Mittwoch, 7. Oktober 2015

neue Website www.rheinland-blogger.net

Hurra ! Nach langem Ausprobieren habe ich es endlich geschafft, meine eigene Website auf die Beine zu stellen. Alle Blog-Einträge werden künftig auf dieser Website erscheinen. Wie gehabt, werde ich dort vielerlei interessante Themen aus dem Rheinland posten, auch manchen Gedankenanstoss, der sich nicht alleine auf das geografische Gebiet des Rheinlandes bezieht. Die Gestaltungsmöglichkeiten halte ich auf der Website für vielfältiger, so dass sich das Layout, dass ich derzeit an meine Blogspot-Seite angelehnt habe, noch verändern wird. Meine Blogspot-Seite werde ich nicht löschen, da alles das, was ich bislang gepostet habe, nicht verloren gehen soll.

Also wünsche ich allen Lesern viel Spaß beim Stöbern auf meiner neuen Website www.rheinland-blogger.net !

Dienstag, 6. Oktober 2015

Brauhäuser in Remagen, Siegburg, Troisdorf

Wenn die Lastkähne tuckern, die Containerschiffe sich vorwärts wälzen und die Fahrgastschiffe der Köln-Düsseldorfer auf die Anlegestelle zusteuern, dann zeichnen sich die Stimmungen bisweilen intensiv wie auf einer Leinwand. Der Felsvorsprung des Erpeler Leys bricht senkrecht ab, läßt den Rhein gewähren, der lässig seine Schleife zieht vorbei an den kargen Stümpfen der Ludendorff-Brücke. In Remagen schmiegt sich das Band des Rheins an die Uferpassage, Möven ziehen ihre Kreise, und über dem gegenüberliegenden Ufer kragt der Kirchturm der Erpeler St. Severinskirche spitz in die bewaldeten Hänge hinein, die sonnenüberflutet leuchten in grünen Farbtönen von Tannen, Buchen und Erlen. Die Nachmittagssonne glitzert, im Wellenspiel zerfließt das Sonnenlicht auf dem Rhein. Herrliches Wetter und gute Laune dominieren, Menschen flanieren auf der Rheinuferpromenade.

Ein Ort, an dem man es gut aushalten kann. Ein Lagevorteil, das stellt der Inhaber des Brauhauses am Caracciola-Platz heraus. Flanieren, verweilen, beobachten, schauen, regenerieren, positive Energie von innen auftanken, genau das suchen hier Einheimische und Ausflügler. Bei diesem Anblick auf den Rhein beflügelt ein hauseigenes Bier Leib und Seele.



Brauhaus Remagen
Hauseigene Brauereien im Rheinland, dieser Trend ist gegenläufig. Während der Bierausstoß der Großbrauereien sinkt, steigt die Anzahl der kleinen Brauereien, die nur für ein winziges Gebiet ihr eigenes Bier brauen, meist für die hauseigene Bewirtschaftung. So lümmele ich mich auf dem Stehtisch vor dem Kneipeneingang herum, die Schaumkrone des Dunkelbiers ist in sich zusammen gesackt,  der kräftige und würzige Geschmack des Gerstensaftes durchdringt meinen Körper und bereinigt das Durstgefühl an diesem warmen Sommertag. Und so nebenher begutachte ich die trägen Bahnen, in denen der Rhein vorbei fließt.

Gebraut wird nicht hier in Remagen, sondern ein ganzes Stück entfernt, nämlich in Lahnstein bei Koblenz. Dort hat sich ein Brauereikomplex angesiedelt, der in Kuppelproduktion das Bier für mehrere Hausbrauereien im Westerwald und im Rheinland braut. Es versteht sich von selbst, dass nach dem Reinheitsgebot von 1516 ausschließlich die Rohstoffe Gerste, Hopfen, Wasser verwendet werden, wobei dieser Grundsatz 1993 durch das vorläufige Biergesetz leicht abgewandelt wurde. Den Brauvorgang mit den verwendeten Rezepturen bestimmt dann jede Hausbrauerei selbst.

Ich bewege mich weg vom Rhein an die Sieg. In Siegburg befindet sich eine der sieben Hausbrauereien im Rhein-Sieg-Kreis, das ist das Brauhaus „Zum roten Löwen“. Franken besitzt übrigens das dichteste Netz von Hausbrauereien, deren Anzahl ungefähr 300 beträgt. Da kann das Rheinland zwar nicht mithalten, insgesamt ist es aber nicht schlecht aufgestellt. Die Anzahl der Hausbrauereien in Köln, das sind rund zwanzig, überrascht mich ein wenig, weil ich eine größere Anzahl vermutet hatte. Das liegt daran, dass die traditionellen Brauhäuser in der Kölner Altstadt wie Früh, Malzmühle oder Sion für größere Märkte Bier herstellen. Die Kölner Hausbrauereien sind indes einige Größenordnungen kleiner, wie etwa die Brauerei Päffgen im Friesenviertel. Andere bekannte Hausbrauereien wie Lommerzheim oder „Em Golde Kappes“ liegen in den Stadtteilen Deutz und Nippes. Auf der Domäne der Altbierherstellung gibt es dann in Düsseldorf eine ähnliche Anzahl von Hausbrauereien.

Eingenistet in einer Seitenstraße der Fußgängerzone, kann man sich im Siegburger Brauhaus über den Gang der Jahreszeiten hinweg trinken. Über den Winter hilft ein Schwarzbier, ab März läutet ein leichtes, spritziges Frühlingsbier den Frühling ein. Der Mai glänzt mit einem Starkbier, dem Maibock; in die Sommerzeit fällt die Saison des Weizenbiers, und es ist dem Doldenhopfen aus dem Siebengebirge zu verdanken, dass das Weihnachtsbier dunkel gereift ist und besonders würzig schmeckt.



Brauhaus Siegburg
Natürlich kann ich auch Biere für alle Jahreszeiten verkosten, davon trinke ich eines mit dem schlichten Namen „Siegburger“. Im Gegensatz zum Remagener Brauhaus, ist die Hausbrauerei in Siegburg nicht ausgelagert worden. So wirkt das Innere des Brauhauses urig, wenn ich auf die Braukessel schaue. Die bronzenen Kessel blinken im Schein der Innenbeleuchtung, Zeiger und Geräte überwachen den Brauvorgang. Die kniehohen Ziegelsteinummauerungen fügen sich harmonisch in die Gaststätte ein.

Hefetrüb, schmeckt das „Siegburger“ süffig, nicht zu herb. In einem langen Schluck läuft es meinen Gaumen herunter. Das andere Hausbier, das sich „Michel“ nennt, ist obergärig gebraut. Dort wird es knifflig, weil dieses nach dem Brauverfahren der Kölsch-Biere gebraut worden ist. 1985 hatten sich die Kölner Brauereien zusammengetan, dass sich nur diejenigen Biere „Kölsch“ nennen dürfen, die im Kölner Stadtgebiet gebraut worden sind. Das besagt die Kölsch-Konvention aus dem Jahr 1985, wonach Kölsch als Marke zu betrachten ist aus einem geografisch geschützten Herkunftsgebiet. Michel ist also dasselbe wie Kölsch, es darf sich aber nicht Kölsch nennen.

Es geht weiter, von der Sieg an die Agger, zum letzten Brauhaus nach Troisdorf. Vor vier Jahren musste das Stadt-Bierhaus einer Super-Baustelle weichen. Stadthalle samt Brauhaus wurden abgerissen, nun macht sich dort ein Einkaufszentrum breit. Das Brauhaus wanderte auf die Ecke des benachbarten Fischerplatzes, die Gaststube verkleinerte sich. Tische, Stühle und Stehtische wenden sich nun zu dem Platz hin, den Künstler in den 1980er Jahren maßgeblich mit ihren Skulpturen und Installationen geprägt haben.

Mit dem Umzug auf den Fischerplatz wurde die Bierherstellung ausgelagert, und zwar nach Münster und nach Siegen. Die Räumlichkeiten reichen nunmehr nicht mehr aus, um die Sudpfannen unterzubringen. Selbst die aus Münster und Siegen angelieferten Fässer stapeln sich im Keller bis unter die Decke.

Brauhaus Troisdorf
In Troisdorf ist die Brautradition den hiesigen Biersorten indes treu geblieben, was sich dann in der gemeinsamen Vorsilbe „Tro“ äußert. Diese umfassen die Biersorten Troilsch, Tro-Pi und Troisdorfer. Ich trinke ein Troisdorfer Pilsener, dessen Flüssigkeit hell und klar in dem Bierkrug schillert, so wie bei den im Sauerland oder in der Eifel gebrauten Biersorten. In der Tat: vom Geschmack her ist das Bitburger nicht weit entfernt. Das liegt an den Bitterstoffen, das erklärt mir der Brauereibesitzer Manfred Hausmann. Dem Bier werden Hopfenextrakte mit Bitterstoffen hinzugefügt, was beispielsweise für die Eifeler Biersorten wie Bitburger typisch ist. Wie dem auch sei, mir schmecken die herben Biersorten besonders – außer Bitburger trinke ich zum Beispiel gerne Jever oder Flensburger.

