Seine Stippvisite an den Rhein war kurz, dauerte
gerade ein Jahr und war voller Neugierde, Wechselbäder und Abstürzen, so wie sein restliches Leben.
Als Sohn eines Pfarrers war Friedrich Nietzsche in
Naumburg in Sachsen aufgewachsen, sein Vater starb, als er vier Jahre alt war.
Nachdem er 1864 das Abiturexamen im Internat in Schulpforta abgelegt hatte,
wurde ihm die Welt in der sächsischen Provinz zu eng. Seine Lehrer machten ihm
ein Studium in Bonn schmackhaft.
Nachdem das Rheinland 1815 der preußischen
Rheinprovinz zugeschlagen wurde, verlagerten die Preußen die Kölner Universität
zu Rheinischen Wilhelms-Universität nach Bonn. Der Aufbau der Bonner
Universität wurde zum Politikum, denn die Preußen förderten Lehre und Forschung
finanziell. Sie beriefen namhafte Professoren nach Bonn, um das Rheinland
fester an Preußen zu binden, denn die Unterschiede zwischen Mentalitäten und
Weltbildern waren gewaltig. So hatte Bonn in dem Fach „klassische Philologie“,
das Nietzsche studieren wollte, einen hervorragenden Ruf.
Diese Argumente überzeugten. Nietzsche wollte auch
an der rheinischen Lebensart teilhaben, an Frohsinn und Geselligkeit, heraus
aus der Herrschaft von Gottes Wort und
den Glauben an den preußischen König in Naumburg, hinein in die Weinstuben
entlang des Rheins, wo man in den Tag hinein leben konnte und die
Lebensqualität mit der Romantik des breiten Stroms stieg.
In der Bonngasse 518, unweit vom Beethovenhaus, fand
er eine Studentenbude. Die Briefwechsel mit seinem Elternhaus waren rege. „Ich glaube, sehr zufrieden sein zu können", schrieb
er an seine Mutter, „monatlich 5 Thai. Miete. Sehr schönes Haus. Es ist mir
sehr lieb, bei meinen Wirtsleuten essen zu können für fünf Silberlinge sehr
gute Hausmannskost, Suppe, Gemüse und Fleisch."
Am 16. Oktober 1864 begann sein Studium.
Neben „Klassische Philologie“ belegte er Vorlesungen in „Theologie“, um dem
Vorbild seines Vaters zu folgen. Doch vorläufig stand weniger der
Vorlesungsplan auf der Agenda, sondern das Kennenlernen der Annehmlichkeiten
des Rheinlandes durch Ausflüge, Dampferfahrten auf dem Rhein, sowie Kneipen mit
entsprechender Bierseligkeit. Gegenüber seiner Mutter geriet er ins Schwärmen: „Unsere
Rheinreise war kostbar, nimm das Wort, wie Du willst, es trifft immer. Ich habe
diese Tage schon wieder Sehnsucht empfunden nach diesem grünwogigen
prachtvollen Strom."
Mit diesem Hintergrund trat er in die
Burschenschaft „Frankonia“ ein, um gemeinsam mit anderen Studenten rheinischen
Frohsinn zu pflegen und Einigkeit und Recht und Freiheit eines deutschen
Vaterlandes herauf zu beschwören. Das Fechten war ein Ritual, das zu festen
Zeiten geübt werden musste. Ein Fechtduell, das Nietzsche in Freundschaft
begann, hinterließ bleibende Spuren: als er einen Gegner dominierte und ihn zum
Abbruch zwang, fuhr dieser ihm im Zorn mit dem Degen quer über die Nase, das
Blut quoll in Strömen und hinterließ eine bleibende Narbe.
Tief beeindruckt war er vom
Rolandsbogen, der Ziel eines Ausflugs mit seiner Burschenschaft war. Als sie mit
dem Schiff in Rolandseck ankamen, wurden sie mit Böllerschüssen begrüßt. Sie
wanderten aufwärts zum Rolandsbogen, das Abendessen dauerte bis sechs Uhr.
Danach ging es lustig und hoch her. Nietzsche schrieb über diesen Ausflug an
seine Mutter: „Wir waren ausnehmend vergnügt und sangen viele selbstverfasste
unsinnreiche Lieder. Draußen war es Dämmerung geworden, der Mondschein lag auf
dem Rhein und beleuchtete die Gipfel des Siebengebirges, die aus dem bläulichen
Nebel hervortraten. Wir blieben bei einem edlen Rheinwein, während die anderen
Champagnerbowle tranken. Die Gegend ist dort wirklich drei Ausrufezeichen
werth."
