Im Gerichtssaal kam es
zum Eklat.
Regungslos sackte Murat
K. in seinem Stuhl zusammen und krallte sich in seiner gefütterten Winterjacke
fest. Seine Finger zupften an dem buschigen Bart, der in seinem Gesicht wie
Unkraut wucherte, als der Richter das Urteil verlas. Die Revision wurde
abgelehnt. Murat K., rechtskräftig verurteilt, das war im Oktober 2012, einem
Polizisten hatte er mit einem Küchenmesser in den Oberschenkel gestochen, als
dieser sich dem prügelnden Mob aus ProNRW und Salafisten entgegen stellte. Dann
stieg der Zorn in ihm auf, sein Gesicht wurde feuerrot, er schmetterte den
Richtern seinen Hass entgegen, so wie bei seiner Verurteilung vor anderthalb
Jahren. ProNRW habe Mohammed-Karikaturen gezeigt, dies beleidige alle Moslems,
Recht und Gesetz würden dieses Unrecht decken, die Polizei hätte bestraft
werden müssen. Hass und Feindschaft würden gesät, wenn die Verantwortlichen
nicht die Regeln des Islams annehmen würden. Schließlich packte er ein
Grundgesetz, schleuderte es auf den Boden und trat mit den Füßen darauf herum.
So wie andere abends
durch die Fernsehprogramme zappen, von Soap-Opera zu Dokumentation, von Krimi
zu Quiz-Shows, von politischen Sendungen zu Reisereportagen, so zappe ich gerne
auf meinem Internet-Radio herum. "Das philosophische Radio", freitags von 20.05
Uhr bis 21.00 Uhr auf WDR5, hat es mir angetan. Jürgen Wiebicke moderiert, da höre ich gerne zu, er lädt einen Experten ein und die Zuhörer können fleißig
ihren Senf dazu geben. Es geht da um das radikal Böse im Menschen, vom Recht
auf Nichtwissen in unserer Informationsgesellschaft oder welche Strategien man
gegen die Knappheit der Zeit entwickeln kann.
Bei diesem Thema hatte
ich zunächst weggehört, weil ich falsch zugehört hatte: Agnostizismus. Ich
hatte gehört: Atheismus. Beides hängt wiederum zusammen, und die einzelnen
Begriffe sind doch etwas komplett anderes. Das Wort „Agnostizismus“ kommt aus
dem Griechischen, wobei die Vorsilbe „a“ für die Verneinung steht und „gnoein“
wissen bedeutet. 400 vor Christus erwähnt Protagoras erstmals den
Agnostizismus, weil er keine Möglichkeit sieht zu wissen, ob Götter existieren
oder nicht.
Erst im 19. Jahrhundert
greift ein Biologe, das ist Thomas Henry Huxley, die Idee des Agnostizismus
wieder auf und verbindet ihn mit dem Gottesbeweis. Die Menschen glauben an Gott
– dann gehören sie einer Weltreligion an – oder sie glauben nicht an ihn – dann
sind es Atheisten. Der Biologe verknüpft die naturwissenschaftliche Sichtweise
mit dem Gottesbeweis: die Naturwissenschaft wird nicht beweisen können, ob es
Gott gibt oder nicht, daher ist der Atheismus die falsche Gegenposition zum
Glauben an Gott. Diese Gegenposition ist vielmehr das Nicht-Wissen oder die
fehlende Urteilskraft des Menschen, den Dingen richtig auf den Grund zu gehen,
um aus dem Status des Halb-Wissens heraus zu finden, nämlich der Agnostizismus.
Ich selbst staune, dass
die Dinge, an die wir glauben, zahlreicher sind, als ich vermutet hatte. Glaube
wird jeder mit Kirche und Religion verbinden, aber die spirituelle Dimension, Wahrheitsfragen,
Nicht-Erklärbarkeit, Visionen eines Propheten, das Zusammenfinden in einer
Gemeinschaft, Richtlinien wie die zehn Gebote: unabhängig davon, ob der Glaube
auf einen Gott gerichtet ist, haben sich solche Konstrukte im Alltag durchaus
verbreitet. Der Agnostizist fällt dann dadurch auf, dass er keine Position
bezieht. Es ist sein freier Wille zu entscheiden, mit welchen Dingen er sich
befasst. Er sucht sein eigenes Glück, indem er die einen Dinge ignoriert und
die anderen Dinge, die es ihm Wert sind, teilt und sich in eine Gemeinschaft
des Glaubens einbringt. „Leben und leben lassen“, in diesem Grundsatz könnte man
diese Lebenseinstellung zusammen fassen.
Ich schaudere selbst,
zu welchen Schrecken ein falsch verstandener oder fanatischer Glaube fähig ist.