Also auch Troisdorfer. Ich umfasse den Henkel des Bierkruges. Die Zeit vergeht im Handumdrehen. Das Bier läuft meine Kehle hinunter, macht meinen Kopf frei und spült alles unnütze Beiwerk des Alltags hinunter. Brautraditionen können inspirieren. So wie im Mittelalter, als Bier zu den Grundnahrungsmitteln zählte.

Donnerstag, 1. Oktober 2015

Kalvarienberge in Ahrweiler und in Kölner Museen

Holzschnitzerei im Museum Schnütgen, Köln
Die Geschichte handelt von Tod und Trauer. Auf einem Berg, in der Bibel genannt Golgatha, übersetzt mit Schädelstätte, hängt Jesus am Kreuz, nackt, gedemütigt, Nägel zwischen den Gliedmaßen, die Brust mit einem Lanzenstich aufgerissen. Höllenqualen erduldend, übertrifft die Szene so manches, was unsere heutige Film- und Fernsehlandschaft an Action-Szenen und Massakern zu bieten hat. Eine Menschenmenge hat sich versammelt und verfolgt das Schicksal der drei Gekreuzigten, das seinen Gang genommen hat, unumkehrbar. Sie werden ihren Todeskampf verlieren. Krieger aus dem Heer des Statthalters Pontius Pilatus halten die Menge in Schach. Auch die guten Krieger, die die Geschichte nicht wahrhaben wollen, stellen sich auf die Seite der bösen Krieger. Frauen weinen, manche brechen in sich zusammen, darunter hat Veronika Trost zu spenden versucht, indem sie Jesus das Schweißtuch gereicht hat. Das Grauen findet einen Höhepunkt, als die letzten Worte „Mein Gott – warum hast Du mich verlassen“ Jesus in den Tod hinein befördern.

Der Ort der Kreuzigung namens Golgatha, ein Felsen, einige Kilometer nördlich der Jerusalemer Altstadt gelegen, nahm dieselben Wege der Übersetzung wie die Bibel selbst. Aus dem Aramäischen, dem Sprachgebiet im heutigen Iran und Irak, wanderte das Wortgebilde ins Hebräische. Im Griechischen blieb derselbe Wortstamm erhalten, später formte das Lateinische den Ort der Schädelstätte zu „calvarius locus“ um.

Dieser „calvarius locus“ prägte sich ein, er bestimmte lateinische Bibelübersetzungen des Mittelalters. Die Menschen trugen die Bürde des Lebens mit Demut, Feinde bedrohten seine Existenz, den Launen der Natur waren die Menschen hilflos ausgeliefert. Sie suchten nach Orientierung in dieser Christusgestalt, nach festen Abfolgen und Riten, ein Netz, in das Kirche und Herrscher das Volk einbanden. Zu diesen festen Riten gehörte auch die Leidensgeschichte von Tod und Trauer.

Der „calvarius locus“– oder auch Kalvarienberg genannt – hat im Rheinland Eingang gefunden in vielschichtige Formen des Kunsthandwerks im Mittelalter. So findet sich die Leidensgeschichte von Tod und Trauer im Kölner Museum Schnütgen, das im Jahr 2013 die spektakuläre Neuerwerbung eines Kalvarienberges feierte. Es handelte sich um eine Holzschnitzerei aus den Niederlanden, die auf eine Zeit um 1430/1440 datiert werden konnte. Dabei wirken in der Menschenmenge die geschnitzten Gesichtszüge der einzelnen Personen so plastisch, dass jedes Gesicht seine eigene Geschichte erzählt, welche durch dramatische Gesten noch verstärkt wird.

Ein weiterer Ort des Geschehens, wo sich die Gestalt eines Kalvarienberges erhebt, ist Ahrweiler. Glaubt man der Legende, so kehrte ein Kreuzritter um 1440 aus Jerusalem an die Ahr zurück. Ahrweiler war zu dieser Zeit eine wohlhabende Stadt voller Mauern und Türme, in dessen Mittelpunkt die St. Laurentius-Kirche stand. Mit den Türmen und Mauern verglich der Kreuzritter Ahrweiler augenblicklich mit Jerusalem. Dabei fiel ihm auch der Hügel auf, der etwa in der derselben Entfernung von den Stadtmauern lag wie die Schädelstätte Golgatha von der Jerusalemer Altstadt. Kurzerhand funktionierte der Kreuzritter den Hügel um, der bis dahin als Gerichtsort mit einem Galgen diente.




Ahrweiler, Kreuzwegstationen des Klosters Kalvarienberg
In diesen vergänglichen Zeiten des Mittelalters suchten die Menschen ihren Glauben zu zeigen, indem sie Körper und Seele einem Reinigungsprozess unterzogen: sie pilgerten. Das waren nicht nur die großen Pilgerstätten des Mittelalters – Jerusalem, Rom oder Santiago de Compostella – sondern auch Pilgerorte und Pilgerkapellen von lokaler Bedeutung.

Der Kreuzritter ließ eine Kapelle als Pilgerstätte für die Leidensgeschichte bauen, das war der Kalvarienberg. 1650 entstand dort ein Franziskanerkloster, in dessen Schriften das Gründungsjahr der Kapelle 1505 festgehalten ist. Um die Pfarrkirche St. Laurentius mit dem Kalvarienberg zu verbinden, wurde ein Kreuzweg mit den dazugehörigen Stationen der Leidensgeschichte gebaut. Diese Anordnung ist durchaus typisch für Kalvarienberge, die sich ab dieser Zeitepoche über ganz Europa verstreut haben. Angelehnt an die biblische Zahlenwelt, besteht dieser Kreuzweg in Ahrweiler aus vierzehn Kreuzwegstationen, wobei es anderenorts auch Kreuzwege mit sieben Stationen gibt. Eine Besonderheit, nicht nur im Rheinland, hebt den Ahrweilerer Kreuzweg heraus: die erste Station, noch original erhalten, stammt aus dem Jahr 1546. Um sie zu bewahren, wurde sie von der Mauer des Stadttors entfernt und ist seit 1991 im Ahrweilerer Stadtmuseum zu sehen. Die übrigen Kreuzwegstationen datieren aus dem 18. Jahrhundert.

Nachdem 1505 die Holzkapelle gebaut wurde, die um 1671 durch eine größere Kirche abgelöst wurde, wird der Kalvarienberg regelrecht von Pilgern überflutet. Zum Jahr 1629 findet sich in den Chroniken des Franziskanerklosters: „Der als eine heilige Stelle berufene Berg wird das ganze Jahr hindurch von Gläubigen besucht, vorzugsweise an Freitagen, von wegen der Wochenmesse. Von den Festen an bis zum Ausgang des Sommers kommen die Wallfahrten und Prozessionen häufiger, diese manchmal mit neun oder zehn Kreuzen.« Zum Ende des 30-jährigen Krieges war der Andrang von Pilgern so stark, dass das Hören der Beichte von 5 Uhr morgens bis 11.30 Uhr dauerte. Sowohl in als auch außerhalb der Kirche wurde ununterbrochen die Kommunion gereicht. 1652 berichtet die Chronik, dass am 17. Mai Prozessionen aus Blasweiler, Heckenbach, Gelsdorf, Löhndorf, Flerzheim, Fritzdorf, Beul und Karweiler gleichzeitig auf dem Kalvarienberg ankamen, so dass in Ahrweiler das Brot ausging. Der Sog der Pilgerströme verstärkte sich unter anderem deswegen, weil es sich zufälligerweise ergab, dass Kranke nach der Pilgerreise wieder geheilt wurden.

Gemälde des Meisters der Heiligen Veronika, um 1400
Köln, Wallraf-Richarz-Museum
Die Pilgerströme rissen erst ab, als napoleonische Truppen in das Rheinland eindrangen. 1802 mussten die Franziskaner das Kloster und die Kirche aufgeben, 1806 wurde der Kalvarienberg verkauft, 1897 wurde mit Ausnahme der Wallfahrtskirche alles abgerissen; es entstand ein Neubau in neugotischem Stil, so wie er noch heute zu sehen ist.

