Dass so viele Menschen das Ahrtal stürmen würden, hätte ich nicht für möglich gehalten. Früher, das ist sieben bis acht Jahr her, sind wir regelmäßig zur Herbstzeit den Rotweinwanderweg gewandert. Allenthalben waren wir Wanderern und anderen Genießern des Herbstes begegnet. Aber heute ?
Mit der Parkplatzsuche fing es an. An der Einmündung hinter der Römervilla, ungefähr einen Kilometer von Ahrweiler entfernt, war kein Platz mehr frei. Alles war zugeparkt bis zum Rand der Weinberge. Hoch oben, den Berghang hinauf, auf einer Art von Plateau, waren schließlich noch eine Handvoll Parkplätze frei, die an das „Dokumentationszentrum Regierungsbunker“ angrenzten. „Regierungsbunker“ hörte sich interessant an, doch diesmal ging es wieder den Berg hinunter, bis wir auf die rote Weinrebe stießen. Sie markierte den Rotweinwanderweg, der über insgesamt 35 Kilometer über Berge, Täler und insbesondere Weinberge an der Ahr führte. Davon wanderten wir das Teilstück von Ahrweiler nach Dernau.
Gemeinsam mit unseren Freunden J. und F. und ihren beiden Töchtern hatten wir uns zusammengefunden. Achja, ein Pudel wanderte auch mit und mischte unsere Gruppe fleißig auf, denn unsere Kleine war vernarrt in Haustiere. Im Zickzack umschwärmte sie den Pudel, kreiste um ihn herum, und schaffte es in der Gruppe sogar, sich kontinuierlich vorwärts zu bewegen.

So etwas hatte ich am Rotweinwanderweg noch nicht erlebt. Ende Oktober schien die Sonne ungehemmt vom Himmel, als ob noch Sommer wäre. Wir schwitzten mächtig an den Anstiegen, wenn die Sonne in unsere Gesichter schien. In Scharen hatte das goldene Oktoberwetter die Menschen nach draußen gelockt. Auf dem Höhenzug angekommen, schwärmten die Wanderer in Restaurants und Lokale aus, die sich mitten in die Weinberge platziert hatten. Verwundert schaute ich in den Innenhof des ersten Restaurants, denn dort waren an einem Einzeltisch sogar noch Plätze frei. In dem zweiten Restaurant herrschte regelrechte Volksfeststimmung, denn es hatte sich eine Menschenschlange gebildet, wo Federweißer und Federroter ausgeschenkt wurde. Menschen prosteten sich in langstieligen Gläsern zu. Auch hier, vor den beiden Restaurants, knubbelten sich die Autos auf den Parkplätzen. Die Autos störten mich, denn mitten durch das Gewimmel von Wanderern bahnten sie sich ihren Weg. Konnte man Teerweg weiter unten nicht absperren ? Wieso unterband man nicht die Faulheit des Autofahrens ? Ein Spaziergang war ohnehin viel anregender als eine Autofahrt.
Hinter den beiden Restaurants lichtete sich der Strom der Wanderer. Es wurde beschaulich, ja, sogar wunderschön. Jedes Viereck von Weinbergen hatte seine eigene herbstliche Färbung. Blaßgrün, rostrot, blutorange, kristallgelb schillerte jeder Weinberg in seiner eigenen Farbenpracht. Wege zerschnitten in der Waagerechten den Reigen von Farben. Felspartien türmten sich zu Aussichtspunkten auf. Dahinter schossen die Weinberge so steil den Berg hinunter, dass ich keine Erklärung fand, wie man diese noch bewirtschaften konnte.
Der Rotweinwanderweg neigte sich bequem den Berg hinunter. Bald scharten sich die Wanderer zusammen. Augenblicklich stoppte die Wanderung, denn hoch oben über dem Ahrtal lud ein Verkaufsstand zu einer Weinprobe ein.
„Einen Federroten oder Federweißen ?“ fragte J.
„Federroten trinke ich irre gerne“ fügte sie hinzu.
„Ich auch“ stimmte ich spontan zu – trotz Autofahren und weil der Alkoholgehalt eher klein war.
„Du auch ? … Du auch ?“ der Rest nickte zustimmend.
Doch daraus wurde nichts. Federweißer und Federroter war ausgetrunken. Also wanderten wir weiter, denn nach Rotwein oder Weißwein war uns nicht zumute.
Am Rotweinwanderweg unterschätzt man gerne die Seitentäler. Wie sich der Wanderweg in die Täler hinein windet, wie sehr er sich in die Länge dehnt, wie lange es dauert, bis das Tal durchschritten ist und sich der Hang des nächsten Berges zu neuen Anstrengungen einlädt. In Marienthal war dies soweit. Wieso die Klostermauern von Marienthal als Ruine dastehen, wurde ich gefragt. Ich konnte nur spekulieren: Kriege, Brand, Verfall, Reformation waren gängige Ursachen. Jedenfalls standen von Marienthal nur die Grundmauern, das angrenzende Gebäude mit Innenhof setzte dieselben Bruchsteinmauern fort. Auch dieser Innenhof war bevölkert von Wanderern, die es sich in dem Restaurant schmecken ließen.
