Donnerstag, 20. März 2014

Selfkant 1949

Parallelen zur Krim gibt es nicht. Aber die Ereignisse auf der Krim haben mir den Anstoß gegeben, dass  wir so etwas auch im Rheinland hatten: eine Annexion deutscher Gebiete, sogar noch viel undemokratischer, ohne dass die betroffenen Einwohner das Recht hatten, auf einem Zettel ein Kreuzchen zu machen, zu welchem Staat sie denn gehören wollten.

Vorangekündigt und von den Alliierten gebilligt, marschierte die „Koninglijke Maréchaussée“, das war die Niederländische Militärpolizei, ein. Das mussten höchst merkwürdige Szenen gewesen sein, wie Jeeps in die Straßen eindrangen, wie die Militärpolizei mit Gewehren patrouillierte, wie sie deutsches Staatsgebiet besetzte und wie die eingeschüchterte Bevölkerung zum Schweigen verdammt war. Unglaubliches spielte sich im Rheinland ab, am 29. April 1949. Militärische Gewalt des Nachbarstaates setzte sich in der Gemeinde Selfkant durch, das sind zehn Dörfer in der äußersten westlichen Ecke unserer Republik, rund dreißig Kilometer nördlich von Aachen.

Formal und in der Sache hatte dies sogar seine Ordnung. Wie in so vielen anderen Staaten, hatten die Nationalsozialisten die Niederlande mit den Schrecken des Zweiten Weltkrieges überzogen. Sie hatten nicht nur Städte wie Rotterdam bombardiert und dem Erdboden gleich gemacht, sondern sogar in s’Hertogenbosch ein eigenes Konzentrationslager gebaut, um den Völkermord an den Juden zu perfektionieren.

Die Niederlande wollten Wiedergutmachung und sich auf Augenhöhe mit den übrigen Siegermächten bewegen. Frankreich erhielt Elsaß und Lothringen zurück, zusätzlich sogar das Saarland. Daraufhin formulierten die Niederlande ihre eigenen Entschädigungsansprüche: die Städte Osnabrück und Oldenburg sollten eine Niederländische Exklave in deutschem Staatsterritorium werden. Doch den Alliierten war dies eine Nummer zu groß. Sie strichen die Niederländischen Ansprüche zusammen. Klein- und Kleinstgebiete blieben übrig, damit es nicht den Anschein haben könnte, sie hätten diese Ansprüche ignoriert. Auf dem grünen Tisch, mit geschärftem Blick auf die Landkarte, zwackten sie den „Katzenkopf“ ab. So nannten die Selfkanter selbst den Zipfel ihres Gemeindegebietes, welches in die Niederländische Landkarte hinein ragte. Außer dem Selfkant war es noch Elten nördlich von Emmerich und Suderwick im Kreis Borken. Die 69 Quadratkilometer deutsches Staatsgebiet, die wegfielen, konnten somit vernachlässigt werden.

So marschierte am 29. April 1949 die „Koninglijke Maréchaussée“ in den Selfkant ein. Tüddern, das war der Standort der deutschen Gemeindeverwaltung, wurde zum „Drostambt“ umgeschwenkt, das war die Niederländische Mandatsverwaltung. Dort wurde die Niederländische Flagge gehisst und in den Empfangsräumen ein Porträt der Niederländischen Königin aufgehängt. Die Selfkanter argwohnten schlimmes, denn bald durften sie die Mandatsverwaltung aufsuchen: ihre Pässe mussten sie ergänzen lassen, denn ihre deutsche Staatsangehörigkeit wurde mit blumigen Worten umschrieben: „wordt behandeld als Nederlander“. Die Zollkontrollen mit dem Schlagbaum wurden rund sechs Kilometer nach Osten verlegt. Das war noch weit in der Zeitrechnung vor dem Schengener Abkommen. „Strippen“, so nannten die Deutschen jenseits der Grenze in Gangelt, Waldfeucht, Geilenkirchen oder Heinsberg die Grenzkontrollen. Der Niederländische Zoll hatte einen eigenen Raum für Leibeskontrollen. Bei der Einreise nach Deutschland wurde der Körper abgetastet, ob nicht ein paar Schachteln Zigaretten oder ein Paket Kaffee eingekauft worden war.

D-Mark und Pfennig waren Vergangenheit. Anstatt dessen mussten die Selfkanter mit Gulden und Cent bezahlen. Nordrhein-Westfalen war genauso Vergangenheit. „Welkom in de Provincie Limburg“ begrüßten einen Schilder mit dem Landeswappen des Löwen des alten Herzogtums Limburg, wenn Deutsche hinter dem Schlagbaum in den Selfkant fuhren. Lehrer aus der Provinz Limburg wechselten umgekehrt in den Selfkant, um neben der deutschen die Niederländische Sprache in den Schulen zu unterrichten.

