Blick von Wesseling aus auf Bahnanlagen mit Ölraffinerie |
So sehr mein Vorstellungsvermögen lahm gelegt ist:
ich muss nicht tiefe Vergangenheiten der Industriegeschichte aufbohren, in
denen in Manufakturen Webstühle standen oder die Dampfmaschine erfunden wurde.
Es ist nicht einmal achtzig Jahre her, dass der Rhein zwischen Köln und Bonn
ähnlich romantisch daher floss, wie er es zwischen all den Burgen von Bonn ab
rheinabwärts tat, wenngleich in seichtem und flachem Flussgebiet, durchsetzt
von urwaldähnlichen Flussarmen.
Von langer Hand war der industrielle Großangriff auf
Wesseling geplant. Das Schicksal von Wesseling war ein Werk der
Nationalsozialisten und wurde am 21.1.1937 besiegelt. Wesseling geriet in die
Begehrlichkeiten eines Hermann Göring, der in Vierjahresplänen dachte, die
heutigen Planungszyklen und dem Projektmanagement nicht unähnlich waren. Göring
entwickelte Szenarien der Aufrüstung und der Rohstoffautarkie, und dabei
spielte Wesseling eine nicht unwichtige Rolle. Schon 1936, diese Vorhersehung verblüfft, dachte er in Kriegsszenarien,
dass eine Seeblockade Rohölimporte aus dem Rest der Welt verhindern könnte, so
wie es die Erfahrungen im Ersten Weltkrieg gezeigt hatten. Das Deutsche Reich müsste
somit seinen Bedarf an Öl innerhalb des eigenen Gebietes selbst decken. So
wurden Jahre später Ölfelder in der Gegend um Hannover ausgebeutet, weitere Ölquellen
sprudelten bei Bruchsal und in Thüringen. Nach Kriegsausbruch wurde aus Ungarn
und Rumänien Rohöl über Eisenbahntransporte importiert.
Hermann Göring, Quelle Wkipedia |
Der fehlende Ölbedarf sollte über Verfahren der
Kohlehydrierung im Gebiet des Deutschen Reiches erzeugt werden. Dabei kam dem Industriestandort
Wesseling eine herausgehobene Bedeutung zu. Göring plante zwölf Standorte, verteilt über das gesamte Deutsche Reich, an denen Anlagen gebaut
werden sollten, die aus der heimischen Kohle Öl herstellen sollten.
Göring pochte auf Wesseling, wegen des Transportes
über den Rhein und wegen der Braunkohle. Das hatte technologische Gründe. Das
Verfahren der Kohlehydrierung, aus heutiger Sicht eine technologische
Eintagsfliege, vollkommen unwirtschaftlich und konträr zum freien Welthandel,
breitete sich mit zunehmender Kriegswirtschaft aus. Wesseling hatte den
Standortvorteil, dass der rheinische Braunkohletagebau in der Nähe lag – das
war der Tagebau Berrenrath bei Hürth. Die Eisenbahn transportierte
die Braunkohle vom Tagebau nach Wesseling. Beim Verfahren der Kohlehydrierung
musste die Kohle zerkleinert werden, unter Wasserdampf wurde die grobkörnige
Masse erhitzt, um die pampige Masse aus Teer und Kohle in einen flüssigen
Zustand zu überführen. Braunkohle enthielt mehr Wasser – wodurch die Verflüssigung
vereinfacht wurde. In einem weiteren Schritt wurde unter hohem Druck
Wasserstoff zugeführt, damit Kohlenwasserstoffverbindungen entstehen konnten,
die dem Hydriervorgang beim Rohöl entsprachen.
Am 21. Januar 1937 war es soweit. Bereits 1934 hatte
die chemische Industrie unter Führung der IG Farben die
„Braunkohle-Benzin-Aktiengesellschaft“ gegründet, kurz Brebag genannt. Heute
würde man es „joint-venture“ nennen: genau an diesem 21. Januar 1937 kooperierte die Brebag
mit der neuen Firma „Union rheinische Braunkohle-Kraftstoffaktiengesellschaft“,
kurz UK genannt.
