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Victor Hugo 70-jährig, Quelle Wikipedia |
Er musste sich aufraffen. Er hasste die Unbequemlichkeiten
des Reisens, aus Koffern zu leben, nicht im eigenen Bett schlafen zu können, die
Hotels ständig zu wechseln. Es waren vor allem die holpernden und ruckelnden
Postkutschen, die ihm auf schlecht befestigten Wegen den Nerv raubten, sein
Gesäß strapazierten und seinen Rücken in Mitleidenschaft zogen.
Der Entschluss, an den Rhein zu reisen, entstand
1831. In Paris war Victor Hugo mit seinem Roman „Der Glöckner von Notre Dame“ der
literarische Durchbruch gelungen. Bereits mit 10 Jahren hatte Hugo zu schreiben
begonnen, mit 15 Jahren wurde er erstmals ausgezeichnet, mit 16 Jahren studierte
er Jura an der Pariser Sorbonne, mit Anfang 20 schrieb er Dramen. Für die
Menschenrechte engagierte er sich, als er einen Roman über den Sklavenaufstand
in Haiti schrieb; ebenso forcierte er die Abschaffung der Todesstrafe.
Die gesellschaftlichen Veränderungen hatten sein
Interesse geweckt, die künstlerische Bewegung der Romantik hatte in Europa um
sich gegriffen. In Paris lernte er Heinrich Heine kennen, der vor der Zensur
geflüchtet war. Mit der Erfindung der Dampfschifffahrt hatte eine Art von
Massentourismus am Rhein eingesetzt. Künstler und Intellektuelle bereisten den
romantischen deutschen Fluss, darunter die französischen Schriftsteller
Alexandre Dumas und Germaine de Stael.
Mit Frankreich und Deutschland sah Victor Hugo eine
Völkergemeinschaft, die sich ergänzen konnte. Frankreich, das bedeutete für ihn
Demokratie und Menschenrechte, Deutschland, in dieser Nation erkannte er
methodisches Denken und Tiefgründigkeit. Der Rhein war für ihn die Vision eines
Grenzflusses, der beide Nationen miteinander vereinigte.
Es sollte bis 1839 dauern, dass bis er das erste Mal
den Rhein zu sehen bekam – aber nicht das Rheinland. Er reiste nach Straßburg.
Dabei hatte er einen Teil seines Gepäckes postlagernd nach Köln geschickt, um
mit einem Dampfer rheinabwärts zu fahren. Doch er änderte seine Reisepläne und
fuhr in umgekehrter Richtung nach Schaffhausen.
Ein Jahr später, 1840, gelangte er schließlich ins
Rheinland. Seine Reisegefährtin war übrigens nicht seine Ehefrau, sondern seine
Lebensgefährtin Juliette Drouet, was seine Ehefrau zähneknirschend über
sich ergehen ließ. Um unerkannt zu bleiben, trug er sich in den Hotels als „Vicomte
Hugo“ ein.
„Der Rhein ist der Fluß, von dem alle Welt spricht und den niemand
erforscht, den jeder besucht und den keiner kennt, den man im Vorübergehen
wahrnimmt und den man schnell vergißt, den jeder Blick streift und der von niemandem
geistig durchdrungen wird“ so beschrieb er allgemein den Rhein.
Vom
29. August bis zum 1. November 1840 dauerte seine Reise durch Deutschland. Er
machte sich Notizen, führte ein Reisetagebuch und schrieb regelmäßig Briefe an
seine Ehefrau Adèle und seine vier Kinder. Da er seine Reisebeschreibungen bis
zur Veröffentlichung nur geringfügig überarbeitete, musste er mit dem Tempo
eines Irrsinnigen seine Notizen gemacht haben und abends im Hotelzimmer bis
mitten in die Nacht sein Tagebuch geschrieben haben.
