Place Le Pecq |
Doch hier in Hennef ist die Realität anders geartet.
Der „Place Le Pecq“, der der französischen Partnerschaftsstadt gewidmet ist,
ist nicht behaglich und auch kein Wohlfühlfaktor. Die Realität holt mich
schnell ein, als meine Eindrücke platt gewalzt werden von einem einsamen
Bürogebäude, dessen Formen auf einen Bauklotz reduziert sind. Praktisch,
barrierefrei und zuverlässig, schiebt sich der Fußgängerweg unter die
Bahnunterführung, begleitet von Treppenstufen, die seitwärts hastig ansteigen.
Die Seele Hennefs versteckt sich unter Bodenplatten, dessen viereckiges Muster
in der Unendlichkeit zu zerrinnen scheint. Die orangefarbene Einrahmung des
Bürokomplexes ist so starr, dass die Bewegungen von Passanten in der Langeweile
stehen zu blieben scheinen. Le Pecq-sur-Seine muss viel hübscher sein, dass
beschließe ich jetzt und hier für mich.
Pfarrkirche St. Simon |
Hennef steckt voller Abbrüche, Umbrüche und
Aufbrüche. Alles ist in stetigem Wandel begriffen. Es fällt schwer, sich dieser
Dynamik zu entziehen. Das magische Datum, als die Aufbruchstimmung einsetzte,
war das Jahr 1859. Davor war Hennef fast achthundert Jahre lang ein
verschlafenes Nest, wo sich Schafe und Kühe auf den Wiesen der Siegaue gute
Nacht sagten. Noch um 1800 war die Siedlung Hennef ein Bauerndorf mit 20
Wohngebäuden, die sich rund um die Pfarrkirche St. Simon mitsamt ein paar
Wirtschaftshöfe versammelten. Eine Wasserburg, die im 16. Jahrhundert erbaut
wurde und heute eine Zahnarztpraxis beherbergt, schlief vor sich her, denn
mitten auf freier Flur gab es nichts zu verteidigen.
Erstmals als „Hanafo“ 1075 erwähnt, war Hennef die unbedeutendere Ansiedlung gegenüber Geistingen. Geistingen war deutlich älter,
wurde 885 in einer Urkunde genannt, in der König Ludwig III. der Jüngere dem
Abt Heinrich in Geistingen einen Herrenhof schenkte („donatio Henrici abbatis
de Geistinge“). Die Bürger von Geistingen – und nicht von Hennef – waren dem
Landesherren, dem Herzog von Jülich-Berg, im Mittelalter zu Diensten verpflichtet.
Außerdem war Geistingen eigener Gerichtsort mit eigenem Galgen. Wichtige
Transportwege führten über Geistingen. So wurde Wein aus dem herzoglichen
Herrenkelterhaus in Bödingen östlich von Hennef auf dem Weg zum Rhein in Geistingen ausgeladen und
musste dort bewacht werden, da die Fracht kostbar war und vor Diebstahl
geschützt werden musste.
Die Revolution kam mit der Eisenbahn, die weitgehend
geradlinig durch die Landschaft dampfen sollte. In Aufbruchstimmung, planten
die Ingenieure die Eisenbahnlinie von Köln nach Siegen. Als bedeutende Stadt
aus dem Mittelalter musste die Eisenbahntrasse durch Siegburg führen. Der
Bogen, um die Bahnlinie über Geistingen zu führen, wäre zu weit gewesen, so
dass Hennef sich gegen Geistingen durchsetzte.
Bahnhof mit Parkhaus |
1859, nachdem der Bahnhof gebaut wurde, veränderte
sich Hennef grundlegend. In den Folgejahren waren es Bastler, Tüftler und
pfiffige rheinische Erfinder, die sich als Unternehmer niederließen und eine
Fabrik nach der anderen aus dem Boden stampften. So betrieb Carl Reuther 1862
auf dem Zissendorfer Hof eine Schlosserei und handelte mit Eisenteilen. In
Schuppen und Hinterhöfen tüftelte er an der Präzisierung von Geräten zum
Messen, Zählen und Wiegen herum, bis er mit seinem Partner Eduard Reisert die
erste eichfähige Waage – für Schüttgut – entwickelt hatte.
Daraus wurden die Chronos-Werke, die sich entlang
des Siegbogens ausdehnten. Anfang der 1990er-Jahre abgerissen, ist ein Teil der
alten Fabrikgebäude mit ihren Ziegelsteinfassaden stehen geblieben. Die Stadt
Hennef widmet den Erfindern sogar einen eigenen Waagen-Wanderweg. Auf 26 Stationen
kann sich der Betrachter schlau machen über
das Thema Zählen, Messen, Wiegen. Bereits die Bibel und der Koran berichteten
über Maße und Gewichte. Des weiteren informiert der Waagen-Wanderweg über den
Ursprung der Waage bei den Ägyptern oder die Erfindung der Dezimalwaage 1821 in
Straßburg.
