Donnerstag, 22. Mai 2014

Nietzsche im Rheinland

Seine Stippvisite an den Rhein war kurz, dauerte gerade ein Jahr und war voller Neugierde, Wechselbäder und Abstürzen,  so wie sein restliches Leben.

Als Sohn eines Pfarrers war Friedrich Nietzsche in Naumburg in Sachsen aufgewachsen, sein Vater starb, als er vier Jahre alt war. Nachdem er 1864 das Abiturexamen im Internat in Schulpforta abgelegt hatte, wurde ihm die Welt in der sächsischen Provinz zu eng. Seine Lehrer machten ihm ein Studium in Bonn schmackhaft.

Nachdem das Rheinland 1815 der preußischen Rheinprovinz zugeschlagen wurde, verlagerten die Preußen die Kölner Universität zu Rheinischen Wilhelms-Universität nach Bonn. Der Aufbau der Bonner Universität wurde zum Politikum, denn die Preußen förderten Lehre und Forschung finanziell. Sie beriefen namhafte Professoren nach Bonn, um das Rheinland fester an Preußen zu binden, denn die Unterschiede zwischen Mentalitäten und Weltbildern waren gewaltig. So hatte Bonn in dem Fach „klassische Philologie“, das Nietzsche studieren wollte, einen hervorragenden Ruf.

Diese Argumente überzeugten. Nietzsche wollte auch an der rheinischen Lebensart teilhaben, an Frohsinn und Geselligkeit, heraus aus der Herrschaft von Gottes Wort  und den Glauben an den preußischen König in Naumburg, hinein in die Weinstuben entlang des Rheins, wo man in den Tag hinein leben konnte und die Lebensqualität mit der Romantik des breiten Stroms stieg.

In der Bonngasse 518, unweit vom Beethovenhaus, fand er eine Studentenbude. Die Briefwechsel mit seinem Elternhaus waren rege. „Ich glaube, sehr zufrieden sein zu können", schrieb er an seine Mutter, „monatlich 5 Thai. Miete. Sehr schönes Haus. Es ist mir sehr lieb, bei meinen Wirtsleuten essen zu können für fünf Silberlinge sehr gute Hausmannskost, Suppe, Gemüse und Fleisch."

Am 16. Oktober 1864 begann sein Studium. Neben „Klassische Philologie“ belegte er Vorlesungen in „Theologie“, um dem Vorbild seines Vaters zu folgen. Doch vorläufig stand weniger der Vorlesungsplan auf der Agenda, sondern das Kennenlernen der Annehmlichkeiten des Rheinlandes durch Ausflüge, Dampferfahrten auf dem Rhein, sowie Kneipen mit entsprechender Bierseligkeit. Gegenüber seiner Mutter geriet er ins Schwärmen: „Unsere Rheinreise war kostbar, nimm das Wort, wie Du willst, es trifft immer. Ich habe diese Tage schon wieder Sehnsucht empfunden nach diesem grünwogigen prachtvollen Strom."

Mit diesem Hintergrund trat er in die Burschenschaft „Frankonia“ ein, um gemeinsam mit anderen Studenten rheinischen Frohsinn zu pflegen und Einigkeit und Recht und Freiheit eines deutschen Vaterlandes herauf zu beschwören. Das Fechten war ein Ritual, das zu festen Zeiten geübt werden musste. Ein Fechtduell, das Nietzsche in Freundschaft begann, hinterließ bleibende Spuren: als er einen Gegner dominierte und ihn zum Abbruch zwang, fuhr dieser ihm im Zorn mit dem Degen quer über die Nase, das Blut quoll in Strömen und hinterließ eine bleibende Narbe.

Tief beeindruckt war er vom Rolandsbogen, der Ziel eines Ausflugs mit seiner Burschenschaft war. Als sie mit dem Schiff in Rolandseck ankamen, wurden sie mit Böllerschüssen begrüßt. Sie wanderten aufwärts zum Rolandsbogen, das Abendessen dauerte bis sechs Uhr. Danach ging es lustig und hoch her. Nietzsche schrieb über diesen Ausflug an seine Mutter: „Wir waren ausnehmend vergnügt und sangen viele selbstverfasste unsinnreiche Lieder. Draußen war es Dämmerung geworden, der Mondschein lag auf dem Rhein und beleuchtete die Gipfel des Siebengebirges, die aus dem bläulichen Nebel hervortraten. Wir blieben bei einem edlen Rheinwein, während die anderen Champagnerbowle tranken. Die Gegend ist dort wirklich drei Ausrufezeichen werth."

