an der Hoegne |
Ein eher bescheidener Urlaub in diesem Jahr, doch
die abgespeckte Version kam mir Recht. Ich bevorzuge die stille Variante des
Reisens. Grenzüberschreitend, mache ich mit dem Auto einen Streifzug durch das
Städtedreieck Aachen-Maastricht-Lüttich. Morgens Maastricht, mittags zufälliger
Abstecher nach Moelingen / Belgien, das die Ereignisse im August 1914 Revue
passieren läßt, nachmittags Theux. In wilden Kurven jagt die Autobahn an
Verviers vorbei. Eingequetscht im Tal, nehme ich wie sonst Verviers als eine
düstere Ansammlung von Häusern wahr. Wie in einem Befreiungsschlag, schiebt
sich danach die Autobahn steil hinauf. Theux, an der nächsten Abfahrt verlasse
ich die Autobahn. Ich war noch nie in Theux, eine spontane Entdeckungsreise im
Kleinen. Als gerader Strich purzelt die
Straße mit 10% Gefälle ins Tal hinab. Ich erlebe die Ardennen als ein
entfesseltes Auf und Ab, mit Höhen und Tiefen, Verstecken und Schlupfwinkeln in
den Wäldern, vor denen bereits Cäsar Respekt hatte. „Arduenna silva“ beschreibt
er die Wälder in seinem Gallischen Krieg. Die Römer schafften es kaum, die
Gallier in den Wäldern der Ardennen entscheidend zu besiegen, so dass in Belgien
nur zwei Römerstädte Fuß fassen konnten: Tongeren in Limburg und Arlon nahe der
luxemburgischen Grenze. Andere städtische Ansiedlungen waren mehr gallisch als
römisch, um Gutshöfe drumherum entwickelten sich Ortskerne. Eine dieser
galloromanischen Siedlungen befand sich in Theux.
Kirche St. Hermes-et-Alexandre |
Ohne es geahnt zu haben, bin ich in einem
geschichtsträchtigen Ort gelandet. Auf einer Steinbrücke überquere ich den Fluß
„Hoegne“, der bereits in der Steinzeit besiedelt war, das belegen Funde von
Pfeilspitzen. Die Einbahnstraße führt mich am Ortskern vorbei, ich parke.
Ich genieße, Dinge zu tun, die einfach sind. Alles
ist hier übersichtlich und sauber sortiert. Burg oder Kirche ? Eine Turm, der
zu einer Stadtbefestigung gehören könnte, schiebt das Kirchenschiff nach hinten.
Die Komposition überrascht in der Tat, wobei St. Hermes-et-Alexandre
eineindeutig eine Kirche ist. Und dies mit einem beachtlichen Alter, denn die
Kirche wurde, so wie sie aussieht, 1091 erbaut. Unter der Kirche wurde sogar
eine merowingische Kapelle aus der Zeit vom 4. bis 7. Jahrhundert gefunden.
Unkonventionell, einfach und klar strukturiert geht
es auch gegenüber der Kirche St. Hermes-et-Alexandre zu. Ich muss genau
hinsehen, wenn ich auf das Kriegerdenkmal schaue, das nicht nur die beiden Weltkriege
mit den Jahreszahlen 1914/18 und 1940/45 aufzählt, sondern gleichrangig die
Jahreszahl 1468. Auge in Auge bewegen sich ein Soldat mit Stahlhelm und ein
Ritter mit Schwert, vereinigt durch das Wappen der Stadt Lüttich. Lüttich und
Theux, über die Burg Franchimont, am Ortsausgang von Theux gelegen, verbanden
sich die Schicksale der großen Stadt der Fürstbischöfe und der kleinen
Provinzstadt. Die Fürstbischöfe hatten ihre Burg in Franchimont gebaut, die den
Fürstbischöfen wiederum die Feinde vom Hals hielt. 1468 überfiel Karl der
Kühne, Herzog von Burgund, Lüttich. 600 Ritter aus Franchimont ritten nach
Lüttich, um zu helfen, doch sie wurden dort allesamt vernichtend geschlagen.
