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Kapelle auf der Waldlichtung |
Ich musste genau hinsehen, denn schon zweimal hatte
ich die kritische Stelle übersehen. Bewußt bin ich auf der Suche nach
unbekannten Flecken im Rheinland, deren hohe Anzahl mir dauerhaft beweist, wie
wenig ich meine eigene Heimat kenne. Aus dem Rheintal habe ich mich von Bad
Honnef aus hoch gearbeitet.
Langgestreckt ist der Schwung, mit dem die Kurve ausholt. Diesmal folgt mein
Rennrad nicht dem Knick der Kurve, sondern an dem Wanderparkplatz mache ich eine
Kehrtwendung, eine Stichstraße steigt durch dichten Wald mächtig an, die Vision
einer Lichtung umreißt ihr Ende. Unberührtheit und Abgeschiedenheit breiten
sich auf einer Wiese jenseits von Bad Honnef aus. Die Servatius-Kapelle
beeindruckt mit ihrem zartgelben Anstrich.
Die Frage bohrt sich in mir fest, wieso dieser
Heilige, der einhundertfünfzig Kilometer westlich in den Niederlanden in
Maastricht begraben ist, ins Rheinland gekommen ist. Auf der Lichtung strahlt
die Servatius-Kapelle eine ausgewogene Harmonie aus. Tannen und Ahorn rahmen
den schmalen Baukörper ein. Das Tageslicht fließt durch die kleinen, zusammen
gepressten Rundbogenfenster hindurch.
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Grabkammer in Maastricht |
Ein unendlich große Lücke klafft. Die Jahreszahl
1755 über dem schmalen, vergitterten Fenster liegt um Größenordnungen von derjenigen
Jahreszahl entfernt, die sich vor seinem Grab befindet. Virtuell reise ich von
Bad Honnef nach Maastricht in den Niederlanden. In Kellergewölben, hinter einer
verschlossenen Eisentüre, ruht der Heilige Servatius in der Krypta der
gleichnamigen Kirche. Sein Grab ziert die Aufschrift „Sepulture de St. Servais
384“. Dabei leuchtet die Jahreszahl 384 magisch in mir auf, denn diese
Jahreszahl fällt in die römische Antike. Zu dieser Zeit bröselte das römische
Reich weg, durchdrungen von wilden Germanen, aber satte eintausendfünfhundert
Jahre liegen zwischen diesen beschaulichen Stätten in Maastricht und Bad
Honnef. Bad Honnef ist kein Einzelfall: weitere Kirchen in unserer Nähe in
Siegburg, Bonn-Friesdorf, Bornheim, Hennef-Winterscheid und Köln-Ostheim tragen
den Namen dieses Heiligen aus den Niederlanden.
Die Wege, wie Heilige importiert und exportiert
wurden, sind undurchdringlich bis verworren, zumal ein offzielles Verfahren zur
Heiligsprechung durch den Papst erstmals 990 belegt ist. Heilige sind
Leitbilder, haben Vorbildfunktion und verkörpern eine Richtschnur menschlichen
Handelns. Damals wurden sie so verehrt wie heutzutage Helden, Stars und Idole. Heilige
mussten ein Leben voller heroischer Tugend gelebt haben oder Wunder gewirkt
haben. Märtyrer, Bischöfe, Mönche, Gelehrte, allgemein: Menschen, die jede
Menge Gutes getan hatten, konnten heilig gesprochen werden. Jede Stadt, jede Region,
jedes Land bekam ihre Heiligen. Um ihre Vielzahl zu überschauen, muss man
sortieren. Wichtig oder unwichtig, lokal, regional oder im gesamten Christentum
kursierend; dabei wäre der Heilige Servatius in die mittlere Kategorie
einzusortieren, denn seine Existenz beschränkt sich auf die Niederlande, Belgien und Deutschland.
Heilige als Exportgut. Das gilt vor allem für die Apostel, die Evangelisten
oder Märtyrer aus der Zeit der Christenverfolgung im römischen Reich.