Nietzsche genoß seine Ungebundenheit in vollen Zügen. Das Rheinland formte er als das absolute Gegenteil zu der kleinstädtischen Ereignislosigkeit in Naumburg. Er entwickelte einen Drang zur Musik, besuchte Hebbels „Nibelungen“ im Bonner Schauspielhaus, einen Klavierabend mit Clara Schumann, in Köln Beethovens „Fidelio“ und Meyerbeers „Hugenotten“. 1865 besuchte er das Niederrheinische Musikfest mit einer Aufführung von Händels „Israel in Ägypten“ im Kölner Gürzenich.

In Köln geriet er sogar vollends auf Abwege, als ihm ein Einheimischer ein Etablissement für Nachtschwärmer vorführen wollte. Dort sah er sich plötzlich umgeben von einem halben Dutzend weiblicher Erscheinungen in Flitter und Gaze, in halbnackten Posen, so berichtete ein Mitstudent. Er war so irritiert, dass er erstarrte und es ihm seine Sprache verschlug, dass er in einem Bordell gelandet war. Dann ging er instinktmäßig auf ein Klavier los als das einzige seelenhafte Wesen in dieser dekadenten Gesellschaft. Er schlug einige Akkorde an, die seine Erstarrung lösten und ihn fluchtartig ins Freie beförderten.

Derweil wuchsen in besorgniserregendem Umfang seine Unkosten. Regelmäßig beschrieb er seiner Mutter seine desolate finanzielle Situation. Sie schickte ihm Geld über einen monatlichen Wechsel, und wenn dieser ankam, ließen offene Schulden davon kaum etwas übrig.

Ab dem Sommersemester 1865 veränderte sich seine Einstellung. Er blickte zurück und stellte fest, dass er jede Menge  Zeit vergeudet hatte. Einen Studienfortschritt konnte er kaum feststellen. In „Klassische Philologie“ hatte er wenige, in Theologie keine Vorlesungen besucht. Die Schuld gab er seinen Mitstudenten in der Burschenschaft, die ihn mit ihren „rohen Trinksitten“, ihrem „Biermaterialismus“ und ihrer schlechten Urteilsfähigkeit vom Studium abgehalten haben. Er wendete sich vom Rheinland ab.

Er trat aus der Burschenschaft aus, wobei die Art und Weise, wie er austrat, sich wie ein roter Faden durch seine philosophischen Schriften zog. Er brach mit den Konventionen. Er wollte alles Gewesene niederreißen, er stellte alle Grundsätze in Frage, in seinen neuen Denkansätze verwarf er Denkmäler wie Platon, Aristoteles oder Kant, deren Denken Jahrtausende lang überall als richtungsweisend gegolten hatte.
Er reichte sein Gesuch ein und erörterte mit der Burschenschaft seine Gründe für den Austritt. Diese war nicht gerade begeistert darüber, in welchem Umfang er diese schlecht geredet hatte, und wie seine Sichtweisen innerhalb der Studentenschaft Beine bekommen hatten. Die Burschenschaft war außer sich, sie raffte sich aber zusammen und verlieh ihm eine ehrenvolle Entlassung mit Band, um die Form zu wahren.

Der Bruch mit den Konventionen folgte, als er sich bereits zum folgenden Wintersemester in der Universität in Leipzig eingeschrieben hatte. Dass die Bonner Ära zu Ende gegangen war, hing mit seinem zunehmenden Schuldenberg zusammen, und damit, dass gleichzeitig sein Professor in „Klassische Philologie“ nach Leipzig wechselte. Dieser sollte später die Karriere Nietzsches befördern. Aus Leipzig schickte er nun das Band, mit dem er ehrenvoll aus der Burschenschaft entlassen worden war, nach Bonn zurück und bat sozusagen um einen Austritt aus dem Austritt. Die gemeinsamen Erlebnisse, die gemeinsame Vergangenheit mit der Burschenschaft wollte er auslöschen, er wollte nichts mehr damit zu tun haben.