Nach ihrem Anführer, Vincent de Bueren, ist heute in Lüttich eine monumentale
Treppe benannt worden, die 600 Treppenstufen für die 600 Ritter zählt.
Das Ortsbild von Theux dominieren Häuser aus grauem
Kalkstein, deren Quader sich zu massiven Mauern zusammenfügen, rostroten
Ziegelsteinfassaden, an denen bisweilen Elektroleitungen in luftiger Höhe
schweben, und weißgestrichene Fenster, deren Form der Umrandung zwar wechselt, aber
die Steinblöcke erscheinen stets in einem strengen grauen Ton. Natürlich dürfen
im Ortskern die üblichen Geschäfte nicht fehlen. Wenn ich denn Lust hätte,
könnte ich bei „Fleurs Vilvorder“ Blumen kaufen, „Coiffure Michelle“ könnte mir einen neuen
Haarschnitt verpassen, beim Makler „Gilles“ könnte ich mich über das
Immobilienangebot schlau machen.
Häuser in Theux (oben), Rathaus (unten) |
Ich passiere das Rathaus, das 1771 der Architekt
Barthélémy Digneffe aus Lüttich entworfen hat. An weiteren Rathäusern und
Kirchen hat er in der Provinz Lüttich den Stil des Klassizismus verewigt. In
einem Dreieck zum Rathaus, betont der Marktplatz klare Strukturen. Und auf der Mitte
des Marktplatzes spüre ich, wie eng Theux mit Lüttich verbunden ist, denn in
beiden Städten steht ein sogenannter Perron. Treppenstufen führen hinauf zu
dieser grauen und schmalen steinernen Säule, das eiserne Kreuz erstarrt oben zum Symbol.
Wie eng Theux mit den Lütticher Fürstbischöfen
verflochten ist, zeigt dieser Perron. Um seine Ursprünge ranken sich diverse
Mythen, so soll er eine heidnische Kultstätte der Kelten gewesen sein. Klarer
ist seine Wortentstehung aus dem Lateinischen: „petra“ bedeutet Stein, und alle
Perrons sind Säulen aus Stein. In Lüttich entstand der Perron im 13.
Jahrhundert, nachdem Lüttich eine eigene Stadt mit eigenen Stadtrechten
geworden war. Er wurde an einer Stelle aufgestellt, an dem die Gesetze bekannt
gegeben wurden, er verkörperte die Autorität und die Autonomie der Stadt,
später wurde er zum Sinnbild für Freiheit. So findet sich der Perron heutzutage
im Wappen der Stadt Lüttich wieder, begleitet von den Buchstaben „L“ und „G“.
Diese stehen für „libertas gentes“, was „Freiheit des Volkes“ bedeutet.
Perron |
1457 schenkte Lüttich den Bürgern von Theux für ihre
Dienste der Verteidigung der Freiheiten des Fürstbistums einen Perron. Theux
erhielt den Ehrentitel einer „bonne ville“, es bekam dieselben Rechte und
kommunalen Freiheiten wie die Stadt der Fürstbischöfe. Die Säule steht für die
weltliche Macht, das Kreuz für die kirchliche Macht. Natürlich findet man auch
in deutschen Städten solche Symbole städtischer Freiheit: in Bonn ist es beispielsweise
die Säule mit dem Löwen, in Bremen der Roland vor dem Rathaus.
Der Freiheitsgedanke hat die Provinz Lüttich aber
noch ein Stück weiter durchdrungen. 1468 hat Karl der Kühne, nachdem die Ritter
aus Franchimont vernichtend geschlagen worden waren, den Perron in Theux platt
gemacht. 1477 starb Karl der Kühne, und sein Erbe Louis de Bourbon verlieh
Lüttich wieder die Rechte eines eigenständigen Fürstentums, 1478 wurde der
Perron in Theux wieder neu aufgebaut, Mitte des 18. Jahrhunderts war der Perron
so stark verwittert, dass er nochmals durch einen neuen ersetzt wurde.