Die Geschichte des Heiligen Servatius ist schnell
erzählt. Als sich das Christentum im römischen Reich gefestigt hatte, wurden
die größeren römischen Städte zu Bischofssitzen, darunter auch Tongeren im
heutigen Belgien. Als Bischof von Tongeren reiste Servatius nach Rom, wo ihm in
einer Vision vorhergesagt wurde, dass die Stadt Tongeren durch plündernde
Hunnen zerstört wurde. Servatius reiste zurück, warnte die Einwohner von
Tongeren, verlegte den Bischofssitz nach Maastricht, das dann von den
plündernden Hunnen verschont wurde.
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Eingang mit der Jahreszahl 1755 |
Die Erbauer der Servatius-Kapelle in Bad Honnef
haben sich wohl gedacht, dass doppelt besser hält, denn ich finde den Heiligen
gleich zweimal, das erste Mal als Skulptur in einer Mauernische, das zweite Mal
im neugotischen Altar. Das Innere der Kapelle ist ausgewogen, nicht überladen,
schlicht und einfach hübsch. Ich spüre, wie ich zur Ruhe komme. Ein Ort der
inneren Einkehr. Ebenso ein Ort der Inspiration, wo ich stillstehe und
gleichzeitig Ideen und Gedanken in einer solchen Fülle entstehen, dass ich sie
nicht festhalten kann.
Die Jahreszahl 1755 über dem Eingang markiert einen
Wendepunkt, denn sie war nach ihrer Zerstörung neu aufgebaut worden.
„In schwerer Zeit um 1755
Wurde ich durch emsigen Fleiß erbaut
Manch Pilger hier auf St. Servatius Hilf vertraut
Nun schlug der Krieg mir tiefe Wunden
Doch treue Helfer haben sich gefunden
Die in der Not zu helfen sind bereit
Hast Du ein Scherflein für zu spenden
Soll Dank und Segen Dir der Himmel senden.“
So formuliert eine hölzerne Tafel im Inneren die
höfliche Bitte. Doch welcher Krieg ist gemeint ? Manches bleibt Spekulation. Kriege,
die das Rheinland verwüstet haben, liegen weit weg. 1714 war der spanische
Erbfolgekrieg zu Ende gegangen, Napoleonische Truppen fielen erst 1795 im
Rheinland ein.
Auf der Waldlichtung verhüllt sich die
Servatius-Kapelle in Schweigen, denn sie verbirgt ihr tatsächliches Alter.
Zurück blickend, wurde die Servatius-Kapelle 1670 erstmals in den Chroniken
eines Franz Xaver Trips erwähnt. Die Pest hatte im Rheinland gewütet, und die
Menschen wollten der Seuche begegnen, indem sie beteten und Gott herauf
beschworen. Christen aus Bad Honnef und Aegidienberg, die eine Christengemeinde im
Rheintal und die andere auf den Höhen des Siebengebirges, taten sich zusammen
und riefen eine Prozession zur Servatius-Kapelle ins Leben. Wie alt die
Servatius-Kapelle wirklich ist, weiß indes niemand, da Quellen vor 1670 fehlen.
Darüber darf nun spekuliert werden. Eine Spekulation nennt ein Datum um 1550,
da erstmals in den Quellen eine Grenzmarkierung zwischen den Löwenburger Herren
und Hunferode (heute Bad Honnef) genannt werden. Die Stelle der Grenzmarkierung
könnte mit der Servatius-Kapelle übereinstimmen.
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Skulptur des Heiligen Servatius |
Wenn ich zurück rechne, ist die Zeitdifferenz von
eintausendeinhundert Jahren riesig, dass Servatius in Maastricht begraben
worden ist und im Siebengebirge diese Kapelle gebaut worden ist. Heilige werden
kopiert, exportiert, importiert, globalisiert. Dazwischen hängt der
mittelniederländische Dichter Heinrich von Veldeke, der um 1150 geboren wurde.
Dichtkunst gab es seit der Antike, und in der frühhöfischen Epik haben Dichter
im Mittelalter das Leben ihrer Helden dargestellt. Heinrich von Veldeke war
fasziniert vom Heiligen Servatius, er schrieb, dichtete, erzählte seine
Lebensgeschichte rauf und runter, stilisierte ihn als Helden.
