Freitag, 8. August 2014

Rundgang durch Theux / Belgien

an der Hoegne
Ein eher bescheidener Urlaub in diesem Jahr, doch die abgespeckte Version kam mir Recht. Ich bevorzuge die stille Variante des Reisens. Grenzüberschreitend, mache ich mit dem Auto einen Streifzug durch das Städtedreieck Aachen-Maastricht-Lüttich. Morgens Maastricht, mittags zufälliger Abstecher nach Moelingen / Belgien, das die Ereignisse im August 1914 Revue passieren läßt, nachmittags Theux. In wilden Kurven jagt die Autobahn an Verviers vorbei. Eingequetscht im Tal, nehme ich wie sonst Verviers als eine düstere Ansammlung von Häusern wahr. Wie in einem Befreiungsschlag, schiebt sich danach die Autobahn steil hinauf. Theux, an der nächsten Abfahrt verlasse ich die Autobahn. Ich war noch nie in Theux, eine spontane Entdeckungsreise im Kleinen.  Als gerader Strich purzelt die Straße mit 10% Gefälle ins Tal hinab. Ich erlebe die Ardennen als ein entfesseltes Auf und Ab, mit Höhen und Tiefen, Verstecken und Schlupfwinkeln in den Wäldern, vor denen bereits Cäsar Respekt hatte. „Arduenna silva“ beschreibt er die Wälder in seinem Gallischen Krieg. Die Römer schafften es kaum, die Gallier in den Wäldern der Ardennen entscheidend zu besiegen, so dass in Belgien nur zwei Römerstädte Fuß fassen konnten: Tongeren in Limburg und Arlon nahe der luxemburgischen Grenze. Andere städtische Ansiedlungen waren mehr gallisch als römisch, um Gutshöfe drumherum entwickelten sich Ortskerne. Eine dieser galloromanischen Siedlungen befand sich in Theux.

Kirche St. Hermes-et-Alexandre
Ohne es geahnt zu haben, bin ich in einem geschichtsträchtigen Ort gelandet. Auf einer Steinbrücke überquere ich den Fluß „Hoegne“, der bereits in der Steinzeit besiedelt war, das belegen Funde von Pfeilspitzen. Die Einbahnstraße führt mich am Ortskern vorbei, ich parke.

Ich genieße, Dinge zu tun, die einfach sind. Alles ist hier übersichtlich und sauber sortiert. Burg oder Kirche ? Eine Turm, der zu einer Stadtbefestigung gehören könnte, schiebt das Kirchenschiff nach hinten. Die Komposition überrascht in der Tat, wobei St. Hermes-et-Alexandre eineindeutig eine Kirche ist. Und dies mit einem beachtlichen Alter, denn die Kirche wurde, so wie sie aussieht, 1091 erbaut. Unter der Kirche wurde sogar eine merowingische Kapelle aus der Zeit vom 4. bis 7. Jahrhundert gefunden.

Unkonventionell, einfach und klar strukturiert geht es auch gegenüber der Kirche St. Hermes-et-Alexandre zu. Ich muss genau hinsehen, wenn ich auf das Kriegerdenkmal schaue, das nicht nur die beiden Weltkriege mit den Jahreszahlen 1914/18 und 1940/45 aufzählt, sondern gleichrangig die Jahreszahl 1468. Auge in Auge bewegen sich ein Soldat mit Stahlhelm und ein Ritter mit Schwert, vereinigt durch das Wappen der Stadt Lüttich. Lüttich und Theux, über die Burg Franchimont, am Ortsausgang von Theux gelegen, verbanden sich die Schicksale der großen Stadt der Fürstbischöfe und der kleinen Provinzstadt. Die Fürstbischöfe hatten ihre Burg in Franchimont gebaut, die den Fürstbischöfen wiederum die Feinde vom Hals hielt. 1468 überfiel Karl der Kühne, Herzog von Burgund, Lüttich. 600 Ritter aus Franchimont ritten nach Lüttich, um zu helfen, doch sie wurden dort allesamt vernichtend geschlagen. Nach ihrem Anführer, Vincent de Bueren, ist heute in Lüttich eine monumentale Treppe benannt worden, die 600 Treppenstufen für die 600 Ritter zählt.