Weitere Zeugnisse, dass das Kunsthandwerk den Kalvarienberg als Motiv für die Malerei entdeckt hat, finden sich im Kölner Wallraf-Richarz-Museum. Um 1400 gruppierten sich um Stefan Lochner, der nach Flandern gereist war, um die dortige Malerei zu studieren, kleine Atelierwerkstätten in der Nähe der heutigen Kölner Schildergasse. Die Maler malten in Auftragsarbeit Bilder für die wachsende Anzahl von Kirchen im Kölner Stadtgebiet, das waren vor allem Altarbilder, Tryptichen oder mehrteilige, aufklappbare Gemälde für Altaraufsätze.

Auch diese Gemälde beschreiben die Geschichte von Tod und Trauer. So der Kalvarienberg des Meisters der Heiligen Veronika, der von 1395 bis 1415 in Köln tätig war. Auch hier hat sich eine Menschenmenge versammelt. Soldaten schauen zu, wie die Gekreuzigten ihre Höllenqualen erleiden müssen. Alle Versuche zu helfen, sind zum Scheitern verurteilt. Niemand kann den Tod aufhalten. 

Montag, 28. September 2015

rund um den Weilberg, Stenzelberg, Petersberg - eine Wanderung durch das Siebengebirge

Klostereingang Heisterbach
Es hätte nicht sehr viel gefehlt, und die Menschen hätten mit Sprengstoff und Hacke in wenigen Jahrhunderten das wieder beiseite geräumt, was die Natur mit Wind und Regen, Frost und Sommerhitze in Millionen von Jahren geschaffen hatte: die Einebnung des Siebengebirges. Die vulkanischen Kuppen am Rhein boten Trachyt, Latit und Basalt, und der Mensch kratzte hier alles heraus, was er in der boomenden industriellen Revolution brauchen konnte: Kreuze, Simse, Fensterbänke, Bordsteine, Pflastersteine für den Wegebau, Schotter für den Eisenbahnbau und vieles mehr.

Wir treffen uns auf dem Parkplatz vor dem Kloster Heisterbach und starten dort unsere Wanderung. Wir überqueren die Landstraße, an Wiesen vorbei geht es ein Stück bergab, dann folgen wir den steinernen Wegweisern nach rechts zum Weilberg. Der steinerne Weg steigt stetig an, der Wald aus Buchen und Tannen verdichtet sich, über einen Rundweg gelangen wir von der Rückseite aus zum Weilberg. Reste von Eisenbahnschienen und ein Diplom, diese beiden Symbole begegnen uns auf dem grasbewachsenen Fußweg vor dem Weilberg. Eine Schmalspurbahn, die Heisterbacher Talbahn, fuhr mit ihren dampfenden Lokomotiven an den Füßen des Steinbruchs vorbei, wo 1940 der Abbruch endete. Ein Diplom, sogar ein europäisches, belegt mit dem Datum 15. Oktober 1971 all die Anstrengungen, wie viel für den Naturschutz, so die Einstellung jeglicher Steinbruchaktivitäten, für das Siebengebirge erbracht worden ist. Über einen Lattenzaun schauen wir tief in das alte Steinbruchloch hinein, von Eschen umstanden, mit hohen Wänden aus Basalt, das Loch zu einem Tümpel vollgelaufen, darüber hebt sich in helleren Tönen der Tuff ab.



Weilberg mit Diplom und Eisenbahnschiene (oben)
Wir drehen zurück, marschieren ein Stück bergab und überqueren mehrere Gehminuten weiter dieselbe Landstraße, die mehrere Kilometer talwärts an unserem Ausgangspunkt, dem Kloster Heisterbach, vorbei führt. Dahinter geht es seicht bergauf, und von dem Teerweg biegen wir nach links ab auf einen mit Kiessteinen durchsetzten Waldweg, vorbei an Baumwurzeln und Farn, die sich dicht an den Wegesrand drängeln.

Ähnlich wie beim Weilberg, umkurven wir den Stenzelberg zunächst von seiner Rückseite und dann von seiner Vorderseite. Zunächst schauen wir durch Aufrisse von Felsenspalten hindurch, die mit Baumstämmen zugewachsen sind. Die Felsenvorsprünge vereinigen sich zu Zweieck-, Viereck- und Sechsecksäulen, überwuchert von Moos und Farn. Dann schwenkt der Weg nach rechts und der Blick ist freigelegt auf das Innere des Stenzelberges, den der Raubbau an der Natur zu großen Teilen abgetragen hat. Bäume überragen nun die senkrechten Felswände, die den Steinabbau überstanden haben. Ihre massige Gestalt ragt gigantisch heraus aus der Freifläche, wo sich nun der Weg windet zwischen Gras und kniehohen Sträuchern. Aus den Gesteinen des Stenzelbergs hat das Mittelalter bedeutende Kirchenbauten geformt, so die Bonner Münsterkirche oder die Kirche in Oberpleis, in denen Steine aus Latit vermauert worden sind.



rund um den Stenzelberg
Nach einem bis zwei Kilometern erreichen wir eine Lichtung, wo sich eine Wegespinne in alle Richtungen verteilt. Mitten im Wald, malerisch zwischen den Erhebungen des Siebengebirges gelegen, mit einer Fassade aus weißem Putz und einem rot-schwarz gestrichenen Giebel aus Holzdielen, lädt uns das Einkehrhaus ein zu einer Pause. Nachdem wir mehr als die Hälfte unserer Strecke hinter uns gelegt haben, nutzen wir gerne diese Gelegenheit. Wir treten ein, lassen uns nieder in dem holzvertäfelten Gastraum, wo uns zur werktäglichen Nachmittagszeit sogar eine Speisekarte gereicht wird. Als wir das Einkehrhaus verlassen, staunen wir über die Fotos im Flur zur Geschichte der Herberge im Wald. Seit seiner Errichtung, das war 1927, ist das Einkehrhaus im Familienbesitz. Das Einkehrhaus wird nun in dritter Generation von der Enkelin, Ursula Grewe, geführt.




Einkehrhaus
Mal bergab, mal bergauf geht es weiter. Lichte Momente sind selten, auch wegen des wolkenverhangenen Himmels, und so können wir uns dem Eindruck nicht entziehen, dass die Bewaldung an Dichte zunimmt. Als zum Petersberg bergauf geht, dringt das Dunstgebilde von Wolken bis in die Spitzen der Tannen hinein. Der Wald gewinnt so an Mystik und Unheimlichkeit, ein düsterer Wald, so wie er etwa im Märchen von Hänsel und Gretel erzählt wird.


mystischer Wald zwischen Einkehrhaus und Petersberg
Dass wir näher an den Petersberg heranrücken, erahnen wir, als sich die Straße durch das Dunkel des Waldes hinauf schlängelt, die zum Petersberg führt. Ab dieser Stelle wird es unangenehm, denn die Zufallserscheinungen von Regentropfen verdichten sich zu einer klatschnassen Angelegenheit. Regenschirme spannen sich auf, Regenjacken werden zugeschnürt. Wir bugsieren unsere Schuhe an Rinnsalen vorbei, die bergabwärts über den schmalen Steinweg plätschern.

Wir laufen am Petersberg vorbei mit seinem skandalumwitterten Hotel, seinem steinzeitlichen Ringwall, seiner mittelalterlichen Wallfahrtskapelle und seiner regenverhangenen Aussicht auf den Rhein, die ohnehin nicht lohnt. Auf der Bergkuppe wursteln wir uns vorbei an einem Sicherheitszaun, an Scheinwerfern und Kameras, die die Bonner Republik mit all ihren hoch dotierten Staatsgästen übrig gelassen hat.


Pfade rund um den Petersberg
Bergab, erdulden wir die restliche Strecke zum Kloster Heisterbach. Allzu viel, vielleicht ein viertel der Strecke, hat uns der Regen nicht vermiest. Bevor wir das weitflächige Gelände des Klosters Heisterbach erreichen, müssen wir steil bergabwärts, die Klostermauern entlang, den schwierigen, glitschigen und regennassen Waldweg meistern. Als wir durch eine Holztüre das Klostergelände betreten, hat der Regen denn auch ein Einsehen mit uns Wanderern, indem er aufhört. Den Kreuzweg entlang, passieren wir die riesigen Ausmaße der früheren Klosterkirche, die die übrig gebliebenen Fundamente dokumentieren. Lediglich die Chorruine aus dem 13. Jahrhundert hat die Zeiten überdauert.

Alles ist vergänglich, so auch der Regen, als wir auf dem Parkplatz vor dem Kloster all die Feuchtigkeit von uns abschütteln.


