Cäsarius von Heisterbach war ein eifriger Chronist.
Nachdem er im Jahr 1199 Mönch im Kloster Heisterbach geworden war, hielt er auf
Zetteln als das fest, was er täglich beobachtete. Als Novizenmeister, das war
der oberste Lehrbeauftragte des Klosters, sammelte er zwanzig Jahre lang Wunder
und Geschichten seiner Zeit, wobei er nicht nur das Klosterleben aufschrieb,
sondern auch reiste, nach Aachen, in die Eifel, an die Mosel, nach Hessen oder
in die Niederlande, um mit offenen Augen zu notieren, was außerhalb der
Klosterwände geschah.
Der Sprache der Gelehrten und der Kirche
entsprechend, erschien um 1220 sein Hauptwerk auf Lateinisch, das waren fünf
dicke Bände. Die „dialogus miraculorum“
revolutionierten nicht direkt das mittelalterliche Denken, da dieses in einem
strengen Einheitsdenken sich auf Gott als den Ursprung der letzten Dinge
beziehen musste. Aber immerhin: Cäsarius von Heisterbach schuf neue
Erzählformen, indem er die fünf dicken Bände als Dialog abgefasste. Mönch und
Novizenmeister redeten im Dialog miteinander, sie philosophierten über die
letzten Dinge, sie vermittelten Grundsatzdenken zur Beichte, Sünden, Tugenden
oder auch dem Tod. Cäsarius von Heisterbach reicherte diese Dialoge mit
Wundererzählungen an, indem er die Bedeutung von Alltagsbegebenheiten unterstrich,
den Kern von Wundern zu entdecken suchte, die dann ihren Bezug in der Bibel fanden.
Vom Alten Zoll, den Rhein entlang, über die
Konrad-Adenauer-Brücke, durch Oberkassel hindurch, fahre ich hinter dem
Ortsende an der Ampel zur Autobahnauffahrt der A59 links. An zwei direkt
hintereinander folgenden Kreisverkehren wird mir fast schwindlig, dann folge
ich der abknickenden Vorfahrt nach rechts in Richtung Oberdollendorf. Sehr
lange, bestimmt zwei bis drei Kilometer fahre ich geradeaus, dann an der großen
Ampel links, wo ich prompt im Zentrum von Oberdollendorf angekommen bin.
Unterhalb der Pfarrkirche St. Laurentius macht die Straße einen Bogen nach
links, dann wieder nach rechts, wobei der steile Anstieg signalisiert, dass ich
mich aus dem Rheintal hinaus bewege. steil nach oben zieht. Kurz darauf beginnt
ein eigener Fahrradweg, während ich immer tiefer in das Siebengebirge
eintauche.
Chorruine Heisterbach (oben links), Denkmal Cäsarius von Heisterbach (oben rechts), Cäsarius zu Füßen des heiligen Benedikt (Handschrift Universitätsbibliothek Düsseldorf; Quelle Wikipedia (unten) |
Nach weiteren drei Kilometern mache ich einen Abstecher
zum Kloster Heisterbach, wo ich kurz über das Klostergelände husche. Der
einzige Überrest der Klosterkirche, die Chorruine, stammt noch aus dem 12.
Jahrhundert, während die Klosterkirche nur noch in ihren Grundrissen dargestellt
ist. Mauerreste und Streifen von Schieferplatten führen ins Mittelalter zurück,
wie riesig die Dimensionen der einstigen Klosterkirche gewesen sein müssen. In
direkter Nähe der Chorruine gelange ich dann zum Denkmal von Cäsarius von Heisterbach,
welches ihm zu Ehren 1897 der Bergische Geschichtsverein im neugotischen Stil
gebaut hat.
