Hans, unser Führer, hatte keine Ader für Bergarbeiterromantik. Er fühlte mit den Bergarbeitern. Unter welchen Arbeitsbedingungen sie hatten schuften müssen. Welchen Ermüdungszustand sie tagtäglich überfiel. Und wie selbst in jüngerer Zeit – bis zur Stilllegung 1986 – die Gesundheit der Bergarbeiter so angegriffen wurde, dass deren Lebenserwartung nicht zum besten bestellt war.
Etwa 15 Besucher scharten sich zusammen. Unsere Führung begann an der Hochglanzseite der Zeche Zollverein – dem Blick auf die Doppelbock-Fördertürme. An einem verkleinerten Modell erläuterte uns Hans, wie riesig die gesamte Zechenanlage war – das war ungefähr die Ausdehnung einer Kleinstadt. Die Zeche Zollverein hatte ursprünglich aus fünf Einzelzechen bestanden – deren Fördertürme zum Teil bis heute erhalten sind. Anstatt dessen wurde die Kohleförderung neu konzipiert – als Zentralförderanlage. 1930 neu gebaut, galt die Zeche damals mit einer Förderung von 12.000 Tonne Kohle täglich als eine der modernsten in Europa. Hans betrachtete dies weniger als technische Meisterleistung, sondern als Rationalisierungsmaßnahme: 800 von 7.000 Arbeitern wurden durch die zentrale Förderung eingespart. Ende 30, machte Hans den Eindruck, als sei er selbst das Opfer einer Rationalisierungsmaßnahme geworden.
Als Hans uns die Waschkauen in dem Modell zeigte, stieß er uns auf ein weiteres Problem, was mit der Größe des Geländes zu tun hatte: Wegezeiten. Die Waschkauen lagen irgendwo im Zechengelände verstreut, bestimmt drei Kilometer von der eigentlichen Förderanlage entfernt. Und diese Wegestrecke musste lange, lange Zeit zu Fuß bewältigt werden. Wegezeiten sind in der modernen Bürowelt Arbeitszeiten. Diese Wegezeiten, die eine Stunde dauern konnten, waren dann Arbeitszeit. Je nachdem, wie lange die Schicht dauerte, brachte so mancher Kumpel seinen Schlafsack mit und übernachtete gleich am Arbeitsplatz.
Hinein ins Herz der Kohleaufbereitung. In einem Seitengebäude führten Treppenstufen auf Eisenrosten schier endlos in die Höhe, bis knapp unter die Höhe der Fördertürme.
Dort wurden kleine Waggons voller Kohle ausgespuckt. Diese rollten, unter Ausnutzung des Gefälles abwärts. In mehreren Bearbeitungsstufen wurde Kohle von schlechterer Qualität aussortiert. Bei der Führung hatte man Wert auf Anschaulichkeit gelegt. So konnten wir einige Waggons voller Kohle bestaunen, wir konnten hineingreifen und tasten, wie leicht die Kohle war. Dabei lernten wir den Unterschied zwischen Steinkohle und Braunkohle kennen. Braunkohle hat einen höheren Wassergehalt, so dass die CO2-Emissionen bei Braunkohlekraftwerken Spitzenwerte erreichen – sie sind also noch klimaschädlicher als Steinkohlekraftwerke.
Das Herz des Bergarbeiters in der Brust, blühte Hans auf. Schienenwege verzweigten sich, Waggon an Waggon reihte sich aneinander. Was uns Besuchern verrostet und angestaubt vorkomme, sei geradezu sauber, wie geleckt. Damals habe der Kohlestaub die Luft so sehr durchdrungen, dass man quasi sein Hand kaum noch vor den Augen sehen konnte. Hans wurde zynisch, als er meinte, eine Staublunge würde sich erst relativ spät entwickeln. Einiges später als 18 Monate. Gehörschäden oder Taubheit stelle sich nach 18 Monaten ein. Dazu spielte er uns den Lärmpegel von Förderbändern, Hebeanlagen, Maschinen, Kompressoren, Druckluftaggregaten vor. 80 Dezibel hämmerten ins Ohr – das war so viel wie auf einer Autobahn.
Hans führte uns auf verschlungenen Pfaden. Verwinkelt, ging es unter Rohrysteme hindurch, deren Durchmesser so dick und schwer war wie ein Sumo-Ringer. Wir bewegten uns auf tonnenschweren Eisendecken, die zwischen rostbraunen Ziegelsteinmauern endeten. Querelemente spannten eine Hallenkonstruktion aus Stahl auf, zwischen der Förderbänder noch ein Stockwerk höher führten. Unter der Decke hing ein Gewirr aus Stromkabeln, fest zusammengebunden, bis die Leitungen unsichtbar unter der Bodenplatte verschwanden. Wir schauten hinauf auf Gitterroste mit Geländern, die sich in luftiger Höhe zwischen Kesseln erhoben. In einer Ecke stapelten sich Eisenträger auf Waggons. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Fülle der technischen Anlagen nahm kein Ende.
Anschaulich ging es weiter. Nun waren Werkzeuge an der Reihe. Als Hans den Presslufthammer in die Hand nahm, griff er fest zu. Seine Nickelbrille rutschte die Nase herunter. Sein weißes T-Shirt mit der Aufschrift „Hard Rock“ knitterte sich zwischen seinem super-schlanken Bauch zusammen. Anschließend durften wir das Gerät in die Hand nehmen, womit die Kohle unter Tage abgebaut wurde. Mit dem Presslufthammer geschah dies bis in die 50er Jahre. Danach wurden die Abbauverfahren unter Tage automatisiert.
Als ich den Presslufthammer in die Hände nahm, kam mir das Gewicht unglaublich vor. Der war etwa so schwer wie ein Sack Kartoffeln. So etwas den ganzen Tag in den Händen zu halten, lag außerhalb meines Vorstellungsvermögens. Hans erzählte, dass die Bewegungsabläufe beim Abteufen noch differenzierter zu sehen waren. Es wurde den ganzen Tag gehämmert. Hände und der Bewegungsapparat schlugen den ganzen Tag hin und her, das Vibrieren übertrug sich auf den ganzen Körper. Wenn die Schicht vorbei war, hatten die Bergleute Probleme, das Zittern wieder loszuwerden. Dieses Zittern wurde dann zum Begleiter des restlichen Abends. Kritisch war dies beim Abendessen, wenn Hände zitterten. Der Körper konnte dann das Essen mit Gabel oder Löffel nicht mehr koordinieren.
Die Tage des Presslufthammers waren gezählt, als die Kohle unter Tage mit Fräsen abgebaut wurde. Dies geschah vollautomatisch, wobei aber der Anteil der nicht verwertbaren Kohle stieg. Während der Bergmann im Flöz die Qualitäten der Kohle erkennen konnte, wurde nun alles abgebaut. Dadurch musste ein weiterer Sortiervorgang hinzugefügt werden. Nachdem in einer maschinellen Grobsortierung die bessere Kohle herausgelesen wurde, musste in der Lesehalle aus der besonders staubigen, feinkörnigen Kohle der letzte Rest der besseren Kohle herausgesucht werden – sozusagen als hartnäckige Detektivarbeit. Einem Arbeiter kam die Lesehalle einer Strafkolonie gleich. Nur besonders dumme oder ungeschickte Arbeiter wurden in die Lesehalle versetzt. Oder Arbeiter, die auf einem anderen Arbeitsplatz irgendeinen Bock geschossen hatten. Heutzutage wären solche Arbeitsplätze eine Domäne von Leiharbeitern aus aller Welt, denn das Lohnniveau lag dort nur bei ca. 40% im Vergleich zu anderen Arbeitsplätzen. Von der Lesehalle war mittlerweile nichts mehr zu sehen, denn die Anlagen waren abgerissen worden. Die Räumlichkeiten waren nun zu Veranstaltungsräumen umgebaut worden.