Donnerstag, 24. September 2015

Stephen Greenblatt - Die Wende: wie die Renaissance begann

Man schrieb das Jahr 1417, als es den päpstlichen Sekretär Poggio Bracciolini in den Nachwirren des Konstanzer Konzils nach Deutschland verschlug. Die Kirche war mittendrin, sich im Spannungsfeld von Intrigen und Macht zu zerreißen. Niedergang und Abstieg hatten Rom erfasst, Ödnis, Hütten, steinige Felder, Ruinen und Zerfall erstreckten sich zwischen der Peters-Basilika und römischen Tempeln. Handel und ein blühendes Handwerk fehlten, um Rom wieder auf die Beine zu helfen. In dieser Zeit feierten die Päpste rauschende Feste, finanziert durch den Verkauf von Kirchenämtern und den Ablasshandel. Huren verkehrten auf dem Hof der Päpste. Sie waren korrupt, sie führten Kriege, und letztlich war es auch der Umgang mit reformatorischen Bewegungen und Andersgläubigen, der dazu führte, dass Gegenpäpste in einem eigenen Papstpalast in Avignon herrschten.

Poggio Bracciolini erlebte mit, wie das Konstanzer Konzil kläglich scheiterte, wie sein Papst Johannes XIII. ins Gefängnis geworfen wurde, wie der Reformator Hus aus Tschechien 1415 in Konstanz auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, ebenso 1416 die Hinrichtung seines Freundes Hieronymus von Prag.

Mittendrin in diesen aufgewühlten Zeiten, liest sich das Buch von Stephen Greenblatt mit reichlich Spürsinn geradezu wie ein Kriminalroman. Greenblatt, Professor für Literaturwissenschaften an der Harvard-University, beweist, dass er sich als US-Amerikaner auf dem europäischen Kontinent bestens auskennt. Präzise und detailliert, zeichnet er den Weg nach, den der päpstliche Sekretär Poggio von seiner Heimat Arezzo in Italien nach Rom gegangen ist, wie er sich während und nach dem Konstanzer Konzil von 1414 bis 1418 in Deutschland aufgehalten hat, wie er aus Angst vor Verfolgung nach England emigriert ist, bis er 1423 nach Italien zurückkehrte.

Während seiner Zeit in Deutschland trieb Poggio eine Berufung vorwärts, die Greenblatt als eine Art von Urzelle der Renaissance beschreibt: Poggio war Bücherjäger. Dabei versteht er sich im Sinne der Renaissance als Humanist, der Grammatik, Rhetorik, Poesie, Philosophie und Geschichte in antiken Schriften studierte mit dem Ziel, anderen eine umfassende Geistesbildung beizubringen.

Greenblatts Beschreibungen von Büchern und Bibliotheken in den Zeitaltern bis zum 15. Jahrhundert gehen sehr tief, so dass mich als Leser so manche Passagen gefesselt haben, was auch an der gelungenen Übersetzung ins Deutsche liegt. Greenblatt holt ganz weit aus, indem er die Zerstörung der Bibliothek von Alexandria beschreibt, danach benennt er Bibliotheken als wichtigen Ort des öffentlichen Lebens in Rom. Greenblatt erläutert karolingische Minuskel aus der Zeit Karls des Großen, er befasst sich mit der Technik des Abschreibens in mittelalterlichen Klosterskriptorien. Der Buchdruck eines Johannes Gutenberg wurde erst 1450 erfunden, daher führte kein Weg am Abschreiben vorbei. In Klosterskriptorien war es den Abschreibern strikt verboten, bereits Abgeschriebenes zu ändern. Es gab zwar eine Tinktur als Käse, Milch und Kalk, um Schreibfehler wieder zu löschen, aber die weggelöschten Buchstaben mussten restlos ausgelöscht aussehen, dass weder der Abt noch der Klosterbibliothekar es bemerken könnten. Greenblatt widmet sich dabei auch dem Material des Papiers. In diesem Sinne war das Mittelalter so dunkel, wie man es sich gemeinhin vorstellt. Mit dem Zusammenbruch des römischen Westreiches war der Handel mit den Papyrushändlern in Ägypten zum Erliegen gekommen. Danach wurde Pergament verwendet, das waren Tierhäute. Manche eigneten sich besser, das waren die Häute von Kälbern, andere fast gar nicht, das waren Schweinshäute, in denen die Borsten durchstachen. Haare mussten restlos entfernt sein, die Schreibfläche musste glatt sein. Besonders schlimm war der Mangel, denn es konnte keine maximale Anzahl von Tieren nur um des Pergamentes Willen geschlachtet werden.

So kam es, dass sich niemand um Schriften in Bibliotheken kümmerte, dass diese im Verlauf von Jahrhunderten und Jahrtausenden unleserlich wurden oder in sich zerfielen, andere Schriften gingen durch Raub und Zerstörung verloren. 1417 machte Poggio schließlich die entscheidende Entdeckung – mit hoher Wahrscheinlichkeit im Kloster Fulda. Der Klosterbibliothekar ließ ihn in den gewölbten Raum der Klosterbibliothek hinein. Unter den Schriften römischer Epiker entdeckte er einen langen Text in der Form von Hexametern, der ursprünglich 50 v. Chr. verfasst wurde und von einem Dichter namens Titus Lucretius Carus stammte. Poggio bat den Klosterbibliothekaren, ihm eine Abschrift zu erstellen, was das Kloster dann auch tat.

Als Poggio einige Zeit später die Abschrift in seiner Hand hielt, identifizierte die Schrift als das Werk „de rerum natura“ – auf Deutsch: „die Dinge in der Natur“ - von Lukrez, der ein Schüler des griechischen Philosophen Epikur war. Im nachhinein stellte sich heraus, dass diese Schrift das einzige noch existierende Exemplar war. Sich anlehnend an Epikur, waren die Kernaussagen das Streben nach Glück und das Vermeiden von Unglück, oder auch die Steigerung des Genusses und die Verringerung des Leidens. Eine weitere Kernbotschaft war, dass sich die Dinge immer weiter zerlegen lassen, so dass die kleinsten Einheiten aus Atomen bestehen. Wenn es denn Götter gibt, dann sind es viele Götter. Mit dem Tod lösen sich all die kleinsten Einheiten, so dass kein Leben nach dem Tod existiert.

So stolz wie Poggio auf seine Entdeckung war, um so schneller wurde ihm klar, dass der Inhalt von „de rerum natura“ im Umfeld von Ketzerverfolgung und Häresie Sprengstoff war. Die Kernaussagen standen den Lehren der Kirche diametral gegenüber, zumal er sich stets loyal gegenüber seinem Dienstherren, dem Papst, verhalten hatte. Es dauerte nicht lange, dass Lukrez nach der Verbreitung von „de rerum natura“ zu den am schärfsten verbotenen Autoren zählte. Der Effekt ging sogar in die andere Richtung: Lukrez wurde fleißig gelesen, nämlich von Gegnern der Kirche, die gegenläufige Schöpfungsvorstellungen zu konstruierten suchten und bei Lukrez fündig wurden. Poggio musste einen Drahtseilakt hinlegen, um nicht in den Sog der Ketzerei hinein zu geraten.

Geschützt von den Medici, dem einflussreichen Adelsgeschlecht, war er schließlich in Florenz sicher. Durch Handel reich geworden, stützten die Medici ihr Weltbild weniger auf die Religion, sondern auf Großkaufleute, Bankiers, das Handwerk und die Wissenschaften, nicht zu vergessen Kunst und Malerei. Florenz lag weit genug entfernt, so dass Poggio der Zugriff vor der Kirche in Rom erspart blieb. 1459 starb Poggio im Florenz im Alter von 79 Jahren.

Doch mit dem Tod von Poggio geht bei Greenblatt die Entwicklung der Renaissance weiter. Das Werk „de rerum natura“ hat Eingang gefunden in andere Schriften, die die Renaissance maßgeblich gestaltet haben. Greenblatt spannt den Bogen nach Kopernikus, Galilei, Newton und verzweigt diesen Bogen zur Soziallehre eines Thomas Morus oder zu den Utopien eines Tommasso Campanella. Die Übersetzung des Buches mit „Die Wende“ verwirrt vielleicht ein wenig, da Greenblatt die Entwicklungen in der Renaissance nicht durchgängig als Wiedergeburt aus der Antike begreift. Anstatt dessen schaut Greenblatt bis in die Gegenwart hinein, die das Denken eines Lukrez ebenso durchdrungen hat: der Glaube an den technischen Fortschritt, ein Gott muss nicht notwendigerweise der Ursprung aller Dinge sein, befreite Liebe und sexuelle Revolution, der Autoritätensturz und enthemmter Genuss.

Mittwoch, 23. September 2015

planlos

Dass hierzulande viel gebaut wird, dass Dreck und Lärm entsteht, dass an Großbaustellen über mehrere Jahre hinweg gebaut wird, daran habe ich mich als Baustellen-geplagter Einwohner unserer Stadt gewöhnt. Ich ertrage es mit stoischer Geduld, weil ich weiß, dass die Dinge in ihrem tiefsten Kern einen Grund haben.