Erst waren es die Kreuzzüge, in denen der christliche Glaube Angst, Schrecken
und Kriege verbreitet hat. In der Renaissance waren es Protestanten und Katholiken,
die Kriege gegeneinander geführt haben. Nun ist es läppische dreißig Jahre her,
seitdem sich in Ulster und Nord-Irland die letzten Protestanten und Katholiken
die Köpfe eingeschlagen haben.
Der 11. September 2001
löste eine Initialzündung aus. Betrachtet man die Zahl der Kirchenaustritte, so
geht die Gemeinschaft der gläubigen Christen kontinuierlich zurück. Dieses
Defizit an religiösem Glauben füllt nun der Islam aus. Mehr noch: in der
Perspektivlosigkeit von heruntergewirtschafteten Staaten lassen sich islamische
Gotteskrieger rekrutieren, die in ein straff organisiertes System eingebunden
werden, weltweit vernetzt sind und die vereint werden durch den Hass gegen das
Christentum und die westliche Welt.
Der Glaube hat die
Flugzeuge in das World Trade Center gesteuert, der Glaube hat die Feuerwehrmänner, die
in Schutt und Asche nach Überlebenden gesucht haben, zu Helden gemacht. Der
Glaube hat den Krieg gegen Afghanistan angefacht, um den Lenker islamischen
Terrors, Osama bin Laden, zu finden. Und
der Glaube hat Geduld und Ausdauer bewiesen, um so lange nach dem Versteck zu
suchen, um den Inbegriff des bösen Glaubens, Osama bin Laden, schließlich in
Pakistan zu finden.
Das Gedankengut eines Murat
K. ist in die Köpfe so mancher Islamisten, Salafisten und wie sie alle heißen, gewandert.
So wie er, rücken die Gotteskrieger aus den Elendsvierteln in Islamabad, Kairo
oder Algier aus, um die böse westliche Welt zum besseren Glauben des Islams zu
überführen. Murat K. bereut nichts. Er würde wieder so handeln. Sollte sich die
Polizei in den Weg stellen, würde er wieder zustechen.
Glücklicherweise sind
Murat K. und seine Gesinnungsgenossen eine Randerscheinung. Die Islamisierung
unserer Gesellschaft schreitet zwar voran, doch 99% der Moslems haben mit dem
Gedankengut eines Murat K. nichts gemein. Christen und Moslems leben
spannungsfrei miteinander, das beweist der Alltag, weil sie die Religion des
anderen nicht verstehen müssen - was auch eine Form des Agnostizismus ist.
All die Ismen des 20. und
21. Jahrhunderts setzen auf Glauben und Weltanschauung auf, sie haben Massen
mobilisiert, die durch Führer willenlos gelenkt wurden. Der Nationalsozialismus hat kein tausendjähriges Reich gebracht, sondern den Völkermord an den Juden.
Kapitalismus und Kommunismus haben die Welt in Gut und Böse aufgeteilt. Auch
der Kommunismus hat seinen Teil am Völkermord beigetragen, als 1975 bis 1979
auf den „killing fields“ in Kambodscha nicht kommunistisch gesonnene Menschen
systematisch ermordet wurden. Mit dem Mauerfall 1989 ist die Ära des
Kommunismus zu Ende gegangen, aber glaubt die Weltbevölkerung seitdem nur noch
an den Kapitalismus ?
James Bond, Geheimagent
007, hat es gewagt. In den Zeiten des Kalten Krieges hat er dem Kommunismus
getrotzt, mutig, kühn, gewagt, hat er es mit den Feinden in Rußland und
Afghanistan aufgenommen. Ausgefeilte
Technik hat ihn aus brenzligen Situationen herausgebracht. Er ist zum Retter
der Welt geworden, der verhindert hat, dass im entscheidenden Moment die Welt
durch eine Atombombe ausgelöscht worden wäre. Zwölf Romane hat Ian Flemming
geschrieben, in seiner Rolle als Agent des britischen Geheimdienstes, hat er
James Bond zur Glaubensfigur gegen den Kommunismus verewigt.
Der Glaube polarisiert,
er läßt nur noch die Wahl zwischen Gut und Böse. Das ist so wie beim Fußball.