Hermann Göring steuerte für Hitler die Rüstung, und
so musste er alles rund um die Produktion von Panzern, Flugzeugen, Waffen,
Munition, LKWs oder auch die Versorgung mit Treibstoff koordinieren. Die
Stahlproduktion im Ruhrgebiet lief auf Hochtouren. Vor dieser Herkulesaufgabe
scheiterte er, den Bedarf der Kriegswirtschaft gleichzeitig zu decken. Noch
1937 dürften die Bewohner von Wesseling dieses rückwärtsgewandte Idyll
vorgefunden haben mit satten Rheinwiesen, Kühen, Schafen, Kräutern und Blumen
jeglicher Art. 1938 änderte sich das: Bagger und Planierraupen fuhren vor und
schufen die Grundlage einer ausufernden Industrielandschaft, die heute bisweilen
apokalyptische Züge trägt.
Wesseling, petrochemische Industrie |
1938 kamen die Bagger aber nicht allzu weit, denn es
fehlte an Stahl für die Hydrieranlagen. Stahl wurde für Panzer und sonst wo
gebraucht. Erst im Januar 1940 hatte Hermann Göring das Vorhaben in eine hohe
Dringlichkeitsstufe übernommen, so dass der Aufbau der Kohlehydrieranlage
wirklich vorangetrieben wurde und im August 1941 am Standort Wesseling fertiggestellt wurde. Mit Ausnahme der Zerkleinerungsanlagen und der Verflüssigungsbecken wird die Hydrieranlage nicht so viel anders ausgesehen haben wie heute: Systeme von Kesseln und Rohrleitungen stiegen in die Höhe, die
flüssige Masse aus Kohle und Teer wurde erhitzt, und je nach Erhitzungsgraden wurden
die einzelnen Ölprodukte sauber voneinander getrennt – von Kerosin bis Diesel und all den restlichen Spritsorten.
Betrachtet man die Kohlehydrierung unter dem
heutigen Blickwinkel eines Projektmanagements, war diese durchaus ein Erfolg –
wobei es mir widerstrebt, das Wort „Erfolg“ in demselben Zungenschlag mit dem
Nationalsozialismus zu erwähnen. Jedenfalls gab es eine Zielsetzung von Hermann
Göring, eine festgelegte Eigenversorgung von Mineralölprodukten zu erreichen.
Das schafften die zwölf Hydrierwerke auch, um unabhängig vom Rohöl auf
dem Weltmarkt zu werden.
Verzögert durch das Fertigstellungsdatum der
Hydrieranlage, lief in Wesseling erst 1944 die Produktion auf Hochtouren, als im
Mai 21.000 Tonnen Benzin, Kerosin, Diesel und Heizöl hergestellt wurden. Einen
Monat später landeten die Alliierten in der Normandie. Sie beherrschten den
Luftraum, und - wie bereits 1940, 1941 und 1942 geschehen - wurde die Hydrieranlage
bombardiert. Dies geschah am 19. Juli 1944. Die blinkenden stählernen Rohre
ragten hoch in die Luft und waren eine leichte Zielscheibe für Luftangriffe.
Der 19. Juli 1944 war kritisch, da Hauptleitungen getroffen wurden, wodurch die
Produktion nahezu vollständig ausfiel. Erst Anfang Oktober 1944 waren die Schäden
notdürftig geflickt worden, so dass die Anlage wieder hoch gefahren werden
konnte – aber dies nur mit einem Ausstoß von 40%. Dazu kam es aber nicht, denn
am 3. und am 11. Oktober 1944 fielen die nächsten Bomben. Was geflickt worden
war, wurde erneut zerstört. Zwischen den beiden Luftangriffen wurde das Werk am
6. Oktober 1944 geschlossen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Alliierten bis ins Deutsche Reich vorgedrungen und die Schlacht um Aachen tobte. Wenn in
Wesseling noch Sprit geflossen wäre, dann höchstens für Hitlers letztes
Aufgebot.