So verhält es sich, wenn ich mit meinem Fahrrad über einen Feldweg – das ist der Kabelweg in unserer Stadt - zur Arbeit fahre. Dort wuchsen und gediehen auf unseren Ackerflächen bislang Raps und Mais. Nun sollen auf diesem Areal, bestimmt so groß wie ein Fußballplatz, Wohnhäuser gebaut werden. Erschließungsarbeiten und Kanalbauarbeiten haben seit mehreren Wochen die Felder in ein Chaos gestürzt, wohinter Bauleiter schätzungsweise eine wohl sortierte Ordnung entdecken werden. Bagger graben sich in das Erdreich, LKW-Ladungen voller Erdaushub quetschen sich über den schmalen Wirtschaftsweg, Röhren aus Beton stapeln sich auf mehreren Feldstücken, Baucontainer zieren sich mit dem Logo eines großen Baukonzerns.

Um Kollisionen mit Baggern, LKWs und Baumaterial zu vermeiden, verhindern nun Bauzaun und Verbotsschilder die Durchfahrt. Das ist vollkommen bescheuert, da ich mit dem Fahrrad zwangsweise umgeleitet werde über die Marktstraße und dann auf den Fahrradweg entlang der viel befahrenen Landstraße L269. Erstens ist das ein Umweg, zweitens hat sich die Stadt in den vergangenen Jahren keine erkennbare Mühe gegeben, den Radweg in einem vernünftig befahrbaren Zustand zu erhalten, und drittens wimmelt es an Stellen, an denen Autofahrer Radfahrer als eine Art von Freiwild betrachten, wenn sie beim Rechtsabbiegen deren Vorfahrt mißachten.

Aber immerhin: trotz aller Widrigkeiten erkenne ich auf der Großbaustelle, dass gebuddelt, gebaggert, gegraben wird. Es geht also vorwärts. Und irgendwann in ein, zwei oder mehreren Jahren, werden dort die Häuser stehen, in denen sich ganz viele Menschen glücklich fühlen werden.

Völlig anders gestaltet sich die Situation direkt vor unserer Haustüre. Das Loch in der Erde ist geradezu winzig, vielleicht ein mal ein Meter groß, vor dem Mietshaus, das unserem Wohnhaus gegenüber liegt. Es geschah im Handumdrehen, dass Arbeiter erschienen, dass sie das Verbundpflaster entfernten, dass ein Kleinbagger sich in die Erde hinein fraß und dass nun ein Bauzaun die Hinterlassenschaften von Erdhaufen umgibt.

Das geschah vor ziemlich genau drei Wochen. Infolge der Baustelle können zwei Mieter ihre Fahrzeuge nicht vor dem Mietshaus parken. Mich stört die Baustelle in unserer so unästhetischen Stadt, weil ich an manchen Ecken den Eindruck habe, dass unsere Stadt mit Baustellen zugepflastert ist, dass nur um des Bauen willens gebaut wird. Dass wir in eine Art von Teufelskreis hinein geraten sind, dass Bauunternehmer Baustellen zum Überleben brauchen und umgekehrt. Und dass Baustellen wohl auch unumgänglich sind auf dem Weg in eine zukunftsorientierte Stadtplanung. Da freue ich mich wenigstens, dass sich auf der Großbaustelle in unseren Feldern etwas tut. Aber hier ? Darf ein jeder, so wie er gerade lustig ist, die Straße aufreißen ? Und das auf einem Stück, welches eindeutig zu einer öffentlichen Straße gehört ?


Untätigkeit erzeugt Planlosigkeit. Das Schild irgendeiner Fernmeldebaufirma aus Neuss hängt am Bauzaun. Also wohl irgendetwas mit Telefon oder superschnellem Internet. Der Hausmeister des Mietshauses hatte zuletzt erzählt, dass sich niemand von der Fernmeldebaufirma mehr habe blicken lassen. Er habe auch keine Ahnung, wann die Baustelle denn verschwinden solle.

Wer sich zuerst bewegt, der hat verloren. Über diesen Beamtenwitz habe ich früher gerne gelacht. Das gilt wohl auch für die Verantwortlichen, damit diese einen gewissen Baufortschritt erkennen lassen. Über so viel Planlosigkeit kann ich nur den Kopf schütteln.

Dienstag, 22. September 2015

mit dem Rennrad nach Mehren / Westerwald

willkommen in Rheinland-Pfalz
Es gibt Landstriche, die verschwimmen regelrecht auf der Landkarte. Die Konturen muss ich suchen, es gibt keine spektakulären Erhebungen, Flüsse und Täler schaffen keine natürlichen Begrenzungen, größere Städte fehlen, die Wildnis der Natur behält die Oberhand. Genauso dachten die Römer über die Gebiete jenseits des Rheins. Der Rhein markierte die Grenze römischen Staatsgebietes, dahinter begann die Wildnis, wo die Germanen hausten. Als die Legionen Cäsars bei Neuwied eine Holzbrücke über den Rhein bauten, waren die germanischen Volksstämme dermaßen verdutzt, dass sie in das Gebiet des heutigen Westerwaldes flohen. Sie verkrochen sich, die Errungenschaften der römischen Zivilisation erreichten sie nicht. Auch später taten sich die Errungenschaften der Zivilisation schwer, denn weite Gebiete des Westerwaldes lagen im Grenzgebiet zwischen den Kölner und Trierer Erzbischöfen.

Die Grafen von Wied, Sayn und Diez murksten in kleinen Grafschaften vor sich hin, während Ottonen und Salier nach der Jahrtausendwende in großem Stil das Christentum durchsetzten, indem sie Grundbesitz an Kirchen stifteten. Aus dieser Zeit stammt auch diejenige Urkunde, die den Westerwald als Herrschaftsgebiet erstmals erwähnte. Das war die sogenannte Haigerer Urkunde aus dem Jahr 1048, die dieses Gebiet als Herrschaft westlich des Königshofes Herborn festlegte. Der germanische Volksstamm der Chatten hatte in diesem westlich gelegenen Landstrich gesiedelt. Die Festlegung, wo denn der Westerwald liegt, dehnte sich in den Folgejahrhunderten vom Kerngebiet im heutigen Hessen immer weiter nach Westen aus. Heute sind es die Flüsse, die den Westerwald umreissen, der Rhein im Westen, die Sieg im Norden, die Dill im Osten, die Lahn im Süden.

Auch ich definiere mich selbst gerne über Landschaften. Je rassiger die Steigungen, um so schöner ist das Spektakel, die Landschaften von einem höheren Standpunkt aus zu erleben. Je krasser das Auf und Ab, um so mehr fangen mich die Akzente der Landschaft ein. Ruhige Nebenstraßen beflügeln mich, eigene Radwege schaffen ein Zusatzerlebnis jenseits allen Autoverkehrs. Bei dieser Tour stelle ich fest, dass auch der Westerwald genau diese Kriterien erfüllt.

Ich beschließe, dass der Westerwald an der Landesgrenze zu Rheinland-Pfalz beginnt. Anfangs fahre ich dieselbe Route wie auf der Rennradtour nach Eitorf. Den Rhein entlang über Oberkassel, Königswinter, Rhöndorf nach Bad Honnef. Durch die Fußgängerzone, den Hinweisschildern in Richtung Ägidienberg folgend, durch das Schmelztal das Siebengebirge hinauf. An der großen Kreuzung in Bad Honnef-Rottbitze fahre ich links, hinter der Autobahnauffahrt auf die A3 gleiten die Erhebungen des Siebengebirges aus, dichter Wald kriecht bis auf einen freien Streifen an die Landstraße heran.

Wehrkirche in Kircheib
Gemächlich geht es weiter bergab, und in dem Ort Stockhausen, wo sich einzelne Häuser zaghaft an die Straße heran trauen, lächelt mir auf einem Straßenschild eine Durchschnittsfamilie mit Mama, Papa, Tochter und Sohn entgegen. „Willkommen in Rheinland-Pfalz – wir machen’s einfach“, so begrüßt mich auf dem Schild die Tochter, indem sie auf den Schultern ihres Vaters die Arme in den Himmel reißt.

Herzlicher hätte der Westerwald kaum beginnen können. Die Landschaft trägt ihren Teil dazu bei, indem sie in Wellen hinab fällt, durch viel Grün an versprenkelten Dörfern vorbei führt, bis Buchholz ein Stück ansteigt, dann wieder abfällt und zur Bundesstraße B8 hin in Kurven ein längeres Stück ansteigt. Ich biege nach rechts auf die Bundesstraße B8 ab. Das Schild „Landkreis Altenkirchen“ läßt mich in unbekanntere Tiefen des Westerwaldes eindringen.