Ein kleines Stück spüre ich sein mystisches Gebaren
über dem Klostergelände, das so weitläufig ist, dass sich ein eigenes Projekt
mit der Umgestaltung der Klosterlandschaft befasst hat. Ich drehe zurück zur
Landstraße, die mich weiter hinauf in das Siebengebirge führt. Der Anstieg ist
vergleichsweise harmlos, wenn ich die übrigen Streckenvarianten durch das
Siebengebirge betrachte. Ungefähr im fünf- oder sechstkleinsten Gang arbeite
ich mich vorwärts, während ich einer satten Linkskurve folge und das
Sonnenlicht im Buchenwald untertaucht. Kurz hinter der Einmündung zum Weilberg,
habe ich den Scheitelpunkt erreicht, und die Fahrt geht schwungvoll bergab nach
Heisterbacherrott. Zwischen der Häuserbebauung erspähe ich linkerhand
gelegentlich eine wunderbare Fernsicht in die Köln-Bonner-Bucht.
Dann folgt Thomasberg, und geradeaus geht es erneut
bergab nach Oberpleis. Im Tal fahre ich an der großen Ampel links, hinein in das
Ortszentrum von Oberpleis, an dem Kreisverkehr vor der Kirche St. Pankratius
halte ich mich links. Einhundert Meter
weiter fahre ich halbrechts, wo die Straße kurz den Berg hinunter donnert, bis
sie hinter der nächsten Ampel geradeaus wiederum kräftig ansteigt. Geduldig darf
ich treten, wobei die Stadtgrenze von Königswinter nach Hennef fließend
ineinander übergeht. Auf der Höhe angekommen, gehört Pleiserhohn noch zu
Königswinter, während Westerhausen Hennef zuzuordnen ist.
Ich biege rechts ab in die Ortsmitte von
Westerhausen hinein, wo der verschlungene Straßenverlauf etwas ziellos
verläuft, bis ich den Platz vor der kleinen und putzigen Kirche St. Michael
erreiche. Dass Hennef die Stadt der 99 Dörfer ist, kann ich nicht nachzählen.
Aber am Ortsende von Westerhausen blicke ich in die Weite. Ich biege links ab
nach Lanzenbach, und nun verläuft die schmale Straße mehrere Kilometer über den
Bergrücken. In das Hanfbachtal hinein und über das Hanfbachtal hinweg schaue
ich auf Einzelgehöfte, Häuseransammlungen, die sich zu Dörfern verdichten oder wild
dahin geschmissene weiße Punkte von Häusern, die keine geregelte Ordnung
erkennen lassen. Mit dem temperamentvollen und kurvigen Verlauf ist diese
Nebenstrecke wirklich klasse: eingebettet in dieses frische, frühlingshafte Grün
der Wiesen, umhüllt von weißen Blüten, die in den Baumkronen von Schlehe oder
Weißdorn emporsprießen, angereichert von der Blütenfülle in Obstgärten, radele ich
an Bauernhöfen vorbei, davon sind einige Fachwerkbauten, die sich aus der
strengen Geometrie der Fachwerkbalken zusammenfügen, andere sind Pferdehöfe, die
mit einem Hufeisen über dem Hofeingang gekennzeichnet sind.
Gehöfte und Landschaftseindrücke zwischen Westerhausen und Hennef |
Als ich diese Gehöfte in Hofen verlasse, verstehe
ich, dass die 99 Dörfer auch eine Definitionsfrage sind: Häuser, Höfe, Weiler, Ansiedlungen,
Ortschaften, Dörfer zerstreuen sich über Berg und Tal, unsichtbar verlaufen
Ortsgrenzen in der Landschaft, wer kriegt da die richtige Zuordnung mit der
richtigen Zählweise hin ? Jedenfalls klingen die 99 Dörfer schön, vermutlich
hätten auch 80 oder 120 Dörfer heraus kommen können, je nachdem, wie sich die
Strichliste des Zählenden gefüllt hätte.
Nun strebt die Straße steil bergabwärts ins
Hanfbachtal hinunter. In Lanzenbach halte ich mich links, und ruhig und abseits
jeglicher Zivilisation, geht es auf einem separaten Radweg drei Kilometer
weiter nach Hennef, während der Hanfbach abseits seine Kurven zieht.