Victor
Hugo kam aus dem Schwärmen nicht mehr heraus: „Rheinaufwärts, eine Meile über
St. Goar (...) bemerkt man plötzlich an dem Bogen zwischen zwei Bergen eine
schöne altertümliche Stadt, von der Anhöhe bis an das Flußufer reichend, mit
alten Gassen, die wir in Paris nur auf den Dekorationen der Oper zu sehen
bekommen, mit vierzehn Türmen mit Zinnen, mehr oder minder von Efeu umwachsen
und mit zwei großen Kirchen aus der reinsten gotischen Zeit. Es ist Oberwesel,
eine der Rheinstädte mit vielen Kriegsspuren. Die alten Mauern sind von Kanonen
und Kugellöchern dicht besät. (...) Wie fast alle Rheinstädte, hat auch
Oberwesel auf seinem Berge eine Burg in Ruinen, den Schönberg, eines der
bewunderungswürdigsten Schuttwerke, die es in Europa gibt.“
Er schwelgte in romantischen
Gefühlen, ließ sich verzaubern und einlullen, war hingerissen vom Rhein und
seiner Burgenlandschaft. Dies brachte er in ausschweifenden Naturbeschreibungen
zu Papier. In der heutigen Zeit hätte er sich sogar Plagiatsvorwürfe gefallen
lassen müssen. Vor seiner Reise hatte er mehrere Reiseführer studiert. Aus
einem Reiseführer von Aloys Schreiber, der 1831 erschienen war, hatte er
mehrere Textstellen wortwörtlich abgeschrieben.
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Denkmal Victor Hugo in Paris; Quelle Wikipedia |
Bacharach hatte es ihm besonders
angetan: „Ich befinde mich in diesem Augenblick in einer der schönsten,
angenehmsten und unbekanntesten alten Städte der Welt. Ich bewohne Gelasse wie
die von Rembrandt, mit Bauern voll Vögeln an den
Fenstern, sonderbaren Laternen an der Decke und mit Wendeltreppen in den
Stubenecken, woran die Sonnenstrahlen hinaufschleichen. Im Schatten brummten
eine alte Frau und ein Spinnrad mit gewundenen Füßen um die Wette. Drei Tage
brachte ich in Bacharach zu, einer Art Wunderland am Rhein, vergessen vom guten
Geschmack Voltaires, vergessen von der französischen Revolution, von den
Kriegen Ludwigs XIV., vom Kanonendonner der Jahre 1797 und 1805 und den
modischen Architekten, die Häuser wie Kommoden und
Schreibschränke machen. Bacharach ist wohl der älteste von Menschen bewohnte
Ort, den ich in meinem Leben gesehen.“
Die Deutschlandreise führte ihn
bis nach Stockach an den Bodensee. Zurück ging es durch den Schwarzwald, über
Heidelberg, Mannheim, Kaiserslautern und Saarbrücken nach Paris.
Wem gehörte der Rhein ? War er
ein Grenzstrom ? Oder war er ein deutscher Strom ? Victor Hugo betrachtete den
Rhein als gewaltige europäische Ader, die Geschichte und Gegenwart, Traum und
Wirklichkeit miteinander verband. Er dachte sogar in der Vision, dass der Rhein
als Drehscheibe Europas in einer späteren Phase England und Rußland in ein
vereinigtes Europa integrieren sollte.
Bis 1845 dauerte es, dass sein
Reisetagebuch „Voyage sur le Rhin“ erschien. In Frankreich und in Deutschland
war das Buch ein Knaller. In demselben Jahr stieg Victor Hugo in die Politik
ein, als er unter König Louis Philippe Abgeordneter der Nationalversammlung
wurde. Dort war er ein vehementer Verfechter für Menschenrechte und
Meinungsfreiheit.
1870 stürzte sein Weltbild in sich
zusammen, als der deutsch-französische Krieg ausbrach. Der Rhein als Spaltung
zwischen Deutschland und Frankreich ? Der „worst case“, an den er niemals
gedacht hatte, trat ein. Deutschland überrollte Frankreich, die Festung Sedan
wurde erobert, der deutsche Kaiser wurde im Spiegelsaal von Versailles gekrönt.
Elsaß und Lothringen wurden annektiert.
Victor Hugo wird sich wohl noch
heute im Grabe umdrehen: der Rhein wurde als Grenzfluss zu einem Zankapfel
zwischen Frankreich und Deutschland.