Der erste Ort im Landkreis Altenkirchen, Kircheib, gibt ein chaotisches und uneinheitliches Bild ab. Die direkte Lage an der Bundesstraße B8 stößt mich ab. Kein Radweg, Auto reiht sich an Auto, LKW an LKW. Der Verkehr donnert vorbei an den Kolossen einer Fertighausausstellung, an existenzbedrohten Bauern, die als landwirtschaftliches Lohnunternehmen Fuß fassen wollen, an einer wüsten Parkerei vor einer Imbißbude und an einem Verkaufsbüro, dessen abenteuerliches Warenangebot von Futtermitteln bis zur Bild-Zeitung reicht.

Es geht aber auch anders in Kircheib. Der Ort liegt so abgelegen, dass sich die Einwohnerzahl über die Jahrhunderte kaum verändert hat. So hat sich die romanische Kirche aus dem 13. Jahrhundert in unsere Gegenwart hinein konserviert. Stil, Bauform, Fassade wirken wie aus einem Guß. Im Mittelalter gelegen in einer Art von Dreiländereck, kamen sich die Grafen von Berg, die Kölner Kurfürsten und die Grafen von Sayn gerne in die Quere. Eine Festung um die rund 300 Einwohner herum zu bauen, war vermessen und nicht zu bezahlen. Also musste die Kirche herhalten. Soldaten kletterten den Glockenturm hinauf, und die kleinen Rundbogenfenster dienten als Schießscharten, was die Soldaten auch eifrig nutzten. In Kircheib stritt man sich gerne darüber, wer den Wegezoll erheben durfte.  Die heutige Bundesstraße B8 verlief über eine der Hauptrouten des europäischen Warenverkehrs, nämlich von Antwerpen nach Konstantinopel.

Westerwaldlandschaft vor Mehren
Rasch lasse ich die vom Verkehr umrauschte Bundesstraße hinter mir, indem ich noch vor dem Ortsausgangsschild nach rechts abbiege. Dahinter beweist mir der Straßenverlauf, dass die Konturen des Westerwaldes durchaus anspruchsvoll sind. Buchenwald drängelt sich mächtig bergauf auf die Erhebung des Leuscheid, so dass ich fast in den kleinsten Gang hinunter schalten muss. Und hinter dem Bergkamm purzele ich gleich wieder den Berg hinunter. Am Waldrand schaue ich hinunter auf diese Hochfläche, wo die Straße ziellos zwischen abgeernteten Feldern verläuft. Kurven schwingen sich auf und ab, Häuser markieren die Tallagen. Es gibt keine Zweifel, dass der Westerwald so seine Konturen hat, denn das Auf und Ab hält an bis zum Tal des Mehrbaches, wo ich Mehren erreiche. Bach und Ort waren gleichbedeutend, das steht jedenfalls in den Urkunden. 1265 nannten sich beide „Mirne“, 1274 „Merne“, 1359 „Merin“, 1430 „Meirren“, Ende des 15. Jahrhunderts „Miern“. Danach begannen sich Bach und Ort sprachlich zu trennen, doch der Westerwälder Dialekt, das „Wäller Platt“ will davon bis heute nichts wissen: Bach und Ort vereinigen sich in der Gegend „än de Mihr“. Das Wäller Platt kann auch böse sein, wenn Nachbarorte, die sich nicht grün sind, Mehren als „Mihedscher Loch“ bezeichnen.

Ich erkenne, dass ich die sprachlichen Grenzen des Rheinlandes nun überschritten habe. Ungefähr ab Kircheib befinde ich mich im Territorium der moselfränkischen Dialekte, die innerhalb des Westerwaldes vor allem durch das rollende „r“ geprägt sind. Dabei brauche ich keine Angst zu haben, mir wie im Englischen die Zunge zu verbiegen, denn im Wäller Platt wird das gutturale „r“ nur angedeutet.

Mehren sieht verschlafen aus und ist nicht auf Anhieb eine Touristenattraktion, wenngleich es mit einer Vielzahl von Fachwerkhäusern glänzen kann. So nennt sich Mehren stolz das schönste Fachwerkdorf des Westerwaldes. Die Denkmalschützer und der Verschönerungsverein haben Fakten geschaffen. Während anderenorts der Denkmalschutz systematisch unterlaufen wurde und die Abrißbirne kreiste, wurde 1996 der komplette Ortskern zur Denkmalschutzzone erklärt.





Fachwerkdorf Mehren
Ich bestaune, wie sehr sich Denkmalschützer und viele helfende Hände Mühe gegeben haben, einen homogenen Baukörper von Fachwerk in dem kleinen Ortskern zu erhalten. Alles schart sich um die Dorfkirche, die im 12. Jahrhundert aus Bruchsteinen als dreischiffige Basilika gebaut wurde. Der Kirchenbau ähnelt demjenigen von Kircheib, wobei die schwere Bruchsteinfassade mit den kleinen Rundbogenfenstern durchgängig die Kirche umgibt. Alleine der Fachwerkaufbau über dem Chor, der mit seinem spitzen Dach besonders hervor sticht, wurde im 18. Jahrhundert angebaut. Die Schule, ein repräsentativer Bau mit kleinen weißen Fensterchen, stammt noch aus der Zeit vor dem 30-jährigen Krieg, ebenso das Gefängnis gegenüber dem Schulgebäude. Die Wortbezeichnung „Bulles’je“ vermittelt mir tiefstes Wäller Platt, ganz weit weg von der Rheinischen Mundart. Die meisten Fachwerkbauten sind ehemalige Gehöfte und Handwerksbetriebe, Sägewerk, Zimmerei, Backhaus, Gerberei. Im „Eulerhaus“, erbaut 1720,  wurde getöpfert. In Anlehnung an die Traditionen im Kannenbäckerland wurde grau-blau gemustertes Steinzeug hergestellt. Steinzeug und Krüge wurden im 18. Jahrhundert sogar an das britische Königshaus geliefert. Eine Freilichtbühne, die in verkleinerten Proportionen das antike Theater von Ephesos nachbildet,  rundet das Ortsbild von Mehren ab.

Ich verlasse Mehren, indem ich dem Mehrbach abwärts folge und einen Kilometer später nach rechts abbiege. Rasch geht es steil bergauf, so dass ich fast auf den kleinsten Gang herunterschalten muss. In Kurven und Kehren windet sich die schmale Straße hinauf, wobei sich die Fachwerkhäuser noch ein Stück fortsetzen. Bisweilen ist der pure Familienstolz in den Fachwerkbalken über den Eingang eingeritzt „das Haus wurde erbaut anno 1719 durch Julius Lommler God schütze es vor Feuer und Sturm.“

Nebenstraße in Ziegenhain
Oben auf der Höhe angekommen, überblicke ich den Westerwald mit seinem buckeligen Relief. Die Nachsilbe „-wald“ hat dieser Landstrich hier weniger verdient, denn Wiesen und ganz viele Felder ziehen sich über Buckel und Hügel, während Waldstücke eher zarte Tupfer in der Landschaft darstellen. Zuerst waren es die Klöster im Mittelalter, die Flächen für Ackerbau und Viehzucht rodeten. Später verschlang die Eisenerzeugung im Siegerland enorme Mengen an Holzkohle, um Schmelzöfen und Eisenhütten zu befeuern.

Der Kahlschlag schuf Ackerfläche, aber dennoch verarmte der Westerwald, als sich im 19. Jahrhundert Missernten und Hungersnöte ausbreiteten. Schnee lag bis in den Mai hinein, den Sommer über regnete es ununterbrochen, und an Klimaerwärmung dachte noch niemand. Der Preußische Staat, der nach 1815 im Rheinland das Sagen hatte, reagierte zwar und schickte Brot, Weizen und Mehl in die Notstandsgebiete. Doch ähnlich wie bei Spenden in Katastrophengebiete der Dritten Welt, kam es zu Verteilungsproblemen oder die Hilfeleistungen versickerten in dunklen Kanälen.

In diesen Zeiten höchster Not verbündete sich die Bevölkerung, und so kommt in diesen Teilen des Westerwaldes niemand an der Geschichte des Friedrich Wilhelm Raiffeisen vorbei. Eines vorweg: gewisse Marketing-Konzepte versuchen, die Idee des Genossenschaftswesens gleichzusetzen mit Volksbanken und Raiffeisenbanken. Das eine hängt vom anderen ab, doch das ist aber nur die halbe Wahrheit.

Sein Wirken begann ganz anderswo, im Landkreis Mayen in der Eifel, bis er 1845 Bürgermeister von Weyerbusch wurde, das liegt ein Stück weiter in Richtung Altenkirchen. Das Christentum – namentlich die evangelische Konfession wie im übrigen Westerwald - prägte seine Grundeinstellung, so dass er ein offenes Ohr hatte für die Nöte und Sorgen seiner Bürger. Er half, wo er konnte, wobei er anfangs das Schulwesen aufbaute sowie das Straßennetz.