Eine Ampel, ein Bahnübergang, ein Kreisverkehr, die
Autobahnauffahrt auf die A560, durch Hennef, das an dieser Stelle an einer
chronischen Verkehrsverstopfung leidet, quäle ich mich hindurch. Von Ruhe und Verträumtheit
der 99 Dörfer ist hier nichts mehr zu spüren.
Hinter der Siegbrücke biege ich an der großen Ampel
nach links ab, wo ich in weitem Bogen das großzügige Anwesen des Schlosses Allner
umkurve, wobei die Straße nach der Abzweigung in Richtung Seligenthal kräftig
ansteigt. Der Anstieg ist giftig, windet sich in Serpentinen hoch, wobei die
Mauern kaum einen Blick auf das Schloss freigeben. Das einzige, was ich
erkenne, ist ein Bluff: Eigentumswohnungen im Stil von langweiligen
Typenhäusern versperren den Blick auf das Schloss, welches, 1420 erstmals
urkundlich erwähnt, unerkannt im unteren Bereich des Schloßparks schlummert.
Radwegkreuze bei Wolperath |
Die Kohle- und Stahlindustrie im Ruhrgebiet liegt
zwar mehr als einhundert Kilometer entfernt, aber hier an der Sieg hatten es
zwei Familien kurz vor der Jahrhundertwende um 1900, heimlich und abgelegen,
geschafft, zwei Imperien von Kohle und Stahl strategisch miteinander zu
verbinden. Wie beim Adel üblich, verschmolzen über Mitgiften und Hochzeiten die
Konzerngebilde von Unternehmen. In Belgien waren in der Umgebung von Lüttich
die Gebrüder Cockerill, die ursprünglich aus England stammten, mit Kohle und
Stahl reich geworden. Im Ruhrgebiet
gehörten den Brüdern Haniel eine Vielzahl von Zechen, Hochöfen und Stahlwerken.
1837 hatte Max Haniel eine Tochter des Stahlunternehmers James Cockerill
geheiratet. Noch tiefer verstrickten sich die Unternehmerfamilien Haniel und
Cockerill, als 1853 der Sohn von James Cockerill, das war Philipp Heinrich
Cockerill, eine der zwölf
Geschwister aus dem Hause Haniel heiratete, das war Thusnelde Emilie. Philipp
Heinrich Cockerill kaufte 1883 das Schloß Allner, und von dort aus reichten
seine langen Arme der Unternehmensführung ins Ruhrgebiet, zur Zeche Zollverein
in Essen, zur Zeche Rheinpreußen in Duisburg oder zur Gutehoffnungshütte in
Oberhausen.
Der Anstieg zieht sich mächtig in die Länge, bis er
in Happerschoß abflacht. Auch Happerschoß ist alt, 1054 wurde die Ortschaft als
„haperscozze“ erstmals in einer Schenkungsurkunde der Königin von Polen an die
Abtei Brauweiler erwähnt. Trotzdem ist der Ortskern kaum mehr als 200 Jahre
alt. Im August 1807 reichte wohl eine kleine Flamme, ein Großfeuer auszulösen. Der
August war sengend heiß und trocken, die Scheunen waren prall gefüllt mit der
Getreideernte, und so manche Bauernhöfe waren nicht mit Dachziegeln, sondern
mit Stroh gedeckt. Das Feuer breitete sich in Windeseile aus, so dass in drei
Stunden 36 Häuser und 22 Scheunen bis auf die Grundmauern abbrannten. Besonders
tragisch war, dass die Pfarrkirche St. Remigius ebenso in der Feuersbrunst
unterging. Die Bewohner von Happerschoß wollten ihre Kirche wieder neu aufbauen
und hatten ordentlich Spenden gesammelt, doch dies scheiterte an der
französischen Besatzung, nachdem das Rheinland von Napoleonischen Truppen
überrollt worden war. Aber dies widersprach dem Konzept der Franzosen, die
Kirchen schließen wollten und mit der Reorganisation der Gemeinden nach dem
Vorbild der Departements in ihrem Heimatland beschäftigt waren. Die Gemeinde
und die Pfarre Happerschoss wurden aufgelöst, so dass sich die Franzosen gegen
einen Kirchenneubau sperrten. Genau elf Jahre lang war Happerschoss ohne
Kirche, bis die Preußen als die neuen Herren im Rheinland die Dinge anders
sahen und den Happerschossern zu ihrer Kirche verhalfen.
Auf und ab geht die Straße zu den nächsten Dörfern,
das sind Heisterschoß, Remschoß und Wolperath. Kurios sind Kreuze am
Straßenrand, die sich in einer Senke vor Wolperath zu einem wahren Aufmarsch
verdichten. „Wo ist mein Radweg ?“ lese ich auf einem dieser Kreuze.
Fahrradfahrer und der Künstler Helmut Bodt haben sich zusammengetan, um auf das
unzureichende Radwegnetz aufmerksam zu machen. Immer wieder hatte sie der
Landesbetrieb Straßenbau NRW vertröstet, auf diesem Streckenabschnitt einen
Radweg zu bauen, wegen der vorläufigen Haushaltsführung und umzusetzender
Haushaltssperren. Dreißig Jahre lang wird mittlerweile diskutiert und
protestiert, während 40 Kreuze die Schwerfälligkeit des bürokratischen Appartes
anprangern.
Neunkirchen, Kreisverkehr (oben) Foto aus den 1950er Jahren (unten) Quelle: Haarhaus/Reinartz, Neunkirchen-Seelscheid, wie es einmal war |
Nun erreiche ich Neunkirchen-Seelscheid, diese
Bindestrich-Gemeinde, die 1969 im Rahmen der kommunalen Neuordnung entstanden
war. Dass vieles platt und etwas uninspiriert aussieht, das erahne ich an der
Betonsäule vor der Firma MTT Logistik. Über den Kreisverkehr, der der
französischen Partnerschaftsstadt Canton-les-Essarts gewidmet ist, geht es dann
ins Ortsinnere des einen Teils der Bindestrich-Gemeinde, das ist Neunkirchen.
Allzu viel bemerkenswertes entdecke ich nicht, dazu ist die schnurgerade
Hauptstraße mit jede Menge Verkehr und Schulbussen, vor denen sich wahre Fluten
von Schülern drängeln, zu dominant.
Wenn ich alte Postkarten aus den 1950er-Jahren
betrachte, scheint der deutliche Anstieg der Einwohnerzahl in den 1970er Jahren
nicht allzu viel von der einst beschaulichen Ortsdurchfahrt übrig gelassen zu
haben. Der Verkehr fließt auf einer breiten Spur samt Fahrradweg, Gehöfte sind
verschwunden, Fachwerkbauten sind eine Ausnahme. Pizzeria, Eiscafé, Bäckerei, Bistrot,
Restaurant, an Einkehrmöglichkeiten mangelt es nicht. So spüle ich meine
anstrengenden drei Anstiege schnell mit einem Weizenbier herunter. Mein
Versuch, in so etwas wie einen historischen Ortskern einzudringen, ist nicht
mit Erfolg gekrönt: eine verschieferte Häuserrückwand an der Schmiedestraße,
ein Raumausstatter, der einen rot-schwarz gepolsterten Stuhl auf dem
Servierteller seines Ladeneingangs präsentiert, eine Buchhandlung in einem
Fachwerkhaus, vor dessen Eingang sich Glyzinien ranken; was alt aussieht, ist
schnell aufgezählt.
Wahnbach |
Dabei ist Neunkirchen durchaus alt und es gibt so
manches Verbindende mit Seelscheid. Das älteste bekannte Dokument, in dem die
Pfarrei Neunkirchen erwähnt wird, stammt aus dem Jahr 1178. Dieses Dokument
schrieb fest, dass das Kölner Sankt-Andreas-Stift gegenüber Neunkirchen das
Zehntrecht besaß. 1398 wurde erstmals „Neunkirchen mit einer Kapelle zu Seelscheid“
genannt, das war in einer Urkunde der Herzöge von Berg, in der die
steuerpflichtigen Dorfschaften aufgezählt wurden. Daraus ergibt sich die etwas
seltsame, aber durchaus gebräuchliche Konstruktion von Abgaben im Mittelalter:
an die Kirche ist der Zehnte der Ernteerträge zu zahlen, an die Grafen und
weltlichen Herrscher waren es zusätzlich Steuern. Beide Ortschaften,
Neunkirchen und auch Seelscheid, sind, wie später nachgewiesen wurde, noch
wesentlich älter. So bewies Ägidius Gelenius 1645 in seiner Schrift „De
admiranda, sacra et civili magnitudine Coloniae Agrippinesis Augustae“, dass das
Zehntrecht bereits im 10. Jahrhundert bestand.