Die Produktion von Waagen lief auf Hochtouren, die
Schlote rauchten. Ab 1879 wurde in Hennef Eisen und Stahl gegossen, daraus
wurden Eisenbahnwaggons gebaut. Mit ihrer Randlage zu ländlichen Gebieten, das
waren das Bergische Land und der Westerwald, spezialisierten sich die Hennefer
Unternehmer auf den Bau von Landmaschinen, Heuwendern, Häckselmaschinen,
Dreschmaschinen, Rübenschneider, Ackerwalzen oder Jauchepumpen. Der Lärm muss
in den Fabriken unerträglich gewesen sein, wenn Dampfmaschinen ratterten und
brodelten und ihre Kraft über Transmissionsriemen auf die Maschinen übertrugen,
bevor um die Jahrhundertwende die Ära der Elektromotoren begann.
Chronos-Werke |
Diejenigen Fabriken, die während der industriellen
Revolution gebaut worden sind, haben entweder dicht gemacht oder haben sich in Industriegebiete
am Stadtrand verflüchtigt. Eine Abrißwelle sondergleichen läutete eine neue Ära
ein. So wurden 18.500 Quadratmeter in bester Zentrumslage frei, als eine
Büromöbelfabrik sich jenseits der Autobahn A560 vergrößerte. Daraus entstand
die Idee, einen Marktplatz zu bauen, die „Neue Mitte“. Hennef krankt daran,
dass es nie einen Marktplatz besaß. Händler ließen sich auf der Frankfurter
Straße nieder, wo sich Höfe mit Fachwerkbauten vermischten. So etwas wie einen
lebendigen Kern muss man suchen. Ein wenig findet man ihn rund um die barocke
Kirche St. Simon mit ihrem Zwiebelturm, die mit ihren fein aufeinander
geschichteten Bruchsteinen viel älter aussieht als ihr tatsächliches Baujahr
1744.
In der „Neuen Mitte“ konnten sich Stadtplaner und
Architekten nach Herzenslust in moderner Architektur austoben. Schaun wir mal. Mit
moderner Architektur habe ich Berührungsängste. Zwischen Strichen, Linien,
Quadraten, Würfeln und Rauten geht die Symbolik leicht verloren. An der einen
Ecke des Platzes übersehe ich beinahe die Kreuzblume, die derjenigen vor dem
Kölner Dom nicht unähnlich ist. An der anderen Ecke des Platzes stritten die
Verantwortlichen jahrelang, welche Art von Kunst aufgestellt werden sollte. Ein
Labyrinth sollte her, oben drauf ein Brunnen. 80.000 Euro waren bereits an
Spendengeldern zusammen gekommen, doch die Stadt lehnte ab, weil die Betriebskosten
von jährlich 5.000 € nicht tragbar waren. Kostengünstiger und ohne Betriebskosten sei eine Skulptur
zu haben, das dachten die Verantwortlichen der Stadt. Sie führten einen
Künstlerwettbewerb durch, doch niemandem gefielen die Entwürfe. Die
Karnevalisten lösten schließlich das Dilemma. Sie ließen aus Bronze einen 850
Kilogramm schweren Stadtsoldaten formen, den „Stippefott“. Er streckt sein
Hinterteil aus und schaut in Richtung Köln, der rheinischen Hauptstadt des
Karnevals (die Düsseldorfer mögen mir diese Formulierung verzeihen). Der
Vorsitzende der Hennefer Stadtsoldaten kommentierte das jahrelange Hickhack mit
den Worten: „Eijentlich mööt mer uns en Denkmol setze, ävver dat
määt jo keiner, also dann machen mir dat ävven selbs.“
Neue Mitte |
Auch heute wächst Hennef ungebremst. Bald wird die
50.000 Einwohner-Marke überschritten werden. Während die Neubeugebiete
ausufern, bleibt in Geistingen alles beim alten. Harmonie trifft auf Umbruch,
Tradition auf Dynamik, Abgeschiedenheit auf Verkehrsknotenpunkt. Diesseits und
jenseits der Bahnlinie fügen sich die Stadtteile Hennefs zusammen, die manches
gemeinsam haben: Hennef und Geistigen wurden gleichermaßen im Zweiten Weltkrieg
verwüstet. Und dann gibt es noch den Kurpark, der nahtlos von Hennef nach
Geistingen übergeht.