Nietzsches Karriere nahm seinen Lauf, als er 1870 eine Professur an der Universität Basel annahm. Er verschlang die Schriften Darwins, der mit seinem Beweis, dass der Mensch vom Affen abstammt, das religiöse Weltbild in neuen Dimensionen in Frage stellte. Gott als persönlicher Urheber und Lenker war tot. Das nüchterne Menschenbild aus Zahlen, Daten, Fakten gewann an Konturen. Der Mensch wurde zu einem Tier mit einem leistungsfähigen Prozessor im Gehirn degradiert.

Fortan arbeitete er an den Fragen, was die nüchterne naturwissenschaftliche Sicht für das Selbstverständnis des Menschen bedeutete, auf welche Art und Weise die naturwissenschaftliche Sicht einen Mehrwert liefern konnte, wie der Mensch sich in diesem Umfeld neu positionieren konnte. Die einleitenden Sätze in seiner Schrift „Zur Genealogie der Moral“ zeigen die ständig fortlaufende Suche des Menschen auf: „Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst. Das hat seinen guten Grund. Wir haben nie nach uns gesucht – wie sollte es geschehen, dass wir uns eines Tages fänden ?“ Seine Analysen sind stets brilliant und liefern neue, frische Denkweisen.

Rückblickend, erinnerte sich Nietzsche als Professor in Basel gerne an seine Studienzeit im Rheinland zurück. 1872 beschrieb er in einer Vorlesung seinen Studenten den Ausflug auf den Rolandsbogen . Er erzählte: „Es war eine jener vollkommenen Tage, wie sie, in unserem Klima wenigstens, nur eben diese Spätsommerzeit zu erzeugen vermag: Himmel und Erde im Einklang ruhig nebeneinander hinströmend, wunderbar aus Sonnenwärme, Herbstfrische und blauer Unendlichkeit gemischt. Wir bestiegen, in buntesten, phantastischen Aufzuge, an dem sich der Trübsinnigkeit aller sonstigen Trachten, allein noch der Student ergötzen darf, ein Dampfschiff, das zu unseren Ehren festlich bewimpelt war, und pflanzten unsere Verbindungsfarben auf seinem Verdeck auf. Von beiden Ufern des Rheins ertönte ein Signalschuß, durch den nach unserer Anordnung ebenso die Rheinanwohner als vor allem unser Wirt in Rolandseck über unser Herankommen benachrichtigt wurde. Ich erzähle nun nichts von dem lärmenden Einzug, vom Landungsplatze aus, durch den aufgeregt-neugierigen Ort hindurch, ebenso wenig von den nicht für jedermann verständlichen Freuden und Scherzen, die wir uns untereinander gestatteten.“

Viel zu jung, begann der Absturz von Nietzsche. Seine Schaffensperiode war kurz, denn bereits im Alter von 35 Jahren plagten ihn Migräne und Magenbeschwerden, so dass er seine Lehrtätigkeit in Basel aufgeben musste. 44 Jahre alt, brach er so sehr zusammen, dass man das Krankheitsbild heute als Schlaganfall bezeichnen würde. Im Alter von 55 Jahren starb Nietzsche.

4 Kommentare:

  1. Sehr, sehr interessant, lieber Dieter!
    Danke für deine wieder einmal gute Recherche und diesen Post!!!
    Ein schönes Wochenende und liebe Grüße! Martina

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  2. Lieber Dieter, als Fan von Nietzsche war es interessant,
    sein Leben in Kurzfassung zu lesen. Gut recherchiert.
    Einen guten Start ins Wochenende wünscht dir
    Irmi

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  3. Lieber Dieter,
    mir kommt vor, Herr N. hätte einst durchaus ein Talent zum Genießen und Freude-empfinden gehabt. Irgendwo unterwegs scheint es ihm abhanden gekommen zu sein...
    Ganz herzliche Grüße vom rostigen Röslein
    Alles Liebe & happy Weekend, Traude
    ✿ܓܓ✿ܓ✿ܓ✿ ♥♥♥♥ ܓܓ✿ܓ✿ܓ

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  4. Lieber Dieter,
    mir kommt vor, Herr N. hätte einst durchaus ein Talent zum Genießen und Freude-empfinden gehabt. Irgendwo unterwegs scheint es ihm abhanden gekommen zu sein...
    Ganz herzliche Grüße vom rostigen Röslein
    Alles Liebe & happy Weekend, Traude
    ✿ܓܓ✿ܓ✿ܓ✿ ♥♥♥♥ ܓܓ✿ܓ✿ܓ

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