Die Pfarrkirche St. Margaretha, die die Hauptstraße mit
ihrem spitzen Kirchturm einsam überragt, hebt sich von dem glatten
Erscheinungsbild von Neunkirchen grundlegend ab. Glaubt man der alten Sage vom
Dachdecker, so hat sich die Zahl „Neun“ in der Ortsbezeichnung „Nunkirghen“ wie
folgt überliefert: nachdem eben dieser Dachdecker auf die Spitze des Kirchturms
geklettert war und den Wetterhahn montiert hatte, vollendete er sein Werk,
trank oben auf der Kirchturmspitze ein Glas Wein auf das gute Gelingen und
schaute von oben auf die Landschaft herab. Dabei entdeckte er acht Kirchen und
rief den Umstehenden zu: „In allen Richtungen sehe ich zusammen acht Kirchen;
diejenige Kirche, auf der ich stehe, ist die neunte Kirche, deshalb soll der
Ort Neunkirchen heißen !“.
Der Ortsname „Neunkirchen“ hat sich in unserer
Republik durchaus stark verbreitet. Die gleichnamigen Städte – im Saarland,
Siegerland oder am Niederrhein – leiten sich oft aus der Vorsilbe „neu“ ab,
dass in ersten Siedlungen aus der Karolingerzeit „neue“ Kirchen entstanden waren.
Ägidius Gelenius blickt in seiner Schrift aus dem Jahr 1645 noch weiter zurück.
Um 950 schenkte der Kölner Erzbischof dem Kölner St. Andreasstift die Kirche zu
„Nunkirghen“, so dass es eine Vorläuferkirche gegeben haben muss. Solche Vorläuferkirchen
waren oftmals sogenannte Eigenkirchen, das kleine Kapellen in diesen ersten
Siedlungen, in denen die Herrscher das Christentum zu verbreiten suchten.
Aus der Epoche von 1178, in der „Nunkirghen“ erwähnt
wird, haben sich Teile des Chors erhalten, während das Langhaus und der
Kirchturm 1913 abgerissen und neu gebaut wurden, und der Chor überrascht
wiederum mit seinen Decken- und Wandmalereien. 1952 entdeckt, konnte das Alter
der Malereien auf das 12. Jahrhundert datiert werden. Dort erschließen sich die
Bilderwelten aus der Bibel, die die Menschen im Hochmittelalter geprägt haben. Vielleicht
hatte sogar die Jahrtausendwende nachgewirkt, als die Menschen den
Weltuntergang auf sich hatten zukommen sehen. Das Ende der Welt vor den Augen, sind die
Decken im Chor mit den vier apokalyptischen Reitern bemalt, in der Südnische
des Chores mahnt das Jüngste Gericht. Diese Endzeitlehre beschreibt das Buch
der Offenbarung: in der Mitte der Kuppel ist ein Pferd eingekreist, daneben
symbolisieren die vier Reiter die letzten vier Dinge, das sind Tod, Gericht,
Himmel und Hölle.
Ich fahre Neunkirchen wieder hinaus zum Kreisverkehr,
in dessen Mitte das metallene Würfelgestell seltsame Formen annimmt, indem moderne
Kunst mit der hohen Kunst des Gartenbaus kombiniert wird. Ich fahre nach rechts
auf die Bundesstraße B507 in Richtung Lohmar, die schnurgerade ins Tal hinunterstrebt.