Nietzsche genoß seine Ungebundenheit in
vollen Zügen. Das Rheinland formte er als das absolute Gegenteil zu der
kleinstädtischen Ereignislosigkeit in Naumburg. Er entwickelte einen Drang zur
Musik, besuchte Hebbels „Nibelungen“ im Bonner Schauspielhaus, einen
Klavierabend mit Clara Schumann, in Köln Beethovens „Fidelio“ und Meyerbeers
„Hugenotten“. 1865 besuchte er das Niederrheinische Musikfest mit einer
Aufführung von Händels „Israel in Ägypten“ im Kölner Gürzenich.
In Köln geriet er sogar vollends auf
Abwege, als ihm ein Einheimischer ein Etablissement für Nachtschwärmer vorführen
wollte. Dort sah er sich plötzlich umgeben von einem halben Dutzend weiblicher
Erscheinungen in Flitter und Gaze, in halbnackten Posen, so berichtete ein
Mitstudent. Er war so irritiert, dass er erstarrte und es ihm seine Sprache verschlug, dass er in einem Bordell gelandet war. Dann ging er instinktmäßig auf ein Klavier los als das einzige seelenhafte
Wesen in dieser dekadenten Gesellschaft. Er schlug einige Akkorde an, die seine
Erstarrung lösten und ihn fluchtartig ins Freie beförderten.
Derweil wuchsen in besorgniserregendem
Umfang seine Unkosten. Regelmäßig beschrieb er seiner Mutter seine desolate
finanzielle Situation. Sie schickte ihm Geld über einen monatlichen Wechsel,
und wenn dieser ankam, ließen offene Schulden davon kaum etwas übrig.
Ab dem Sommersemester 1865 veränderte
sich seine Einstellung. Er blickte zurück und stellte fest, dass er jede Menge Zeit vergeudet hatte. Einen Studienfortschritt
konnte er kaum feststellen. In „Klassische Philologie“ hatte er wenige, in
Theologie keine Vorlesungen besucht. Die Schuld gab er seinen Mitstudenten in
der Burschenschaft, die ihn mit ihren „rohen Trinksitten“, ihrem
„Biermaterialismus“ und ihrer schlechten Urteilsfähigkeit vom Studium
abgehalten haben. Er wendete sich vom Rheinland ab.
Er trat aus der Burschenschaft aus,
wobei die Art und Weise, wie er austrat, sich wie ein roter Faden durch seine
philosophischen Schriften zog. Er brach mit den Konventionen. Er wollte alles
Gewesene niederreißen, er stellte alle Grundsätze in Frage, in seinen neuen
Denkansätze verwarf er Denkmäler wie Platon, Aristoteles oder Kant, deren
Denken Jahrtausende lang überall als richtungsweisend gegolten hatte.
Er reichte sein Gesuch ein und erörterte
mit der Burschenschaft seine Gründe für den Austritt. Diese war nicht gerade
begeistert darüber, in welchem Umfang er diese schlecht geredet hatte, und wie
seine Sichtweisen innerhalb der Studentenschaft Beine bekommen hatten. Die
Burschenschaft war außer sich, sie raffte sich aber zusammen und verlieh ihm
eine ehrenvolle Entlassung mit Band, um die Form zu wahren.
Der Bruch mit den Konventionen folgte,
als er sich bereits zum folgenden Wintersemester in der Universität in Leipzig
eingeschrieben hatte. Dass die Bonner Ära zu Ende gegangen war, hing mit seinem
zunehmenden Schuldenberg zusammen, und damit, dass gleichzeitig sein Professor
in „Klassische Philologie“ nach Leipzig wechselte. Dieser sollte später die
Karriere Nietzsches befördern. Aus Leipzig schickte er nun das Band, mit dem er
ehrenvoll aus der Burschenschaft entlassen worden war, nach Bonn zurück und bat
sozusagen um einen Austritt aus dem Austritt. Die gemeinsamen Erlebnisse, die
gemeinsame Vergangenheit mit der Burschenschaft wollte er auslöschen, er wollte
nichts mehr damit zu tun haben.