Ein neuer Schub von Freiheit kam mit der französischen
Revolution 1789, die in Belgien komplett anders einschlug als in Deutschland,
nämlich nur einen Monat später als in Frankreich, am 18. August 1789. Nachdem
die Bastille in Paris gestürmt worden war, wiederholte sich ähnliches in
Lüttich. Die Ernte drohte schlecht auszufallen, die Last der Steuern war für
den Dritten Stand unerträglich, wesentliche Teile der städtischen Verfassung
stammten noch aus dem Jahr 1386, die Fürstbischöfe übten einen
verschwenderischen Lebensstil. Die Bürger von Lüttich protestierten, sie
stürmten die Zitadelle, die Fürstbischöfe verließen die Stadt und flohen nach
Trier. Truppen aus Kurköln, der Kurpfalz und Preußen marschierten ein, um den
alten Zustand wiederherzustellen. Doch sie mussten mit Frankreich verhandeln,
sie durften nur das Umland von Lüttich besetzen. Und dies unter der Bedingung,
dass sie den Druck und die Verbreitung der revolutionären Schriften aus
Frankreich dulden mussten.
Stadtwappen von Lüttich |
Da Lüttich und Theux eng miteinander vernetzt waren,
war es selbstverständlich, dass die Ideen der französischen Revolution nach
Theux gelangten. Abgeordnete tagten vom 26. August 1789 bis zum 23. Januar 1791
in Theux. Am 16. September formulierten sie eine eigene Menschen- und
Bürgerrechtserklärung, die noch weiter ging als diejenige in Frankreich, da der
Dritte Stand und die Bevölkerung auf dem Land mit einem höheren Anteil in der
Nationalversammlung vertreten sein sollte.
Diese Menschen- und Bürgerrechtserklärung kann ich
auf einer Bodenplatte am Fuße des Rathauses nachlesen:
„Tous les hommes
naissent et demeurent libres et egaux en droits, les distinctions sociales ne
peuvent être fondées que sur l’utilité commune. »
Auf deutsch :
« alle Menschen werden frei geboren und bleiben
frei mit den gleichen Rechten; unterschiedliche soziale Schichten begründen
einen gemeinsamen Nutzen für die Gesellschaft.“
Zufrieden stelle ich fest, dass meine spontane
Entdeckungsreise im Kleinen sich zu bewegenden Themenkomplexen entwickelt hat. Steinzeit,
gallorömische Siedlung, merowingische Kultstätte, karolingische Kirche, die Verbindung mit Lüttich, ein
Perron, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Ich bin geradezu erschlagen,
welche Masse der geschichsträchtige Ort Theux zu bieten hat. Das hat sich
gelohnt.
An der Friterie „Chez Alain – le petit chef“ lasse
ich meinen Aufenthalt ausklingen. Fritten aus frischen Kartoffeln, wie es sie
nur in Belgien gibt.
Friterie Chez Alain |
Danke, dass du uns mitgenommen hast auf deine Reise - es hat mir unglaublich gut gefallen!
AntwortenLöschenLG Martina
Diese Region noch nie besucht fand ich es sehr interessant und schön. Danke dir dass wir dich "begleiten" durften und für die viele Information.
AntwortenLöschenSchönes Wochenende und herzliche Grüsse
N☼va
Lieber Dieter,
AntwortenLöschendie Häuser in Theux gefallen mir sehr - und es hat mir Spaß bereitet, von dir duch diesen geschichtsträchtigen Ort geführt zu werden.
Alles Liebe und ein schönes Wochenende, Traude
☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼
Dank je wel voor je uitgebreide blog! Ik hou er van!
AntwortenLöschenich habe deinen Reisebericht auch sehr gerne gelesen. Ist - wie immer bei dir - sehr interessant!
AntwortenLöschenLieber Sonntagsgruß von Heidi-Trollspecht