Kurhaus |
Industriestadt und Kurort ? Der Gegensatz könnte
kaum krasser sein, denn aus der „Neuen Mitte“ befinde ich mich in fünf Minuten
Fußweg in der Ruhe des Kurparks. Ruhe und Abgeschiedenheit, die der Kurpark
ausstrahlt, verblüffen in der Tat. Großzügig angelegt, mit Wildpark und
Teichanlage, im Sinne des Sebastian Kneipp die heilenden Kräfte des Wassers
beschwörend, erlebte der Park nach seiner Eröffnung 1912 ein reges Auf und Ab.
1914 wurde der Kurbetrieb mit dem Ersten Weltkrieg eingestellt, 1927 wieder
eröffnet, 1930 lobte der Deutsche Kneipp-Bund die Hennefer Kuranlagen: „In
Hennef, dem Wörishofen des Rheinlandes, barfuß in Sandalen zu gehen“. Das Datum
des 20. April 1934 würden alle Hennefer allerdings am liebsten aus ihrer
Stadtgeschichte streichen. Dann wurde nämlich zum 45. Geburtstag des Führers
eine Adolf-Hitler-Eiche gepflanzt. In der Nachkriegszeit bescheinigte ein
Helklimagutachten, dass das therapeutisch einsetzbare Klima vorzüglich sei.
Folglich ging es mit dem Kurbetrieb bergauf, doch 1984 kam das Ende. Die
Krankenkassen mussten sparen, und auf ihrer Liste der Kureinrichtungen wurde
Hennef gestrichen. Das frühere Kurhaus hat nichts von seinem Stil verloren. Ein
halbrunder Balkon schwingt sich über den Eingang. Heute ist dort ein Alten- und
Pflegeheim untergebracht.
Nachdem der Bahnhof gebaut wurde, überholte Hennef
rasch Geistingen in seiner Entwicklung. Rund um die wieder aufgebaute
romanische Kirche hat sich ein kleines Stück des alten Geistingen erhalten.
Fachwerkhäuser säumen enge Gassen, die sich krümmen und die Zeit scheint still
zu stehen. Die Kirche tut mir leid, denn in der vorletzten Kriegswoche wurde
sie am 8. März 1945 komplett zerstört.
Geistigen, romanische Kirche |
Trotz so mancher platten Ansätze der modernen
Architektur, ist es wie sonst wo in Hennef, dass man die Mühe erkennen kann,
das Alte zu bewahren. So hat man an der
romanischen Kirche St. Michael den romanischen Torbogen wieder
zusammengeflickt. In Hennef selbst sind es die Überbleibsel der
Industriearchitektur, die nicht komplett abgerissen worden sind. Bewundern kann
man die Ziegelsteinfassaden der ehemaligen Chronos-Werke und der Meys Fabrik. Während
in der Meys Fabrik das Stadtarchiv, die Stadtbibliothek und die Feuerwehr eine
neue Bleibe gefunden haben, beherbergen die Chronos-Werke ein Sport-Studio.
Dennoch war nach dem Teilabriss der Chronos-Werke die
industrielle Brachfläche überdimensioniert, und zwar so riesig, dass sie bis
heute nicht vollständig wieder bebaut worden ist. Ich bin überrascht, dass ich
auf dem „Central Park“ verweile, der auf dem früheren Gelände entstanden ist. New
York in Hennef ? Assoziationen steigen in mir hoch von einer Flut von Grün, dass
aus der einstigen Industriefläche eine grüne Lunge inmitten der Stadt geworden
ist. Doch das erweist sich als Irrtum, denn die vermutete Parkanlage fällt eher
bescheiden aus. Auf dem kargen Mittelstreifen hocken sich zufrieden ein paar Bäume
und Sträucher zusammen, in den Ritzen von Pflastersteinen fühlt sich Löwenzahn
wohl. Wie schön, dass er hier sauber ist. Das verspricht auf jeden Fall der
Aufkleber „Hennef bleibt sauber“ auf einer blauen Mülltonne aus Plastik. Hennefs
Vergangenheit als Kurstadt wird hier doppeldeutig: eine Kneipe heißt „Kneippen an
der Sieg“, und unter dem Oberbegriff „Kneippen“ könnte ich bei einer 80er-Jahre-Party
mitfeiern. In derselben Lokalität könnte ich auch zocken und pokern. New York
ist weit weg, aber nicht viel weniger weit weg ist auf diesem Platz der
Zungenbrecher der polnischen Partnerschaftsstadt: Nowy-Dwor-Gdanski.