Dem Wirken des Friedrich Wilhelm Raiffeisen bin ich bereits in Mehren begegnet. Als Bürgermeister von Weyerbusch suchte er die Profitgier einzelner zu unterbinden, die sich an der Not der Armen bereicherten. Das Dach des Kirchturms wurde neu gedeckt, wobei das Blei der alten Dachdeckung verkauft wurde. Raiffeisen setzte durch, dass Getreide und Saatkartoffeln aus dem Verkaufserlös gekauft wurden anstatt dass dieses Geld in irgendwelchen Geldtöpfen der Kirche verschwand. Etliche Kilometer radele ich auf „Raiffeisens Weg“, der mich auf diesem Stück bis nach Flammersfeld führt. Ziegenhain ist die nächste Etappe auf den Spuren des Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Auf der schmalen, kaum befahrenen Nebenstraße schlängele ich mich über die Höhen und atme die Ruhe des Westerwaldes ein. Tannen schieben sich über die Straße wie ein schützendes Dach, die Häuser zerstreuen sich hinter sorgsam gepflegten Vorgärten.

Raiffeisenhaus in Flammersfeld
In Ziegenhain ähnelten die Wohltaten des Friedrich Wilhelm Raiffeisen denjenigen in Mehren. Betriebswirtschaftlich würde man dies so formulieren: das Prinzip der Gewinnmaximierung wurde aufgehoben, anstatt dessen schuf er Verteilungsmechanismen, dass der Nutzen und der Gewinn einzelner der Gesellschaft zugute kamen. So wanderten in Ziegenhain Holzerträge aus der Forstwirtschaft in eine Gemeinschaftskasse, damit Wohlhabende wirklich Notleidenden Hilfe leisten sollten.

Anfangs waren es Hilfsvereine, Brotvereine, Wohltätigkeitsvereine, die dem Genossenschaftswesen vorgelagert waren. Die Vereine breiteten sich in der Altenkirchener Gegend aus, sie hatten keine Satzung, sie sahen ihre Basis in Treue und Glauben gegenüber der Gemeinschaft, das Prinzip der Verantwortung hatte Vorrang vor jeglichem Gewinnstreben.

Hinter Ziegenhain geht der Wechsel von Auf und Ab weiter. Mit einem mächtigen Schwung stürzt die Straße in das Tal des Ahlbachs hinunter. Im Tal folge ich links der Beschilderung nach Flammersfeld, wo die Straße in einem Hohlweg steil geradeaus weist. Alsbald erreiche ich auf der Höhe die Bundesstraße B256, die Bewaldung ist freiem Feld gewichen, rundum erstreckt sich wellenförmig eine geschwungene Hochfläche. Wen wundert es, dass auch bei der Bundesstraße B256 Friedrich Wilhelm Raiffeisen mitgemischt hatte. Dementsprechend nennt sich die Bundesstraße B256 auf diesem Abschnitt bis nach Neuwied „historische Raiffeisenstraße“.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts setzte der Preußische Staat einerseits gesellschaftliche und wirtschaftliche Reformen um. Die Bauern wurden für frei erklärt, Frondienste und Leibeigenschaft wurden abgeschafft. Andererseits beanspruchten Adel und Feudalherren Besitzrechte. Steuern, Abgaben und die Pacht drückten wie eine Last auf die Ernteerträge. So waren die Bauern nicht wirklich frei, sondern finanziell abhängig vom Adel und den Feudalherren. So wurden Straßen in einer abgewandelten Form von Fronarbeit durch die Arbeitskraft der Einwohner gebaut und instandgehalten. Dies änderte Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Als Sozialreformer setzte er durch, dass die Bevölkerung für ihre Straßenbauarbeiten bezahlt wurde.  

Ortskern von Oberlahr
Sieben bis acht Kilometer geht es nun auf einem eigenen Radweg auf der linken Straßenseite nach Flammersfeld, einem weiteren zentralen Ort innerhalb der relativ kurzen Schaffensperiode von Friedrich Wilhelm Raiffeisen. 1848 wurde er hier in Flammersfeld Bürgermeister, 1852 wurde er nach Heddesdorf, das heute zu Neuwied gehört, versetzt. 1865 wurde er mit 47 Jahren schließlich Frührentner, weil er sich an einer Typhuserkrankung angesteckt hatte und dabei fast erblindete.

So richtig finde ich nichts, um in Flammersfeld eine Pause einzulegen. Einige Gaststätten entlang der Bundesstraße B256 sehen dunkel und verschlossen aus. Der Autoverkehr rauscht. Der Ortskern, aus dem der spitze Kirchturm herausragt, der romanischen Ursprungs ist, gleitet linkerhand in die Hanglage hinunter. Dicht an der Straße plaziert sich das Gemeindehaus, das mich auf einer Hinweistafel herzlich willkommen heißt und zu einer Pause einlädt, Stühle und Tische sind aber hoch geklappt. Ich schiebe mein Rennrad über den Rasen, ein Tor im Jägerzaun steht offen, und prompt bin ich an einem schmucken Fachwerkbau angelangt, vor dem stolz und überdimensional das Logo der Volksbanken und Raiffeisenbanken prangert. Es scheint so, als wäre ich in der Urzelle aller Bankgeschäfte angekommen, nur der Geldautomat fehlt noch zwischen den Gefachen des Fachwerkbaus.

Dieses Rathaus war die Wirkungsstätte des Friedrich Wilhelm Raiffeisen während seiner Zeit als Bürgermeister in Flammersfeld. Als Frührentner widmete er sich intensiv dem Genossenschaftswesen. Sein Buch „Die Darlehenskassen als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter“ erschien 1866. Es war eine Art von Blaupause für den Aufbau von Selbsthilfeorganisationen. Danach breitete sich das Genossenschaftswesen aus als Konsum-, Verkaufs-, Winzer-, Molkerei-, Viehgenossenschaften oder auch im Banken- und Versicherungswesen.

Alvenslebenstollen
Über die Bundesstraße B256 verlasse ich Flammersfeld wieder. In Kurven geht es mächtig bergab ins Tal der Wied, die die Bundesstraße zunächst überquert. Dann biege ich rechts ab auf die Landstraße, deren Verlauf ich vorbei an einem Fitness-Center und an einem Wellness-Hotel folge. Nach einer Rechtskurve überquere ich abermals die Wied, wo ich nach Oberlahr gelange und an der Hauptstraße nach rechts zum Ortskern abbiege. Obschon es bergauf geht, lohnt der Abstecher, denn der großzügige Dorfplatz mit der neugotischen Kirche und einigen heraus geputzten Fachwerkhäusern steckt voller Charme und Gemütlichkeit. Einzig fehlt es an einer Lokalität, damit ich mir endlich eine Ruhepause gönnen kann.

Eine Hinweistafel vor der Kirche klärt mich auf, dass bis zur Jahrhundertwende um 1900 Erzbergwerke das Wiedtal geprägt haben. Danach wurde die Erzförderung wegen zu geringer Fördermengen eingestellt, doch Kriege hielten den Erzabbau am Leben. Zuerst wurde 1917 in den Schächten wieder nach Erz gegraben, dann trieben die Nationalsozialisten  mit Hochdruck den Erzabbau voran, bis sie 1941 erkennen mussten, dass nicht allzu viele verwertbare Erze zu holen waren und schlossen die Gruben wieder.

Also radele ich weiter, zurück auf die Landstraße an das Ortsende von Oberlahr. Dahinter biege ich nach links ab und folge der Fahrradbeschilderung auf den Wiedtalradweg. Mit Radwegen entlang von Flüssen und Flußtälern habe ich unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Diesmal sollte sich die Fahrt entlang dieses Radweges als Fehler herausstellen, denn der schmale Fahrweg über die alte Eisenbahntrasse, die 1966 stillgelegt wurde, ist zwar gut befestigt, aber nicht geteert. Tage des Regens hatten den Schotter aufgeweicht, so dass sich meine Rennradbereifung durch eine glitschige Oberfläche von Matsch hindurch quälen muss. Es geht voran, aber mehr im Schneckentempo. Selbst die historische Hinterlassenschaft des Alvenslebensstollens kann meine Neugierde nicht erwecken. In Burglahr offenbart sich dann eine andere Hinterlist des Wiedtalradwegs. Endlich ein geteerter Weg auf festem Untergrund, so denke ich. Nachdem ich nach links abgebogen bin, gruppieren sich Häuser um die breite Fahrbahn, die zunächst ein kleines Stück bergaufwärts wandert, dann wird der Anstieg immer strammer. Ich bin genervt, als der Anstieg einfach nicht aufhören will. Mächtig komme ich ins Schwitzen, bis ich auf der Höhe all die Lahrer Herrlichkeit überblicke, so wie das Herrschaftsgebilde der Orte Oberlahr, Burglahr und Peterslahr zusammengefasst wird. Dabei gibt der Straßenname „Kur-Kölner-Straße“ den eindeutigen Hinweis, dass die Lahrer Herrlichkeit lange Zeit den Kölner Kurfürsten gehört hatte.