Kurz bevor wir die Innenräume der Zeche verließen, blickten wir auf einen festen Punkt, der Bestandteil jeder Zeche war: die Heilige Barbara. Als Heilige aus dem 3. Jahrhundert und als Schutzpatronin gegen plötzlichen und unvorhersehbaren Tod thronte sie an der Wand. Zwischen erbleichten Ziegelsteinen breitete sie ihre Arme aus. Inmitten des viereckigen Raums, der ungefähr so groß wie eine Kapelle war, kam sogar Besinnlichkeit auf.
Wie bei seinen übrigen Erzählungen, dachte Hans in eine andere Richtung. Er hielt inne, dachte nach unter seinem lichten Haar, in das sich Geheimrats-Ecken hinein gemogelt hatten. Nicht die Heilige Barbara, sondern die Heilige Maria Cron sei der eigentliche Schutzpatron der Bergleute gewesen. Trinkhallen gebe es im Ruhrgebiet an jeder Ecke. Davon in vielfacher Bestückung rund um Zechenanlagen. Sich dort nach der Schicht zu treffen, sei Tradition gewesen. Die kaum zu überbietende Kameradschaft unter Bergleuten habe dort ihren Ursprung gehabt. Und so mancher Bergmann habe gerne einen über den Durst getrunken. Alkoholismus sei ein Grundproblem gewesen, welches man nie in den Griff bekommen habe.
Bei unserem abschließenden Gang auf die Aussichtsplattform auf der Kohlenwäsche erfuhren wir etwas, was wie Herz und Seele im Ruhrgebiet zusammengehört: Bergleute und Fußball. Die Veltins-Arena des FC Schalke 04 lag in Blickweite, ebenso das Fußballstadion von Rot-Weiss Essen. Als Urzelle des Fußballs betrachtete Hans den VfL Bochum. Unter anderem von Bergleuten war der VfL Bochum bereits 1848 gegründet worden – als Turnverein. 1911 fand sich eine eigene Fußballabteilung zusammen. Die Tradition des VfL Bochum reiche somit deutlich länger zurück wie etwa diejenige des FC Schalke 04 oder des BVB Borussia Dortmund.
Die Führung näherte sich dem Ende. Der Blick über die Zeche Zollverein, nach Gelsenkirchen, Oberhausen, Mülheim an der Ruhr und Essen war grandios. Nebenher hatten wir erfahren, dass dies die einzige Zeche im Ruhrgebiet war, die ein Industriedenkmal war und dessen frühere Produktionsanlagen man besichtigen konnte.
Was für ein ereignisreicher Nachmittag !
Schöööööön meine Heimat.Dort in der Nähe haben wir gewohnt bis vor 9 Jahren.Ich bin ein echtes Ruhrpottmädchen ;-)
AntwortenLöschenLG
Nicole
Hallo Dieter.
AntwortenLöschenJa Zollverein ist das einzig erhaltne Prachtstück, was man besichtigen kann.
War mal als Kind in Bochum im Berbaumuseum und hier in Hückelhoven.
Die Führung hast Du schön spannend erzählt, als wäre ich dabei gewesen.
Danke für´s Mitnehmen.
Einen schönen Abend und liebe Grüße
Angelika
Hej Dieter,
AntwortenLöschendas letzte Bergwerk, das ich besuchte, war in Falun in Mittelschweden. Leider hab ich viel davon wieder vergessen, aber das beklemmende Gefühl Untertage nicht. Wer weiß schon von den Anstrengungen und Gefahren, die diesen Beruf begleiten.
Dein Blogbeitrag eröffnet Fakten und Hintergründe auf eindrucksvolle Weise.
Gruß
Beate