Das Ortsbild von Theux dominieren Häuser aus grauem Kalkstein, deren Quader sich zu massiven Mauern zusammenfügen, rostroten Ziegelsteinfassaden, an denen bisweilen Elektroleitungen in luftiger Höhe schweben, und weißgestrichene Fenster, deren Form der Umrandung zwar wechselt, aber die Steinblöcke erscheinen stets in einem strengen grauen Ton. Natürlich dürfen im Ortskern die üblichen Geschäfte nicht fehlen. Wenn ich denn Lust hätte, könnte ich bei „Fleurs Vilvorder“ Blumen kaufen,  „Coiffure Michelle“ könnte mir einen neuen Haarschnitt verpassen, beim Makler „Gilles“ könnte ich mich über das Immobilienangebot schlau machen.


Häuser in Theux (oben), Rathaus (unten)
Ich passiere das Rathaus, das 1771 der Architekt Barthélémy Digneffe aus Lüttich entworfen hat. An weiteren Rathäusern und Kirchen hat er in der Provinz Lüttich den Stil des Klassizismus verewigt. In einem Dreieck zum Rathaus, betont der Marktplatz klare Strukturen. Und auf der Mitte des Marktplatzes spüre ich, wie eng Theux mit Lüttich verbunden ist, denn in beiden Städten steht ein sogenannter Perron. Treppenstufen führen hinauf zu dieser grauen und schmalen steinernen Säule, das eiserne Kreuz erstarrt oben zum Symbol.

Wie eng Theux mit den Lütticher Fürstbischöfen verflochten ist, zeigt dieser Perron. Um seine Ursprünge ranken sich diverse Mythen, so soll er eine heidnische Kultstätte der Kelten gewesen sein. Klarer ist seine Wortentstehung aus dem Lateinischen: „petra“ bedeutet Stein, und alle Perrons sind Säulen aus Stein. In Lüttich entstand der Perron im 13. Jahrhundert, nachdem Lüttich eine eigene Stadt mit eigenen Stadtrechten geworden war. Er wurde an einer Stelle aufgestellt, an dem die Gesetze bekannt gegeben wurden, er verkörperte die Autorität und die Autonomie der Stadt, später wurde er zum Sinnbild für Freiheit. So findet sich der Perron heutzutage im Wappen der Stadt Lüttich wieder, begleitet von den Buchstaben „L“ und „G“. Diese stehen für „libertas gentes“, was „Freiheit des Volkes“ bedeutet.

Perron
1457 schenkte Lüttich den Bürgern von Theux für ihre Dienste der Verteidigung der Freiheiten des Fürstbistums einen Perron. Theux erhielt den Ehrentitel einer „bonne ville“, es bekam dieselben Rechte und kommunalen Freiheiten wie die Stadt der Fürstbischöfe. Die Säule steht für die weltliche Macht, das Kreuz für die kirchliche Macht. Natürlich findet man auch in deutschen Städten solche Symbole städtischer Freiheit: in Bonn ist es beispielsweise die Säule mit dem Löwen, in Bremen der Roland vor dem Rathaus.

Der Freiheitsgedanke hat die Provinz Lüttich aber noch ein Stück weiter durchdrungen. 1468 hat Karl der Kühne, nachdem die Ritter aus Franchimont vernichtend geschlagen worden waren, den Perron in Theux platt gemacht. 1477 starb Karl der Kühne, und sein Erbe Louis de Bourbon verlieh Lüttich wieder die Rechte eines eigenständigen Fürstentums, 1478 wurde der Perron in Theux wieder neu aufgebaut, Mitte des 18. Jahrhunderts war der Perron so stark verwittert, dass er nochmals durch einen neuen ersetzt wurde.