Nun geschah erstaunliches
innerhalb der engen Grenzen des mittelalterlichen Europas, denn es muss
Verbindungen von der mittelniederländischen Dichtkunst nach Bayern gegeben
haben, denn 1169 erschien die Legende des Heiligen Servatius in den Schriften
des Otto von Wittelsbach – der gehörte dem bayrischen Adel an. Fortan wurden
Kirchen in Bayern dem Heiligen Servatius geweiht. Wechselwirkungen zwischen
Fürstentümern und Staaten entstanden im Mittelalter mit einem Zeitversatz von
Jahrhunderten. Der Heligen Servatius wanderte von den Niederlanden nach Bayern
und dann ins Rheinland, was auf die merkwürdige Konstellation zurückzuführen
ist, dass die Bayern im Rheinland zweihundert Jahre lang das Sagen hatten.
Das hing wiederum mit der Reformation zusammen. Als der
Kölner Erzbischof Truchseß von Waldberg drohte zum Protestanten zu
konvertieren, riefen die Kölner Kurfürsten 1583 bayrische Truppen zu Hilfe, die
den Kölner Erzbischof vertrieben und einen Bischof aus dem Hause Wittelsbach
einzusetzen. Das erklärt zum Teil eine gewisse Häufung von Kirchen im
Rheinland, die dem Heiligen Servatius geweiht sind, wenngleich es auch Kirchen
gibt, deren Erbauungsdatum – wie die Servatiuskirche in Siegburg – nicht in die
Epoche der Wittelsbacher im Rheinland fällt.
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Innenraum der Kapelle |
Die Geißel der Pest ist längst ausgerottet, aber
dennoch haben sich die Prozessionen bis ins 21. Jahrhundert gehalten. So
ziehen, nicht anders als vor vierhundert Jahren, Gläubige aus Bad Honnef und
Aegidienberg am 13. Mai gemeinsam zur Servatiuskapelle. Alljährlich. Heilige
sind flexibel und passen sich den Bedürfnissen der Gläubigen an. Der 13. Mai
ist gleichzeitig sein Todesdatum, der Heilige Servatius ist einer der
Eisheiligen. Was damals die Pest, sind heute Frostschäden, Hagelschlag,
Rheumatismus oder Fieber. Heilige sind dehnbar geworden, damit sie den
Zeitgeist nicht verpassen. So vertreibt
der Heilige Servatius Mäuse und Ratten, er ist Patron der Schlosser und
Tischler, er hilft Fußkranken, er wirkt Depressionen entgegen.
Vor der Ausgangstüre der Servatius-Kapelle kann ich
nachlesen, dass Servatius zum Allzweck-Heiligen geworden ist. Auch heute sehnen
die Menschen die Wunderkräfte von Heiligen herbei. Die Besucher der Kapelle
können ihre Gedanken in einem Buch niederschreiben.
Eine Frau K. aus Haan bei Düsseldorf hat ins
Siebengebirge gefunden. Sie hat mehrere Kerzen angezündet, damit der Heilige
Servatius Wünsche und Träume erfüllen möge. Servatius soll helfen, dass N. ihre
Krankheit überwindet. J. und K. soll er auf ihren schweren Weg ins Berufsleben
begleiten. M. soll er Konzentration, Wissen und Gelassenheit auf den Weg geben,
damit er seine ADR-Schein-Prüfung besteht. K. selbst steckt schlimm in der
Klemme, denn sie hat Schulden, sucht einen Arbeitsplatz, aber nicht
irgendeinen, sondern einen, der ihr Freude bereitet. Was ich lese, stimmt mich
seltsam optimistisch. Mit K. stimme ich überein, dass die Servatius-Kapelle ein
einzigartiger Fleck ist. K. bedankt sich bei L., „dass sie sie zu diesem
wundervollen Ort begleitet hat“.
Ruhe und Abgeschiedenheit haben mich voll gepumpt
mit Eindrücken. Sie tragen mich nach vorne. Ich verlasse mit meinem Rennrad die
Waldlichtung, münde auf der langgestreckten Kurve ein und strebe weiter auf die
Höhen des Siebengebirges, nach Aegidienberg.
Lieber Dieter,
AntwortenLöschendu hast dir wieder viel Arbeit gemacht, um uns die
Kapelle nahezubringen. Danke dafür.
Einen guten Start in die neue Woche wünscht Dir
Irmi
Ich kann mich Irmi nur anschließen.
AntwortenLöschenBeeindruckend, was du schreibst.
Danke dafür! LG Martina