Freitag, 21. Juni 2013

Papa ?

Ich vertiefte mich in meine Zahlen wie in einer Klausur. Abgeschottet, lief meine Konzentration auf Hochtouren. Aus einem Gebirge von Zahlen suchte ich Kernaussagen, die einen Kern von Wahrheit beinhalteten. Ich drehte, wendete, beleuchtete das Zahlenmaterial von allen Seiten, extrahierte. Ich schärfte meinen Blick für das wesentliche.

Ich bemerkte nichts, neben unserem Bürogebäude hätte eine Bombe einschlagen können. Nichts hätte mich aus diesem fernen Zustand, in dem mich all meinen Verstand in die Waagschale schmiß, herausreißen können.

Es ist nicht nur mit zunehmendem Alter, auf Geräusche habe ich schon immer sensibel reagiert. Das Telefon klingelte in meinem Büro. Dem vernetzten Internet-Zeitalter entsprechend, riß mich das Internet-Telefon auf meinem Schreibtisch aus diesem Höchstmaß an Konzentration. Es klingelte dumpf, hartnäckig. Unbekannt verschleierte die fehlende Rufnummernanzeige den wahren Anrufer. Weil mich der Klingelton an einen schlechten Hupton erinnerte, fühlte ich mich genötigt abzuheben. Trotz fehlender Rufnummernanzeige, denn diese Anrufe sortierte ich direkt in die Kategorie „unwichtig“.

Ich hob ab, meldete mich mit meinem Namen, den ich wegen des Abbruchs meiner Phase finaler Einsichten bewußt mit meiner undeutlichen Aussprache schluderte. Immerhin signalisierte mir die fehlende Rufnummernanzeige, dass es wieder mein Chef, noch meine Abteilungsleiterin, geschweige denn unser Geschäftsführer sein konnte. Die wichtigsten Anrufe, die von meiner Göttergattin kamen, konnten es genauso wenig sein.

Als sich die Telefonleitung einige Sekunden wie tot anhörte, meldete sich mein Gesprächspartner.
„Papa ?“

Kannte ich nicht. Es war eine unsichere Jungenstimme, die sofort von der Vergänglichkeit des Augenblicks erstickt wurde. Unser Sohn war es definitiv nicht. Bei ihm wäre Frage auf Frage gefolgt, denn er hätte ein Ziel seiner Fragerei im Hinterkopf gehabt. Außerdem war die Stimme unseres Sohnes tief, die den Stimmbruch in vollem Umfang durchlaufen hatte.
„Papa ?“ hakte die Jungenstimme irritiert nach.

Das war irrational. Nicht jeder x-beliebige hatte die dienstliche Telefonnummer in meinem Büro. Ich war nicht weniger irritiert, dass sich ein Sohn meldete, der gar nicht mein Sohn sein konnte.
„Papa ?“ die Jungenstimme blieb hartnäckig. Sie klammerte sich an meiner Stimme fest und gewann an Überzeugung.
„Sind Sie nicht mein Vater ?“

Sprachlos hielt ich den Telefonhörer in der Hand. Spontan gingen mir Politiker durch den Kopf, die im Rampenlicht der Öffentlichkeit standen. In irgendwelchen dunklen Ecken verbargen sie ihre unehelichen Kinder. Beispiele gingen mir durch den Kopf: ein Horst Seehofer in einem erzkatholischen Bayern, ein Francois Mitterrand als Denkmal eines französischen Präsidenten, von Lüstlingen wie Silvio Berlusconi ganz zu schweigen. Dabei hatte ich es gar nicht nötig, in diese Kategorie eingeordnet zu werden. Ich hatte ein vollkommen reines Gewissen, kein Fremdgehen, auch keine unehelichen Kinder im Verborgenen.

Ich konnte also ein aufrechtes Telefongespräch führen, ich brauchte keine unseligen Erinnerungen an dunkle Kapitel meiner eigenen Vergangenheit zu fürchten. Ich versuchte, Licht ins Dunkel hinein zu bringen.
„Wer ist denn Dein Vater ?“ ich war mir selbst unsicher. Weniger wegen der Vaterschaft, sondern ob es richtig war, meinen Gesprächspartner zu duzen. Ein beklemmendes Schweigen entstand , mit dem unsere menschlichen Verbindungen abzureißen schienen.

„Wie heißt denn Dein Vater ?“ … „Matthias.“

Matthias saß ein Büro weiter. Ich wusste, dass er einen Sohn im jugendlichen Alter hatte. Er signalisierte, dass ich das Gespräch weiterleiten sollte. Alles klärte sich also innerhalb von Sekunden.

Wie kam sein Sohn an meine Telefonnummer ? Für seine Familie hatte mein Arbeitskollege eine Liste wichtiger Telefonnummern angefertigt. Falls er unter seiner dienstlichen Telefonnummer nicht erreichbar sein würde, hatte er Ersatz-Telefon-Nummern von mehreren Arbeitskollegen aufgelistet. Vielleicht war die dienstliche Nebenstellenanlage defekt, so dass er telefonisch nicht erreichbar war. Daher telefonierte sein Sohn die Nachbar-Büros ab – und landete bei mir.
Seine Stimme war ein ominöses Erlebnis. Meine Bedenken waren in Sekundenschnell in einer Luftblase zerplatzt. Easy livin‘. Mögen Vater und Sohn in diesem Telefongespräch miteinander klar gekommen sein.

9 Kommentare:

  1. Ha, was in Minutenschnelle durch den Kopf schießt
    Und am Ende ist alle Aufregung umsonst.
    Eine gute Nacht wünscht Dir
    Irmi

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  2. Na ja, das kann einer Frau schon mal nicht passieren. :-))

    nach-mittsommerliche Grüße
    Beate

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  3. *lacht*.....ach wie herrlich geschrieben, und dieses Gedankenwirrwarr.

    Habe ich mir richtig bildlich vorstellen können^^

    Wünsche einen schönen Start ins Wochenende und sende herzliche Grüsse

    Nova

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  4. *grins*...na warum warst Du aufgeregt?Hm...hm-))))))
    Habe alles mit panik gelesen,und irgentwie geglaubt,da taucht ein neues Kind auf...hihi
    Hab ein schönes Wochenende
    gruss
    Christa

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  5. ich lese deine Gedanken immer sehr gerne. Wieder toll beschrieben.

    ich wünsche dir einen schönen Sonntag. Lieber Gruß von Heidi-Trollspecht

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  6. :-D
    So geht's! Hat sich ja geklärt, Aufregung umsonst! ;-)
    LG Calendula

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  7. Ja mein Lieber da schiessen einem hunderte Gedanken durch den Kopf nicht wahr....
    Doch es hat sich alles aufgeklärt.
    Hast due gut geschrieben.

    Liebe Grüße
    Angelika

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  8. Respekt, ein wunderbarer Bericht der Gedanken, die einem in Windeseile durch den Kopf schießen. Man glaubt hier, mitten im Gedankenkarussell zu sein.

    Liebe Grüße
    Christa

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  9. *lach* ... diesen Augenblick kann ich mir gut bildlich ausmalen :-)
    Schön, dass sich alles schnell geklärt hat.

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