Die Selfkanter nahmen dies gelassen hin. Auf der Ebene des Dialektes verstand man sich ohnehin, denn Selfkanter Platt und Limburger Dialekt in Sittard oder Brunssum gehen fließend ineinander über. Die Selfkanter standen sich sogar besser, was Instandsetzungen der Infrastruktur betraf. Die Kriegszerstörungen waren in den Niederlanden eher gering, so dass Gelder zur Instandsetzung von Straßen und öffentlichen Gebäuden rasch flossen. Die Niederländer beherzigten die humanistischen Ideale des Erasmus von Rotterdam. Sie waren tolerant, respektierten die deutsche Bevölkerung, und Deutsche und Niederländer hatten im Selfkant nie Probleme damit, miteinander umzugehen.

Überraschendes tat sich dann am 1. August 1963. Die Niederlande und Deutschland hatten sich darauf geeinigt, dass der Selfkant (genauso wie Elten und Suderwick) gegen eine Zahlung von 280 Millionen D-Mark nach Deutschland zurückkehrten.

Das war weniger überraschend für Deutsche und Niederländer, denn diese verstanden sich im „Katzenkopf“ sowieso bestens, sondern für den Zoll. Häuser, Scheunen, Säle, Lager, kurzum, alles, was Platz hatte, wurde mit Waren vollgestopft. Ganze Kaffeeplantagen, Teeplantagen und Tabakplantagen, dazu Schnaps, wurden dorthin geschafft. Händler deckten sich mit der Ware ein, die in den Niederlanden weitaus niedriger besteuert wurde. Ganze LKW-Züge warteten mit Eiern oder Gurken, bis die Grenze fiel. Der Schmuggel war perfekt, als vom 31. Juli auf den 1. August ganz einfach das Staatsgebiet wechselte. Ohne die Ware bewegen zu müssen, stieg ihr Wert um ein Vielfaches.

Der Schaden wurde damals auf 60 Millionen DM geschätzt. Zum Glück für die Schmuggler, schaffte der Gesetzgeber es nicht, die Abgabenordnung zu ändern. Die Mühlen der Gesetzgebung mahlten langsam. Am 23. Juli 1963 wurde im Bundestag eine Rechtsverordnung zur Nacherhebung von Verbrauchssteuern und Zoll verabschiedet. Vorschriften zu Verbrauchssteuern und Zoll sind aber Ländersache und müssen von diesen umgesetzt werden. Danach drehten sich die Diskussionen zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen und dem Bund im Kreis, ohne dass sie zu einem Ergebnis führten. So lange, bis der 1. August verstrichen war.

6 Kommentare:

  1. Hallo Dieter interssant was du über den Selfkant berichtest. Ab Gangelt sprechen die Menschen ein Platt, was für mich nicht verständlich ist.

    Liebe Grüße
    Angelika

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  2. Eine Geschichte, die mir gänzlich entfallen war.
    Danke für deine Recherchen und das Teilen mit uns.
    Einen schönen Frühlingsanfang wünscht Dir
    Irmi

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  3. Hallo Dieter,
    das ist ein sehr interssanter Bericht über den Selfkant. Danke für deine Infos.
    Auch für deinen cmt.: Wieso kannst du keine Makros machen?
    Einen schönen Frühlingsanfang und ein ☼iges Wochenende wünscht dir - und deiner Familie - Wieczora (◔‿◔) | Mein Fotoblog

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  4. Hallo Dieter,

    interessant, welch geschichtliche Ereignisse du immer wieder ausgräbst.:-)
    Geschmuggelt wurde damals schon und heute immer noch.*g*

    Ich glaube, wir tauschten uns schon mal aus bezüglich Frankweiler und der Winzer. Ich gab dir schon mal den Link zum Winzer, wo wir immer unseren Wein kaufen.:-)
    Frankweiler und all die umliegenden Dörfer sind einfach nur schööööööön.

    Liebe Grüße
    Christa

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  5. Hallo Dieter,
    danke für diese Informationen. Diese Ereignisse kannte ich ehrlich gesagt gar nicht! Aber es ist wohl immer so: die Geschichte wiederholt sich immer wieder.
    LG Calendula

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  6. Momentan wird in Sittard eine deutsch-niederländisch-sprachige Ausstellung zu diesem Thema gezeigt. Unter dem Titel 'Einmal Niederlande und zurück. Deutsche Gebiete unter niederländischer Verwaltung, 1949-1963' konzipierte der niederländische Verein Stichting Cultuur en Grensgeschiedenis eine Wanderausstellung über die Vorgeschichte der Annexion und die 14 Jahre der niederländischen Verwaltung im Selfkant, Elten und Suderwick. Erstmals wurden über 80 originale Dokumente und Ausstellungsstücke zusammen getragen um dieses weitgehend unbekannte Stück der deutsch-niederländischen Nachkriegsgeschichte zu dokumentieren. Ort: Maripark in Sittard, Oude Markt 16, Öffnungszeiten: Di - So 11-17 Uhr, Eintritt frei

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