Fans tun sich zusammen, pflegen ihr Gemeinschaftsgefühl, marschieren ins
Stadion, schwenken Fahnen und feuern ihre Fußball-Mannschaft an. Sie glauben
daran, dass ihre Mannschaft das Spiel gewinnen wird. Es gibt einen klar
umrissenen Feind, der als gegnerische Mannschaft auf dem Platz steht. Wenn
alles gut läuft, dann gewinnt eine Mannschaft (oder das Spiel geht
unentschieden aus), und anschließend sind die einen Fans todtraurig und betrübt
und die anderen Fans im siebten Fußballhimmel oder auch beide Fanblöcke
zufrieden. Wenn es schlecht läuft, dann gibt es Randale, so wie zuletzt in der
2. Fußball-Bundesliga beim Abstiegsduell Dynamo Dresden gegen Arminia
Bielefeld. Als Dresden 2:0 zurücklag, explodierten Böller auf dem Spielfeld,
Leuchtraketen wurden auf den Rasen geschossen. Als das Spiel aus war und
Dresden nach einer 2:3-Niederlage in die 3. Liga abgestiegen war, drohten Fans von
Dynamo Dresden auf einem Plakat: „Ihr habt eine Stunde Zeit, um unsere Stadt zu
verlassen.“ Nachdem sie sich geduscht und angezogen hatten und aus ihren Umkleidekabinen das Stadion verließen, musste die Polizei herhalten, um die Spieler beider Mannschaften vor dem Mob randalierender Fußballfans zu schützen.
Beim Fußball versteht
sich Agnostizismus von selbst, weil es dort nichts zu verstehen gibt. Klar, der
Trainer gibt den Spielern eine Taktik an die Hand, seine Mannschaft hat einen
guten oder schlechten Tag erwischt, der Rest ist Kampf, Einsatz, Übung, Training,
Schnelligkeit, Technik, Teamfähigkeit, Herz, Leidenschaft. Rational zu verstehen,
Urteile zu bilden, im Sinne einer Erkenntnistheorie, gibt es nicht beim Fußball.
Kurz gesagt: 22 Spieler rennen dem Ball hinterher und in wessen Tor der Ball am
häufigsten landet, diese Mannschaft hat verloren.
Agnostizismus ist eine
natürliche Einstellung, die andere Fußball-Fans ihren Leiden oder
Freuden überläßt. Neutralität, Mäßigung, nicht wissen, den anderen nicht
bekehren wollen, ihn so lassen, wie er ist, sich selbst nicht als Heilsbringer
verstehen: von solchen Einstellungen könnte unsere Gesellschaft profitieren, um
einen falsch verstandenen oder fanatischen Glauben zu entschärfen.
Da hast du aber viele Aspekte zusammengetragen um den Begriff "Agnostizismus" zu erklären & zu illustrieren. Ich habe ihn bisher immer nur eingeschränkt auf die Frage "ich weiß nicht, ob es Gott gibt, ich kann weder das eine noch das andere beweisen" verwendet und verstehe mich in diesem Sinne als Agnostikerin. Es fällt mir schwer, ihn im Zusammenhang mit anderen Leidenschaften wie Fußball zu sehen. Da muss ich noch drüber nachdenken...
AntwortenLöschenWas Fanatiker im Namen des Islam anbelangt: Ein neues Buch von Marc Engelhard (Heiliger Krieg, heiliger Profit) hat darauf hingewiesen, dass - vor allem im afrikanischen Raum - der Glaube benutzt wird, um terroristisches- kriminelles Verhalten zu verbrämen. Den Eindruck werde ich auch bei vielen "Glaubensrittern" hierzulande nicht los. Machtanspruch, Inhumanität, sonst nichts.
Liebe Grüße
Astrid
Dein heutiger Post ist durchaus 'schwere Kost'! Der Glaube hat schon viel Leid über die Menschheit gebracht und die Religionsgemeinschaften können sich nicht damit rühmen, dem Einhalt geboten zu haben - ganz im Gegenteil.
AntwortenLöschenWenn die Menschen toleranter miteinander umgehen und statt Hass Liebe für den anderen empfinden würden, dann - ja dann, sähe die Welt anders aus, denn dann gäbe es keine Glaubenskriege mehr. Doch davon sind wir wohl noch weit entfernt. LG Martina
Heel interessante gedachte Dieter.
AntwortenLöschenDein heutiger Post ist interessant. Allerdings kann ich alle Fakten nicht
AntwortenLöschenunterschreiben. Gerade die Agnostiker waren es, über die im referieren musste.
Und da nußte ich noch tiefer gehen. Und habe eine etwas andere Sicht der Dinge.
Einen schönen Feiertag wünscht Dir
Irmi
Lieber Dieter,
AntwortenLöschenim Sinne von "Er sucht sein eigenes Glück, indem er die einen Dinge ignoriert und die anderen Dinge, die es ihm Wert sind, teilt" und „Leben und leben lassen“ bin ich gewiss eine Agnostikerin. Von Fanatismus jedenfalls halte ich nirgendwo etwas - weder im Bereich von Religion noch Politik noch Fußball... das führt immer nur zu Schmerz und Leid - und hat selten oder nie etwas mit wirklichem Glauben oder wirklicher Überzeugung zu tun, sondern zumeist nur mit Aggression, die sich IRGENDEIN Ventil sucht.
Alles Liebe, Traude