Bergab, knickt die Straße einmal nach rechts ab, das zweite Mal bin ich im Tal
des Wahnbachs angelangt und ich biege rechts in das Wahnbachtal in Richtung
Seelscheid ab, während der Wahnbach nach links vor sich her gluckst und bald
den Talsperrenbereich erreicht.
Denkmal Stefan Gruchot |
Versteckt im Wald, zugedeckt durch den Höhenrücken,
kreise ich die regelrecht um die Wahnbachtalsperre herum, ohne sie zu Gesicht zu
bekommen. An dieser Stelle sind es kaum ein paar hundert Meter, dass der
Talsperrensee beginnt. Als sich am 20. Dezember 1956 die Absperrklappen im Damm
schlossen, stauen sich seitdem zwanzig Millionen Liter Wasser, die nun die
Stadt Bonn und weite Teile des Rhein-Sieg-Kreises mit Trinkwasser versorgen.
Höfe und Wassermühlen, teilweise noch aus dem Mittelalter, versanken in den
Wassermassen, ebenso die Wahnbahntalstraße, die 1927 fertiggestellt wurde. In
Zeiten der Hyperinflation, der beginnenden Weltwirtschaftskrise und der
Massenarbeitslosigkeit hatte sich diese Straße aus „Mitteln der produktiven
Erwerbslosenfürsorge“ finanziert.
Von Siegburg aus kommend, sollte die Straße die
unberührten Regionen des Bergischen Landes erschließen. Dass dieser
Streckenabschnitt unberührt und still ist wie in den 1920er Jahren, das
verhindert der einigermaßen lebhafte Autoverkehr. Die landschaftliche Schönheit
stört dies indes nicht. Fette Wiesen erstrecken sich bis zum Waldrand. Alleebäume
werfen kraxelige Schatten mit ihrem vom
Frühling begrünte Geäst auf die Fahrbahn. Im Zickzack bahnt sich der Wahnbach durch
das gemächliche Flußtal seinen Weg.
Bevor ich die nach links abknickende Straße nach
Seelscheid erreiche, erschaudere ich vor einem Gedenkstein am Wegesrand. Ein
mannshoher Findling, in Sandstein gehauen, vergegenwärtigt die Schrecken des
Zweiten Weltkriegs: „Hier starb durch den Strang der Polnische Kriegsgefangene
Stefan Gruchot, geboren am 14.7.1912 in Kozmin“, so mahnt der strenge weiße
Schriftzug. Gruchot gehörte zu sechzig polnischen und russischen
Zwangsarbeitern, die in Neunkirchen-Seelscheid auf Bauernhöfen halfen.
Der Anstieg nach Seelscheid ist eine Tortur. Ich
verlasse die tiefe Kerbe des Wahnbachtals, indem ich mich durch die steile
Hanglage von Wohngebieten hindurch wurstele. An der großen Ampel habe ich
schließlich die Kreuzung mit der Zeithstraße, einer alten Handelsstraße,
erreicht, auf der die heutige Bundesstraße B56 verläuft. Der Ortskern von
Seelscheid grüßt mich mit dem Turm der St. Georgs-Kirche geradeaus. Der Bedeutung
der Nachsilbe „-scheid“ entsprechend, meide ich den Ortskern von Seelscheid und
bleibe auf der Bundesstraße B56. Die Vorsilbe „Seel“ könnte aus dem
altdeutschen Wort „sahl“, was „Burg“ bedeutet, abgeleitet sein. „Scheid“ steht
hier für eine Wasserscheide, denn Seelscheid ist vom Naafbach auf der einen
Seite und vom Wenigerbach auf der anderen Seite umzingelt. Als Rennradfahrer
müsste ich zwei weitere ordentliche Berge bewältigen, worauf ich lieber
verzichte, da mir mittlerweile vier dicke Berge in den Knochen stecken.
