie essen sollen; in Möhringen vor den
Toren von Stuttgart gibt es ein gemeinsames Projekt von Bürgern und Bauern; die
Einwohner von Möhringen helfen bei der Feldarbeit mit, im Gegenzug garantieren
die Bauern einen vollständig ökologischen Anbau …
Mich hatte überrascht, dass selbst in den
problematischen Orten/Städten/Gegenden den beiden Reportern die Situation
positiv beschrieben wurde. Die Menschen arrangierten sich, sie machten das
beste aus ihrer Situation, sie schauten optimistisch nach vorne. Während der
Ära von Gerhard Schröder war dies genau umgekehrt: die Deutschen waren als ein
Volk von Miesepetern und Unzufriedenen beschrieben worden. Man jammerte auf
hohem Niveau. Insbesondere die Geringverdiener aus Stralsund und Gera
akzeptierten ihre Situation, weil sie lieber für einen Niedriglohn arbeiteten
als auf der Straße zu sitzen. Sie warfen zwar die Frage auf, was Arbeit Wert
ist, sie gaben aber den Politikern recht, dass Niedriglöhne das kleinere Übel
sind gegenüber Arbeitslosigkeit.
Diese
Radiosendung mischte den ansonsten faden Bundestagswahlkampf auf. Ich kann die
ganzen Wahlplakate nicht mehr sehen, obschon die Demokratie, wofür wir in
Europa über Jahrhunderte gekämpft haben, an für sich ein Fortschritt ist. Wahlplakate
und Politiker: in ihren Posen bewegen sie sich hinab auf das Niveau der
Werbung. Der Informationsgehalt ist gleich Null, alles aufgehübscht, die
Sprüche sind wirklichkeitsfremd. Und so höre ich auch die Politiker über die
4-jährige Legislaturperiode reden. Vor lauter Luftblasen tue ich mich schwer,
die eigentlichen Inhalte zu identifizieren. Und verstehen muss ich diese
Inhalte noch, um dies bei der nächsten Wahl beurteilen zu können. Printmedien,
Fernsehen oder Radio geben sich zwar reichlich Mühe, diese Inhalte verständlich
darzustellen. Aber allzu oft frage ich mich: muss ich das alles wissen ? Wenn
wir in unserer Informationsgesellschaft ohnehin überschwemmt werden mit
Informationen, die wir überhaupt nicht brauchen.
Ist unsere Republik fahrtüchtig ? Gewiss läuft
vieles rund in unserer Republik, denn so schlecht – vor allem wenn man
rückwärts in vergangene Jahrhunderte schaut – geht es uns nicht. Wir brauchen
nicht zu verhungern, wir durchleben mittlerweile eine fast 70-jährige Phase des
Friedens. Dennoch beleuchte ich gerne als kritischer Geist diejenigen
Problemfelder, an denen gearbeitet werden muss. Mein Interesse steigt um ein
vielfaches, wenn Probleme global zu betrachten sind – während unsere Regierung
in ihrem nationalen Denken gefangen ist. Oder wenn der Staat sich in der Rolle
des Zuschauers zurückzieht und auf die Segnungen unserer Marktwirtschaft
vertraut – die nicht nur manche Beschäftigte, sondern auch die Umwelt und die
Dritte Welt ausbeutet. Diese Sichtweise kam
in der SWR1-Reportage zu kurz. Umgekehrt will ich aber nicht so weit
gehen, wie manche Intellektuelle es tun: sie halten die Politik für so
ineffizient, dass sie direkt oder indirekt zum Nichtwählen aufrufen. So äußerte
sich der Philosoph Richard David Precht in einer Fernsehshow, es sei ihm
persönlich nicht wichtig, ob er wähle oder nicht.
Morgen ist es soweit. Die Schar der Nichtwähler
werde ich nicht vergrößern. Aus alter Gewohnheit werde ich mein Kreuzchen bei
derjenigen Partei machen, wo ich es sonst immer gemacht habe. Die Überzeugung
fällt mir mittlerweile schwer, denn die Unterschiede zwischen den Parteien
verschwimmen. Morgen werden wir wissen, wen der Fluch der 5% trifft.
Ja stimmt Dieter morgen Abend wissen wir mehr. ich gehe auch zur Wahl. Einen tollen und informativen Beitrag hast du geschrieben.
AntwortenLöschenSchönen Sonntag und liebe Grüße
Angelika
Kann mich nur anschließen.
AntwortenLöschenIch gehe auch waählen und halte es wie Du... die Kreuzchen wie immer... wir werden sehen, ob es gut oder schlecht ist, wenn wir eine andere Partei/Koaltion als Regierung bekommen..
Dein Beitrag gefällt mir!