Dernau nahte. Gerade sechs Kilometer hatten wir bis Dernau geschafft. Diesmal waren wir mit Kindern unterwegs, so dass wir sportliche Ambitionen beiseite schoben. Den Rotweinwanderweg hatten wir verlassen. Die Ruhe, die mit einem Mal in Dernau einkehrte, war merkwürdig. Kaffeehaus St. Quirinus: um die Hausecke herum stand die doppelflügelige Eingangstüre offen. Im Innenraum des Cafés waren noch Tische frei. Also hinein ! Auf der Getränkekarte lasen wir, dass das Haus mit den massiven Bruchsteinmauern aus dem 18. Jahrhundert stammte. Dass Quirinus kein Heiliger war, sondern ein römischer Feldherr, denn im Ahrtal hatten schließlich die Römer gesiedelt. Als wir später das Café verließen, konnten wir uns von Quirinus verabschieden, denn in einer Nische zeigte sich an der Vorderfront seine Figur. Mit Schild und Schwert in der Hand, hielt er den römischen Krieger bis in die Gegenwart lebendig.
Überall Winzerhöfe, Besenwirtschaften, Weinausschank, Federweißer und Federroter. Es war hier wie an der Mosel oder an der Deutschen Weinstraße, nur einige hundert Kilometer weiter nördlich in Rheinland-Pfalz.

Das größte Abenteuer stand uns noch bevor, denn wir wollten mit dem Zug zurück nach Ahrweiler, wo auf den Höhen der Ahrberge unsere Autos standen. Der einzige Fahrkartenautomat am Bahnhof war der entscheidende Engpass. Als wir uns einreihten, war die Warteschlange bestimmt vier oder fünf Meter lang. Zunächst verlief alles nach Plan. Die anderen Bahnkunden warteten, tippten an dem Automaten herum, bis dieser irgendwann eine Fahrkarte ausspuckte. So bewegte sich die Warteschlange stückweise vorwärts. Bis es zwei Bahnkunden vor uns nicht mehr weiter ging. Was dort wirklich passierte, bemerkten wir etwas weniger wie zehn Minuten später, als wir die genauen Eingaben an dem Automaten beobachteten. Ein Bahnkunde wollte eine Gruppenfahrkarte für fünf Personen lösen. Bei der Eingabe der Zahl „5“ erhielt er eine Fehlermeldung, weil man mindestens zehn Personen zusammenbekommen muss, um als Gruppe zu gelten. Diese Fehlermeldung ignorierte er Kunde, er tippte permanent auf den Button „Weiter“, der aber deaktiviert war. Dann brach er ab, startete die Fahrkartenauswahl über „Gruppenfahrkarte“, „Abfahrtsort“, „Zielort“ usw. ständig neu, bis er jedes Mal an der Zahl „5“ für eine Gruppenfahrkarte scheiterte. Als wir uns einschalteten, wählte er zunächst das richtige Menü für „Einzelfahrscheine“ aus. Wir brachten ihn sogar soweit, dass er einen Einzelfahrschein bezahlen konnte. Da zankte ihn der Fahrkartenautomat, denn er nahm keine Geldscheine, sondern nur noch Kleingeld. Immerhin hatte er seine EC-Karte dabei. Dabei vergaß er aber, die Zahlungsart der EC-Karte zu bestätigen. Er tippte zig-Mal seine PIN ein, daraufhin erhielt er eine Fehlermeldung, bis er auf „Abbruch“ drückte und den ganzen Fahrkartenkauf neu startete. In dieser ganzen Verwirrung bekamen wir ihm nicht gezeigt, dass er unter „weitere Fahrscheine“ fünf Mal denselben Fahrschein kaufen konnte und nur einmal bezahlen musste. Eine geschlagene Viertelstunde hatte dieser Bahnkunde gebraucht, um zwei Fahrkarten anstelle fünf Fahrkarten zu kaufen. Danach war die Warteschlangen aus den Fugen geraten. Tumulte in der Warteschlange waren während der Wartezeit glücklicherweise ausgeblieben. Ich bewunderte die Engelsgeduld dieser Bahnkunden.
Die Bahnfahrt und die Reststrecke zu unseren Autos klappten reibungslos. Als wir den Parkplatz erreichten, war dieser kaum wieder zu erkennen. Große Lücken klafften zwischen den Autos. Die Menschenströme hatten sich langsam verflüchtigt. Vom Rand des Parkplatzes warf ich einen letzten Blick auf das Kloster Kalvarienberg in Walporzheim. Der massive Gebäudekomplex stemmte sich quer in die Weinberge hinein. Wir verließen das Ahrtal und hatten viele unvergessliche Eindrücke zusammen gesammelt.