Radweg über die Sieg |
An der Sieg angekommen, stelle ich fest, dass
Hennef, die Stadt voller Abbrüche, Umbrüche und Aufbrüche auch reichlich
chaotisch sein kann. Längs der Sieg passt nichts so richtig zusammen. Während
der Feuerwehrturm der Chronos-Werke aufblüht in seiner morbiden Schönheit,
wuchert auf Freiflächen Unkraut. Ladenlokale stehen unter schnell dahin
geklatschten Wohneinheiten leer. Glas, Beton, Unkraut. Alleine das Radwegnetz
beeindruckt an dieser Stelle. Ich kann zum „Central Park“, längs der Sieg und
über die Siegbrücke hinweg radeln, ungestört und ohne jeglichen Autoverkehr.
Hennef hat äußerst viele Facetten, die so uneinig
sind, dass ich sie nicht unter Oberbegriffe zusammengefasst bekomme. Ich
beschließe, dass Hennef nicht hübsch sein muss, aber durchaus anziehende Seiten
hat.
Hallo Dieter,
AntwortenLöschenes gibt sehr viele Städte in Deutschland, in denen Neues und Altes nebeneinander besteht, jedoch ohne Verbindung ist und deshalb mich als Betrachter da stehen lässt mit dem Gefühl des "Zerfließens". Die moderne Architektur spricht mich selten an, ich empfinde sie als interessant, doch meine architektonischen Vorlieben wurden in anderen Jahrzehnten gebaut. Am wenigsten spricht mich "Schuhschachtelformat" an. Großzügige Flächen, die sich verlieren und die ohne erkennbare, nennenswerte Funktion, sind mir ein Greuel. Sie sind einfach nur öde. Ja ich glaube, jeder sucht sich die Nische in der Stadt, die seinem Wohlbefinden am zuträglichsten ist. Das sind die Altstädte mit der ursprünglichen Bausubstanz, gerne restauriert.
Das Stadtbeispiel "Hennef" ist sehr gut nachvollziehbar in Deiner Beschreibung!!!
Gruß
Beate
Das ist der Lauf der Zeit, lieber Dieter. Altes geht, Neues entsteht und jede Zeitepoche bringt ihren eigenen Architekturstil mit sich. Nicht immer passten die früheren Stile optimal zusammen.
AntwortenLöschenEs ist natürlich schon gewöhnungsbedürftig, wenn moderne Bauten aus Glas und Stahl vor alten Gebäuden stehen oder mit ihnen kombiniert werden. Wobei ich selbst aber auch kein Freund von Schuhkartons bin.
Du machst dir sehr viel Mühe, alle diese Infos der verschiedenen Städte zusammenzutragen. :-)
Liebe Abendgrüße schickt dir
Christa
Hallo Dieter (◠‿◠)
AntwortenLöschenes ist schade, wenn eine Stadt so hässlich ist, wie es Hennef zu sein scheint. Ich finde allerdings das Gebäude „Neue Mitte“ interessant und wäre gespannt, wie es real mit allem Drumherum auf mich wirkne würde. Du hättest vlt etwas von den Neubaugebieten dazu zeigen können. Manche Neubausiedlungen sehen gar nicht schlecht aus und ich würde nicht alles, was neu ist ablehen wollen… Bei uns wurde auch neu gebaut, bzw. neu eröffnet nach umfassender Sanierung. Ich denke der Post über das Bikini-Haus könnte dich interessieren.
Danke für deinen Cmt.: Ja, durch die Einstellung „Supermakro“ in der Kamera wird der Hintergrund unscharf. Bei einer Spiegelreflex würde mensch am Rädchen drehen. hihi
Gruss, Wieczora (◔‿◔) | Mein Fotoblog
Kein Wunder, dass ih noch nie dort war ( ist mir jedenfalls nicht bewusst )...
AntwortenLöschenLG
Astrid
Zum Glück hat jeder Ort irgendetwas Schönes, wenn man danach sucht, aber wenn der Gesamteindruck nicht stimmt ...
AntwortenLöschenEs ist in vielen Städten so: je nachdem welche Stadtplaner gerade am Werk sind, entsteht Ansehnliches oder Hässliches! Vom Gebäude her finde ich allerdings jetzt nicht nur die historischen Gebäude wie das Kurhaus interessant, das Haus der "Neuen Mitte" hat für mich auch was Spannendes!
AntwortenLöschenLG Calendula
Hennef ist ein ruhiges beschauliches Städtchen. Wir haben mal in H-Allner direkt an der Sieg gewohnt. Zum Rad fahren echt schön, aber bei Hochwasser... nein danke!
AntwortenLöschenLG Arti