Dulle Griet, Pieter Brueghel der ältere, 1562 Quelle Wikipedia |
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die
Hydrieranlage wieder aufgebaut. Da die Alliierten die Herstellung von
Treibstoffen verboten, wurde Ammoniak hergestellt – später Methanol. 1956 waren
die Anlagen allen Wettbewerbern weit voraus, als eine Ölpipeline vom Rotterdammer
Hafen nach Wesseling gebaut wurde. Seitdem ist die apokalyptische
Industrielandschaft petrochemischer Industrie ungehemmt gewachsen. Sie weitete sich in globalen Dimensionen aus, als die UK Wesseling 1989 in die DEA integriert wurde und 2002 von Shell aufgekauft wurde.
Wenn ich die Industrielandschaft durchfahre, komme ich mir bisweilen vor wie „Dulle Griet“. Sicher durchschreitet sie Endzeitstimmungen, überall lodert es, der Himmel scheint feuerrot, es herrscht ein Zustand der Vorhölle, die deformierten Menschen gehen im Chaos unter. Und wenn ich in Köln-Rodenkirchen oder in Wesseling-Urfeld diese apokylptische und deformierte Landschaft verlassen habe, bin ich glücklich, dort angekommen zu sein, wo man der Natur noch zugesteht, sich ausbreiten zu dürfen.
Wenn ich die Industrielandschaft durchfahre, komme ich mir bisweilen vor wie „Dulle Griet“. Sicher durchschreitet sie Endzeitstimmungen, überall lodert es, der Himmel scheint feuerrot, es herrscht ein Zustand der Vorhölle, die deformierten Menschen gehen im Chaos unter. Und wenn ich in Köln-Rodenkirchen oder in Wesseling-Urfeld diese apokylptische und deformierte Landschaft verlassen habe, bin ich glücklich, dort angekommen zu sein, wo man der Natur noch zugesteht, sich ausbreiten zu dürfen.
Quelle: Bogislaw Graf von Schwerin, Die Treibstoffversorgung durch Kohlehydrierung in Deutschland von 1933 bis 1945
Das ist ja ein spannender Post, denn die Geschichte dieser Industrielandschaft kannte ich bisher nicht. Dabei bin ich an 1970 täglich zwei Mal daran vorbeigefahren und die Anlagen kamen auch immer wieder mal in Bildern vor, die ich während meines Kunststudiums an der Kölner Werkschule gezeichnet oder gemalt habe. Damals waren die Anlagen auch noch nicht so beleuchtet wie jetzt, wodurch sie nachts ja eine ganz eigenartige Schönheit bekommen.
AntwortenLöschenHat der Autobahnbau auch damit zu tun?
LG
Astrid
Danke für den sehr interessanten Post Dieter. Ich wäre nie im Leben auf die Idee gekommen, dass die Nazis Ursprung von Wesselings Industrie sind.
AntwortenLöschenLG Frauke
Jetzt habe ich schon wieder soooo viel bei dir gelernt und wirklich für mich Neues erfahren! Danke!
AntwortenLöschenEinen schönen Abend! Martina
Auch ich habe noch nie etwas davon gehört, scheint aber wirklich eher ein unbekanntes Kapitel zu sein.
AntwortenLöschenUnd was für eine Assoziation mit Brueghel :-D!!! Super.
LG
Ich habe 1977 die Lehre als Chemiefacharbeiter und war ab 17.06.1980 auf Wechselschicht bei
AntwortenLöschenUK/DEA/Shell. Krankheitsbedingt durfte ich zum 01.10.2015 in Pension gehen.
Mein Glück war es dass ich noch viele alte Kollegen kennenlernen durfte welche mir die Geschichte des Herrmann Göring Werkes erzählten.
Dies überschneidet sich komplett mit dem Post.
Danke dass jemand Diesen eingestellt hat, ich hätte ihn nicht so schön Schreiben können, da ich über die Jahre sehr viel von den Erzählungen vergessen hatte, nun ist Alles wieder Präsent.
Ich hoffe dass Dies von Vielen gelesen wird, besonders von denen Die jetzt, und hoffentlich später noch dort Arbeiten dürfen und können.
Historie darf nicht Verloren gehen.
Danke und Gruß
Werner (ein alter Ukazius:-))