LG Marita
Ich lasse mich dann mal von hier aus überraschen wie es kommen wird. Nicht wählen zu gehen, wenn man dort lebt, fände ich verkehrt, aber ich könnte mir gut vorstellen das es dieses Mal eventuell wieder mehr Nichtwähler geben wird.
AntwortenLöschenJedenfalls wird es bestimmt sehr spannend werden ;-)
Schönen Sonntag und liebe Grüssle
Nova
Die Grete macht es auch so. Ein Kreuzchen aus alter Gewohnheit. Bei ihr wurde eine gewisse "PARTEI-lichkeit" wohl mit in die Wiege gelegt. ebenso wie: Wählen ist Bürgerpflicht. Das heißt, sie gehört durchaus zu den Elternhausgeprägten. In jungen Jahren ist sie mal davon abgewichen. Eher wohl aus Protest (ich sag nur grüne Welle) als aus Überzeugung. Viel später hat sie sich dann doch ein eigenes Bild gemacht und sich intensiver mit der Politik beschäftigt. Das kann man übrigens auch durchaus ohne Wahlplakate, Duelle, Wahlveranstaltungen, Wahlomats und Spots.
AntwortenLöschenEinen schönen Sonntag wünscht
die Grete
Menschenskinder, da hast du dir aber viel Mühe gemacht mit der Wiedergabe des Radiosendungsinhalt. Ich meine auch, dass enorm viel im Argen ist. Ich glaube auch nicht, dass eine der zur Verfügung stehenden Parteien (noch dazu in einer Koalition) die Situation der Menschen, die mit harten Bedingungen zu tun haben, wirklich ändern kann. Und doch finde ich es wichtig, aktiv zu wählen. Das werde ich gleich tun. Das Kreuz, das ich machen werde ist kein gewohnheitsmäßiges und auch kein familienbedingtes. Allerdings läuft es auch diesmal auf eine Partei heraus, die mein Kreuz schon öfter bekommen hat.
AntwortenLöschenIch bin gespannt auf den Wahlausgang und das, was er nach sich zieht.
lieben Gruß
Hey!!
AntwortenLöschendein Artikel zur Bundestagswahl ist dir wieder hervorragend gelungen - informativ und ansprechend.
War heute schon wählen, davor beim Zahnarzt und mein Mund ist leider immer noch betäubt. :( Bin mal gespannt, wie das Ergebnis ausfällt.
Nach originellen Wahlplakaten, bzw. deren künstlerische Verunstaltung habe ich lezten So mit Freunden in Friedrichshain gesucht, und werde heute evtl diese Suche fortsetzen, bevor der optische Spuk vorbei ist.
Dir noch einen schönen Rest-Sonntag, Wieczora (◔‿◔) | Mein Fotoblog
Ist unsere Republik fahrtüchtig?
AntwortenLöschenJa, ja und nochmals ja. Ich habe den ganzen Rummel natuerlich nur aus der Ferne beobachtet, habe allerdings auch einige politische talk shows angeschaut. Natuerlich gibt es schwache Stellen, natuerlich gibt es viel zu tun, wo waere es anders?
Seid froh, dass es euch einigermassen gut geht, dass Deutschland die staerkste europaeische Nation ist, dass Merkel ueberall bestens ankommt (na, vielleicht nicht in Griechenland), dass sie als maechtigste Frau in der Welt angesehen wird, dass ihr den Mund aufmachen koennt und dass euer Land friedlich und weltoffen, ja, weltoffen, dasteht.
In Deutschland wird immer viel genoergelt, das ist nun mal so. Springt endlich ueber euren eigenen Schatten und seid stolz auf euch.
hallo Dieter
AntwortenLöschenich war auch beim beobachten.Es war sehr spannend,und wir waren uns sicher das Fr.Merkel vorkommt.Jetzt...abwarten-)))
Hab ein schönen Tag
LG
Christa
I read that Merkel won, she looks happy.
AntwortenLöschenBig hugs.
Niedriglöhne sollen besser sein als Arbeitslosigkeit? Sorry, aber wann kapiert ihr endlich, dass die Politik die Niedriglöhne befürwortet und den Menschen mit der Arbeitslosigkeit Angst macht, weil sie mit den Wirtschaftsbossen unter einer Decke stecken? Jeder, der lieber Niedriglohn kassiert und wohlmöglich noch H4 ergänzend in Kauf nimmt, anstatt sich zu weigern für solche Hungerlöhne zu arbeiten, trägt mit Schuld daran, dass es immer mehr arme Menschen in diesem Land gibt. Augen auf und nicht so einen unreflektierten Beitrag von sich geben!
AntwortenLöschenGruss
Holger