Nietzsches Karriere nahm seinen Lauf,
als er 1870 eine Professur an der Universität Basel annahm. Er verschlang die
Schriften Darwins, der mit seinem Beweis, dass der Mensch vom Affen abstammt,
das religiöse Weltbild in neuen Dimensionen in Frage stellte. Gott als
persönlicher Urheber und Lenker war tot. Das nüchterne Menschenbild aus Zahlen,
Daten, Fakten gewann an Konturen. Der Mensch wurde zu einem Tier mit einem
leistungsfähigen Prozessor im Gehirn degradiert.
Fortan arbeitete er an den Fragen, was die
nüchterne naturwissenschaftliche Sicht für das Selbstverständnis des Menschen
bedeutete, auf welche Art und Weise die naturwissenschaftliche Sicht einen
Mehrwert liefern konnte, wie der Mensch sich in diesem Umfeld neu positionieren
konnte. Die einleitenden Sätze in seiner Schrift „Zur Genealogie der Moral“
zeigen die ständig fortlaufende Suche des Menschen auf: „Wir sind uns
unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst. Das hat seinen guten Grund.
Wir haben nie nach uns gesucht – wie sollte es geschehen, dass wir uns eines
Tages fänden ?“ Seine Analysen sind stets brilliant und liefern neue, frische
Denkweisen.
Rückblickend, erinnerte sich Nietzsche als
Professor in Basel gerne an seine Studienzeit im Rheinland zurück. 1872
beschrieb er in einer Vorlesung seinen Studenten den Ausflug auf den Rolandsbogen
. Er erzählte: „Es war eine jener vollkommenen Tage, wie sie, in unserem Klima
wenigstens, nur eben diese Spätsommerzeit zu erzeugen vermag: Himmel und Erde
im Einklang ruhig nebeneinander hinströmend, wunderbar aus Sonnenwärme,
Herbstfrische und blauer Unendlichkeit gemischt. Wir bestiegen, in buntesten,
phantastischen Aufzuge, an dem sich der Trübsinnigkeit aller sonstigen
Trachten, allein noch der Student ergötzen darf, ein Dampfschiff, das zu
unseren Ehren festlich bewimpelt war, und pflanzten unsere Verbindungsfarben
auf seinem Verdeck auf. Von beiden Ufern des Rheins ertönte ein Signalschuß,
durch den nach unserer Anordnung ebenso die Rheinanwohner als vor allem unser
Wirt in Rolandseck über unser Herankommen benachrichtigt wurde. Ich erzähle nun
nichts von dem lärmenden Einzug, vom Landungsplatze aus, durch den aufgeregt-neugierigen
Ort hindurch, ebenso wenig von den nicht für jedermann verständlichen Freuden
und Scherzen, die wir uns untereinander gestatteten.“
Viel zu jung, begann der Absturz von
Nietzsche. Seine Schaffensperiode war kurz, denn bereits im Alter von 35 Jahren
plagten ihn Migräne und Magenbeschwerden, so dass er seine Lehrtätigkeit in
Basel aufgeben musste. 44 Jahre alt, brach er so sehr zusammen, dass man das
Krankheitsbild heute als Schlaganfall bezeichnen würde. Im Alter von 55 Jahren
starb Nietzsche.
Sehr, sehr interessant, lieber Dieter!
AntwortenLöschenDanke für deine wieder einmal gute Recherche und diesen Post!!!
Ein schönes Wochenende und liebe Grüße! Martina
Lieber Dieter, als Fan von Nietzsche war es interessant,
AntwortenLöschensein Leben in Kurzfassung zu lesen. Gut recherchiert.
Einen guten Start ins Wochenende wünscht dir
Irmi
Lieber Dieter,
AntwortenLöschenmir kommt vor, Herr N. hätte einst durchaus ein Talent zum Genießen und Freude-empfinden gehabt. Irgendwo unterwegs scheint es ihm abhanden gekommen zu sein...
Ganz herzliche Grüße vom rostigen Röslein
Alles Liebe & happy Weekend, Traude
✿ܓܓ✿ܓ✿ܓ✿ ♥♥♥♥ ܓܓ✿ܓ✿ܓ
Lieber Dieter,
AntwortenLöschenmir kommt vor, Herr N. hätte einst durchaus ein Talent zum Genießen und Freude-empfinden gehabt. Irgendwo unterwegs scheint es ihm abhanden gekommen zu sein...
Ganz herzliche Grüße vom rostigen Röslein
Alles Liebe & happy Weekend, Traude
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