Also geht es weiter über die Bundesstraße B56, die
aber gut befahrbar ist auf einem separaten Radweg. Die etwas merkwürdigen
Ortsbezeichnungen „Dorf-Seelscheid“ und „Berg-Seelscheid“, die den Ort in einen
evangelischen und katholischen Teil auseinander dividierten, lasse ich dabei
jenseits des Wenigerbachtales rechts liegen. Anstatt dessen radele ich durch
die nicht weniger kuriose Bezeichnung „Post-Seelscheid“. Den Grund dafür
erkenne ich einen Kilometer weiter, denn dort steht am Straßenrand das Gasthaus
Zollhaus. Der ansprechende Fachwerkbau hat längst bessere Zeiten gesehen: die
Rolläden sind heruntergelassen, Unkraut wuchert in den Ritzen vor dem Eingang,
weiße Farbe blättert zwischen
Fachwerkbalken ab, nur das goldgelbe Reklameschild einer Brauerei aus dem
Sauerland krallt sich felsenfest unter der Regenrinne.
Seelscheid: "Post-Seelscheid" auf der Zeithstraße (oben links) Radweg an der Bundesstraße B56 (oben rechts) Altes Zollhaus (unten) |
Dieser Fachwerkbau war einst mehr Poststation als
Zollstation. Man schrieb das Jahr 1705, als der Kurfürst Johann Wilhelm II., in
Düsseldorf besser bekannt als „Jan Wellem“, eine Postlinie von Köln-Mülheim
nach Siegen eröffnete. Aus heutiger Sicht ist das kaum zu glauben, dass der
rechtsrheinische Kölner Stadtteil Mülheim von Düsseldorf aus regiert wurde und
dass von dort aus eine Postlinie in das Bergische Land betrieben wurde. In
Zeiten, in denen Reiter und Pferdefuhrwerke dem schlecht zurecht geflickten
Wegenetz samt Wegelagerern trotzen mussten, war die Ankunft am Ziel oft
Glückssache. So beschränkte sich die Postlinie auf die Beförderung von Personen
und Gütern. Es wurden auch Briefe mitgenommen, wenn man dem Postillon für alle
Gefahren und Widrigkeiten ein Trinkgeld spendierte. Damit ist diese Postlinie, die
ab 1774 ein öffentliches Netz einführte, sogar älter als die
Thurn-und-Taxis’schen Postlinien, einschließlich der Beförderung von Briefen.
Die Strecke von Köln-Mülheim zum Seelscheider
Zollhaus umfasste dann einen Tagesritt. Zu diesen Zeiten muss es in dem
Zollhaus wie in einem Taubenschlag zugegangen sein. Fuhrleute übernachteten,
die Pferde ruhten sich in Ställen aus, umzuladendes Frachtgut konnte
zwischengelagert werden. An so manchen Abenden durften die Fuhrleute lange
zusammen gesessen haben, es dürfte hoch her gegangen sein und Bier und Wein
sind wahrscheinlich in rauen Mengen geflossen.
Die Zeiten änderten sich mit einer besseren Befestigung
der Straßen, gleichzeitig koordinierte das Königliche Preußische Generalpostamt
ab 1816 den Betrieb von Postlinien. So wurde 1861 die Zeithstraße zwischen
Siegburg und Much, dem Verlauf der heutigen Bundesstraße B56 entsprechend,
ausgebaut, so dass einmal täglich eine Postkutsche fuhr, die auch Briefe und
Pakete beförderte. Dabei verlegte die Oberpostdirektion Köln den Haltepunkt in
die Richtung von Seelscheid, das war ungefähr auf der Höhe der Ortsteile
„Dorf-Seelscheid“ und „Berg-Seelscheid“. Auf der Zeithstraße gesellte sich nun
der neue Ortsteil „Post-Seelscheid“ hinzu.
Straßenschild nach Lohmar |
Hinter dem Zollhaus radele ich weiter über den
bequem ausgebauten Radweg, doch urplötzlich endet der Radweg ohne Ankündigung mitten
im Straßengraben. Einen vielleicht fünf Zentimeter breiten Streifen haben die
Radwegbauer den Fahrradfahrern übrig gelassen, der im Neunzig-Grad-Winkel nach
links wegknickt, um zur Bundesstraße B56 zurück zu gelangen. Übergangsweise
mische ich mich unter den ganzen Autoverkehr, bevor ich an der nächsten großen
Kreuzung auf die Bundesstraße B507 nach rechts abbiege, dann wieder links in
Richtung Lohmar.