Heiliger Nepomuk in Peterslahr vor der Kirche St. Peter
Endlich geht es bergab nach Peterslahr, das sich in einer gewissen Logik der Lahrer Herrlichkeit Niederlahr nannte. Das war bis 1556, als Niederlahr wiedabwärts unterhalb von Oberlahr lag. 1556 gelangte dann eine Reliquie des Heiligen Petrus, angeblich der Knochen eines Kinns, nach Niederlahr, und fortan nannte sich der Ort „Peterslahr“. Der Kirche mit ihrem vielschichtigen Bruchsteinmauerwerk und dem sperrigen, verbauten Baukörper strömt in der Tat Ruhe, Besinnlichkeit, Bodenständigkeit, Entspannung aus. Ich bin ein wenig überrascht, dass ich nicht den Kirchenheiligen Petrus entdecke, sondern auf einer Steinmauer vor der Kirchenfassade den Brücken-Heiligen Nepomuk, dabei ist die Wied noch ein ganzes Stück entfernt. Eines der Fachwerkhäuser auf dem schönen, mit Bäumen bestandenen Dorfplatz ist noch vor der Franzosenzeit entstanden, das belegt die Jahreszahl 1742 über dem Eingang.

Ich drehe mich wieder aus Peterslahr zurück, wende zur Landstraße, muss aber sogleich wieder den Berg hinauf treten, da die Wied eine vom Dorf abgewandte Schleife zieht. Gefühlt muss ich bestimmt an die fünf bis sieben Prozent Steigung den Berg hinauf kraxeln, wo es dann rasch mit demselben Gefälle wieder bergabwärts geht.

Nun entwickelt sich die Tour gemütlich und allzu große Steigungen – abseits des Wiedtalradweges, den ich bewusst meide. Wiesen dehnen sich im Tal, Kurven winden sich um Felspartien, Überreste von Brückenpfeilern markieren die frühere Eisenbahntrasse. Selbst der Autoverkehr hält sich vorsichtig zurück.

Neustadt an der Wied soll dann der Ort sein, in dem die lang ersehnte Pause fällig sein soll. Doch die Suche gestaltet sich schwierig. Ich kann nicht einschätzen, ob das Hotel an der Straßenecke geöffnet hat, denn auf der Terrasse sitzt niemand. Das Eiscafé auf der Hauptstraße wirkt wenig einladend, da mir all die quadratischen Sitzgruppen in dem saalartigen Innenraum einfach nicht gefallen. Das Eiscafé scheint zudem eine der wenigen Lokalitäten zu sein, die geöffnet hat, denn dort ist es rappelvoll. Eine geschlossene Pizzeria, eine Bäckerei, das ist es ansonsten auf der Hauptstraße.

Steinlehrpfad in Neustadt a.d. Wied
Notgedrungen bewege ich mich zum Park an der Wied. Vor der Wiedbrücke biege ich nach links ab, ich hocke mich auf eine der Parkbänke und schütte ordentlich Mineralwasser in mich hinein. Als ich meine Beine in die Länge strecke, bemerke ich in dem ansonsten an Höhepunkten so armen Neustadt an der Wied dann doch etwas, was meine Aufmerksamkeit in Gang bringt. Auf einem Steinlehrpfad hat man Gesteinsbrocken aus der Westerwälder Umgebung zusammen getragen, man hat sie sorgfältig beschriftet, so dass ich Herkunft, Alter, Entstehung und Besonderheiten studieren kann.  Ungefähr alle zehn Meter kommt ein neuer Steinkoloss, und bis zur Holzbrücke über die Wied bin ich an jede Menge Tonsteine, Sandsteine, Grauwacken, Basalte, Quarziten und vielen Erklärungstafeln vorbei geradelt, zu denen mir die Zeit fehlt, sie alle zu lesen.

Ab hier ist der Wiedtalradweg so schön, wie ich ihn vor einem Jahr kennen gelernt habe. Es geht über die alte Bahntrasse, wo 1912 einige Kilometer in der entgegengesetzten Richtung der Bahnhof in Neustadt an der Wied eröffnet wurde. Eichen und Buchen spannen in Hanglage ihr schützendes Dach über den Radweg. Nach zwei Kilometern endet der Bahntrassenradweg, ein Stück fahre ich über die Landstraße L255 durch Wiedmühle, wo die Brücken von Autobahn und ICE-Trasse in luftiger Höhe über mir zu schweben scheinen.

Kurz darauf gabelt sich die Landstraße. Schon etwas ermattet, weist mich an der Gabelung meine sportliche Ambition des Rennradfahrens in die richtige Richtung. Mit 10% Steigung geht es halbrechts bergauf. Serpentinen schwingen sich die Höhe hinauf, und genau in diesem Moment tröpfelt es leise. Der Himmel hatte sich während meiner gesamten Tour bedeckt, doch die zähe Wolkendecke hatte dichtgehalten. Ich ächze, krächze, quäle mich Kurve um Kurve hinauf. Die Steigung drückt mein Tempo, Tritt für Tritt krieche ich voran, während der Himmel von oben seine Schleusen öffnet. Der Regen fällt und hüllt mich ein in ein feines und dicht versponnenes Netz. In meinem Gesicht vermischt sich der Schweiß mit dem Regen zu feingliedrigen Rinnsalen.

Die Logik ist verquer. Ich stelle fest, dass Regen und 10% Steigung zusammen passen. Die Nässe von oben gleicht meine Anstrengung aus. Die Steigung ist hinterhältig. Wenn die Straße einen Punkt gefunden hat, dass es den Berg hinunter geht, steigt sie direkt anschließend in einer Art von Kopiervorgang mit derselben Unerbittlichkeit wieder den Berg hoch. So komme ich kaum zum Atemholen. Es scheint so, als würde alleine der Regen eine letzte Reserve von Abenteuerlust aus mir heraus holen. Allen Widrigkeiten trotze ich, indem ich auf die alte Radfahrerweisheit vertraue: der Mensch an sich ist wasserdicht !

Gleichgültig spannen sich Strommasten in das düstere Himmelsgrau hinein, gänzlich unbeeindruckt von dem wuchtigen Flachbau einer Maschinenbaufabrik, die sich zwischen Wiesen und freistehenden Einfamilienhäusern verirrt, einsam und alleine. Dem Anstieg und dem Regen, der kein Einsehen haben will, widerstehe ich in auch St. Katharinen. Teilnahmslos gleitet der gotische Chor des Kirchenbaus, dem ich ansonsten mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte, an mir vorbei.

Am Ortsende von St. Katharinen biege ich schließlich nach links ab, nach einem Kilometer wieder rechts in Richtung Linz. Dann ist es geschafft. Während sich schwere Regenwolken auf den Sendemast des SWR herab senken, reißt der Himmel vor mir auf. Ein heller Streifen spannt sich über dem Rheintal auf, Flecken mit dem Farbenspektrum der Eifellandschaft gewinnen auf der gegenüberliegenden Rheinseite an Leuchtkraft.



strömender Regen zwischen Neustadt a.d. Wied und Linz
Ich muss aufpassen. Die Regentropfen werden spärlicher. Mit 13% Gefälle schießt die Landstraße ins Tal hinunter. Die Fahrbahn ist regennass, das Gefälle beansprucht meine Bremsen aufs Äußerste, und ich muss aufpassen, dass sie greifen, dass ich nur soviel an Fahrt aufnehme, um zu reagieren. Als ich Linz erreiche, fühle ich mich erlöst von diesem Übermaß an Steigungen.

Gemütlich lasse ich mein Rennrad in der Fußgängerzone ausrollen, bis mir der Marktplatz einen gemütlichen Rahmen für eine Pause bietet. Zwei Pils löschen meinen Durst, all die Steigungen schüttele ich von meinen Beinen. Sogar die Sonne, die Wolken und Regen verscheucht hat, lacht wieder. Das Rathaus zeigt stolz seine markanten rot-weißen Fensterläden, vor mir bummeln die Passanten vor sich hin, schauen hier, schauen da, studieren Speise- und Getränkekarten, lassen sich in dem einen oder anderen Café nieder. Ich schaue hier, schaue da, lasse die Zeit vorbei streichen.

Nachdem die Pause mich wieder fit gemacht hat, geht es weiter. Aus der Fußgängerzone hinaus, halte ich mich in Richtung Erpel, Unkel und Bad Honnef. So wie auf der Tour quer durch das Siebengebirge. Auf demselben Weg den Rhein entlang geht es zurück zum Alten Zoll.

Strecke (113 Kilometer):

Höhenprofil: