Dienstag, 27. Dezember 2011

trauriges Weihnachtsfest


Es war eine der letzten Erledigungen vor Geschäftsschluss. Kurz vor 12 Uhr machte sich meine Frau an Heiligabend auf dem Weg zu einem Modeladen im Zentrum unseres Ortes. Sie wollte einer früheren Klassenkameradin, die Inhaberin des Modeladens ist, ein frohes Weihnachtsfest wünschen. Das Schicksal hatte sie hart getroffen. Im Frühjahr hatte sich ihr Mann von ihr getrennt. Im August war dann ihr Sohn im Alter von 28 Jahren tödlich verunglückt.

Unscheinbar dämmerte der Modeladen im Schatten der Gebäudefront eines Imbisses vor sich her. Kleiderständer vor dem Schaufenster signalisierten, dass der Modeladen noch geöffnet war.

Im Laden kauerte zwischen Ständern von Strickpullovern und Sweat-Shirts die ehemalige Klassenkameradin meiner Frau: Manuela. Sie war dunkel gekleidet wie das Wetter. Das Regengebiet, welches am Morgen durchgezogen war, war draußen nahtlos übergegangen in eine graue, kompakte Wolkenmasse.

„Hallo Manuela“.
Dürr und bleich sah sie aus. Regungslos begrüßte sie meine Frau. Ihre Gestalt war wie ausgemergelt und sie hockte da wie ein Häufchen Elend.

Wie ihr Sohn verunglückt war, war ominös. Er hatte in Essen studiert, als Hobby-Fotograf wollte er auf der Zeche Zollverein Fotos machen. Der Unfall geschah beim Fotografieren, als er etwa zehn Meter von einer Eisenbahnbrücke hinab gestürzt war. Mein Schwiegervater kommt ursprünglich aus dem Ruhrgebiet und er kennt die Zeche Zollverein. Wir konnten uns nicht erklären, wieso er beim Fotografieren auf eine Eisenbahnbrücke klettern musste und wieso er eine solche gefährliche Stelle nicht gemieden hatte.

„Frohe Weihnachten.“
„So lange ich im Laden bin, geht es einigermaßen. Aber wenn ich zu Hause bin, das ist schrecklich …“

Sie erzählte, dass ihr Essrhythmus und ihr Hungergefühl dauerhaft durcheinander geraten waren. Ihre Gedanken kreisten umher und suchten nach Halt, den sie ein bisschen in ihrem Geschäft und ein bisschen bei ihrer Tochter fand, die als Verkäuferin in einer Bäckerei arbeitete und noch bei ihr wohnte. Sonst war es gespenstisch, wie ihre Gedanken in einem Nichts herum stocherten, welches ein erloschenes Leben hinterlassen hatte.

„Zuletzt bin ich 5 Uhr Morgens aufgewacht. Das kannte ich gar nicht mehr, da hatte ich nämlich Hunger. Mitten in der Nacht habe ich Brote geschmiert und drauflos gegessen.“

Eigentlich war sie als End-Vierzigerin noch sehr hübsch und hatte ein Stück ihrer Jugend bewahrt. Ihr schwarzes Haar fiel in Locken herunter und unterstrich ihre Weiblichkeit. Doch die Sorgenfalten drückten. Ränder hatten sich tief unter die Augen gegraben. Hände griffen verstört ins Leere.

„Wenn ich gleich nach Hause komme, habe ich noch etwas zum Bügeln da. “
Sie rang nach Betätigung, um diesem Nichts zu entrinnen. Meine Frau schwieg. Wie hätte sie denn ein Gespräch in Gang bringen können ? Sie hatte schlichtweg Angst, dass sie etwas falsches sagen könnte. Dass ein einziges falsches Wort Manuela gleich aus der Bahn werfen könnte, dass alles herausplatzen würde und sie in Tränen ausbrechen könnte. Die Situation war schlimm und grotesk, nicht helfen zu können, allenfalls zusehen zu können, vielleicht durch die Anwesenheit ein bisschen Beistand leisten zu können.

„Heute Abend bin ich mit meiner Tochter bei meiner Mutter.“
Das war wenigstens ein Stückchen Heiligabend. Gemeinsam mit ihrer Tochter, ihrer Mutter und möglicherweise auch ihren Geschwistern.

„Und dann ?“
Am 1. und 2. Weihnachtstag drohte der endgültige Zusammenbruch. Da war diese schreckliche Leere zu Hause,  alles drohte in einen Abgrund zu stürzen. Niemand war mehr da. Die Hoffnungslosigkeit wollte kein Ende nehmen. Wie sollte es weiter gehen ?

„Frohe Weihnachten.“
Meine Frau musste wieder nach Hause zurück. Der Abschied war kurz, Manuelas Arme klammerten sich verzweifelt an meiner Frau. Den Tränen war sie nahe, doch sie riss sich zusammen, biss auf die Zähne und irgendwie schaffte sie noch, ihre Haltung zu bewahren.

3 Kommentare:

  1. Wie schrecklich......das Unglück macht vor niemanden halt,das sollte uns allen bewusst sein.Essen ist meine Geburtsstadt ,ich habe fast neben der Zeche Zollverein gelebt.Dort hat mein Opa sowie meine Onkels gearbeitet.
    LG
    Nicole

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  2. Hallo,

    oh wietraurig, ja, das Schiksal macht vor nichts und niemandem halt. Wir müssen es nehmen, wie es kommt und wenn es uns das Herz fast rausreißt.

    LG

    Barbara

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  3. Lieber Dieter,

    es ist alles sehr traurig.
    Mutter, Tochter und Geschwister müssten sich
    um die Frau kümmern.

    Liebe Grüße
    Elisabeth

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