Das nächste Schild „Deutsche Alleenstraße Richtung
Rösrath“ weist mich wieder einmal in die Irre, denn von einer schattigen,
Straßen-überspannenden Allee aus alten Baumbeständen habe ich kaum etwas
gesehen. „Das Programm Deutsche Alleenstraße bringt Tourismus, Verkehr und
Umwelt zusammen", so äußerte sich der NRW-Verkehrsminister bei der
Eröffnung im Jahr 2009. Die Idee der „Deutschen Alleenstraße“, dessen Wurzeln
in den Neuen Bundesländern mit wirklich alten Baumalleen zu suchen sind, wurde
2009 über Dortmund, sozusagen als Spätgeburt der deutschen Wiedervereinigung,
entlang der Bergischen Heideterrasse über Neunkirchen-Seelscheid bis nach Bad
Honnef verlängert.
In der Tat, muss ich mir die Bruchstücke von
Baumalleen, die ich auf dieser Rennradtour gesehen habe, verzweifelt
zusammensuchen. Ja, die paar Kilometer auf der Wahnbachtalstraße waren
Baumalleen nicht zu übersehen. Und der Rest ? Wie auf der Strecke nach
Neunkirchen blicke ich zwar allenthalben auf diese Hinweisschilder der
Deutschen Alleenstraße, aber Bäume am Straßenrand reduzieren sich auf
Einzelerscheinungen. In der Summenbetrachtung scheinen Baumalleen eher ein
Hirngespinst von Tourismusmanagern zu sein.
Dennoch: die Abfahrt auf der Bundesstraße B507 ins
Tal nach Lohmar begeistert. Gemächlich und breit ist der Seitenstreifen, auf
dem ich mühelos hinunter rollen kann. Erst klettern Wiesen die Höhen hinauf, Baumreihen
fallen in Seitentäler hinab, Rapsfelder
bestechen mit ihrem satten Gelb, später drängelt sich der Mischwald bis an den
Straßenrand.
Die Anfahrt endet in Lohmar. Vor der
Autobahnauffahrt halte ich mich links, an der Ampel vor der großen Kreuzung zur
Autobahnauffahrt A3 lande ich auf der alten Ortsdurchfahrt von Lohmar, bevor
die Umgehungsstraße gebaut wurde. Jedesmal demotiviert mich Lohmar, so viel
haben die Planer an der Stadt herum gewurstelt und diese verunstaltet. Ich
fahre einmal quer durch Lohmar, folge den Hinweisschildern in Richtung
Troisdorf und biege an dem letzten Kreisverkehr, an dem ich geradeaus auf LIDL
und Kaufland schauen kann, nach rechts ab.
Bevor mich die letzte Steigung durch die Wahner
Heide schafft, tanke ich am Alten Fährhaus vor der Agger mit einem Weizenbier
auf. Das erfrischt und bringt meine müden Beine wieder auf Trab, der Fluglärm
kann die idyllische Lage an der Agger nicht stören. Dann fahre ich weiter über
die Agger, dann zweimal links in Richtung Troisdorf, wo die Steigung abflacht,
vorbei an Sand, Heide und Kiefern, weiter geradeaus nach Troisdorf hinein.
Strecke (73 Kilometer):
Lieber Dieter,
AntwortenLöschenfür mich war das wieder eine Mammuttour. Wunderschöne Fotos und
deine Beschreibungen sind immer wieder große Klasse.
Einen guten Wochenstart wünscht Dir
Irmi
Liebe Irmi, du sagst es! Mir reichen schon Dieters Berichte, um einen Muskelkater zu bekommen.
LöschenDaumen hoch für deine Touren - herrliche Aufnahmen - eine wirklich großartige Strecke!! LG Martina
jetzt bin ich gleich am Anfang am Kloster Heisterbach hängen geblieben ... und habe gegoogelt :-)
AntwortenLöschenist immer wieder interessant bei dir.
Herzliche Grüße von Heidi-Trollspecht