Ein neuer Schub von Freiheit kam mit der französischen Revolution 1789, die in Belgien komplett anders einschlug als in Deutschland, nämlich nur einen Monat später als in Frankreich, am 18. August 1789. Nachdem die Bastille in Paris gestürmt worden war, wiederholte sich ähnliches in Lüttich. Die Ernte drohte schlecht auszufallen, die Last der Steuern war für den Dritten Stand unerträglich, wesentliche Teile der städtischen Verfassung stammten noch aus dem Jahr 1386, die Fürstbischöfe übten einen verschwenderischen Lebensstil. Die Bürger von Lüttich protestierten, sie stürmten die Zitadelle, die Fürstbischöfe verließen die Stadt und flohen nach Trier. Truppen aus Kurköln, der Kurpfalz und Preußen marschierten ein, um den alten Zustand wiederherzustellen. Doch sie mussten mit Frankreich verhandeln, sie durften nur das Umland von Lüttich besetzen. Und dies unter der Bedingung, dass sie den Druck und die Verbreitung der revolutionären Schriften aus Frankreich dulden mussten.

Stadtwappen von Lüttich
Da Lüttich und Theux eng miteinander vernetzt waren, war es selbstverständlich, dass die Ideen der französischen Revolution nach Theux gelangten. Abgeordnete tagten vom 26. August 1789 bis zum 23. Januar 1791 in Theux. Am 16. September formulierten sie eine eigene Menschen- und Bürgerrechtserklärung, die noch weiter ging als diejenige in Frankreich, da der Dritte Stand und die Bevölkerung auf dem Land mit einem höheren Anteil in der Nationalversammlung vertreten sein sollte.

Diese Menschen- und Bürgerrechtserklärung kann ich auf einer Bodenplatte am Fuße des Rathauses nachlesen:

„Tous les hommes naissent et demeurent libres et egaux en droits, les distinctions sociales ne peuvent être fondées que sur l’utilité commune. »
Auf deutsch :
« alle Menschen werden frei geboren und bleiben frei mit den gleichen Rechten; unterschiedliche soziale Schichten begründen einen gemeinsamen Nutzen für die Gesellschaft.“

Zufrieden stelle ich fest, dass meine spontane Entdeckungsreise im Kleinen sich zu bewegenden Themenkomplexen entwickelt hat. Steinzeit, gallorömische Siedlung, merowingische Kultstätte, karolingische Kirche, die Verbindung mit Lüttich, ein Perron, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Ich bin geradezu erschlagen, welche Masse der geschichsträchtige Ort Theux zu bieten hat. Das hat sich gelohnt.

An der Friterie „Chez Alain – le petit chef“ lasse ich meinen Aufenthalt ausklingen. Fritten aus frischen Kartoffeln, wie es sie nur in Belgien gibt.

Friterie Chez Alain

5 Kommentare:

  1. Danke, dass du uns mitgenommen hast auf deine Reise - es hat mir unglaublich gut gefallen!
    LG Martina

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  2. Diese Region noch nie besucht fand ich es sehr interessant und schön. Danke dir dass wir dich "begleiten" durften und für die viele Information.

    Schönes Wochenende und herzliche Grüsse

    N☼va

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  3. Lieber Dieter,
    die Häuser in Theux gefallen mir sehr - und es hat mir Spaß bereitet, von dir duch diesen geschichtsträchtigen Ort geführt zu werden.
    Alles Liebe und ein schönes Wochenende, Traude
    ☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼☼

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  4. Dank je wel voor je uitgebreide blog! Ik hou er van!

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  5. ich habe deinen Reisebericht auch sehr gerne gelesen. Ist - wie immer bei dir - sehr interessant!

    Lieber Sonntagsgruß von Heidi-Trollspecht

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